Hierzulande sind wir es gewohnt, den deutsch-sowjetischen Krieg von 1941 bis 1945 aus deutscher Sicht zu betrachten. Dabei sind in den letzten Jahren kaum vorstellbare Verbrechen der deutschen Wehrmacht und der SS-Einsatzgruppen ins öffentliche Bewusstsein gedrungen: Das - vornehmlich rassistisch motivierte - Verhungernlassen von dreieinhalb Millionen sowjetischer Kriegsgefangener, die Judenmorde, die Ermordung unzähliger russischer Zivilisten und die Zerstörung zigtausender russischer Dörfer und Städte. Vereinzelte Versuche deutscher Historiker, die russischen Verteidigungsanstrengungen als "Stalins Vernichtungskrieg" darzustellen, konnten der Versuchung zur Aufrechnung nicht widerstehen.
Der Londoner Historiker Richard Overy ist vollständig frei von Einseitigkeiten dieser Art. Er sieht seinen Gegenstand gleichsam "von außen" und beschreibt ihn objektiv und distanziert. Der Fachmann für Militärgeschichte sichtete die weitläufige englisch- und deutschsprachige Literatur sowie einschlägige Quelleneditionen über "Russlands Krieg" und fasste die verstreut publizierten Forschungsergebnisse zu einer eindrucksvollen und überdies gut lesbaren Gesamtdarstellung zusammen. Das ist bislang noch keinem westlichen Historiker in dieser Weise gelungen, im übrigen auch keinem russischen.
Sicherheitsneurose
Overy stellt den Krieg Russlands 1941 - 1945 in den größeren Kontext der Geschichte der Sowjetunion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er beschreibt die von Gewalt geprägte Gründungsphase der sowjetischen Staates, seine wirtschaftlichen Aufbauleistungen sowie sein permanentes Streben nach äußerer Sicherheit. Das Buch schließt ab mit einer Darstellung des Aufstiegs der durch den Krieg modernisierten Sowjetunion zu einer der beiden Weltmächte.
Im Zentrum des Werkes steht der Krieg selbst, beginnend mit dem deutschen Überfall im Juni 1941, den zögerlichen Reaktionen des völlig überraschten Stalin und den schweren Niederlagen der sowjetischen Truppen in der erste Phase des Krieges. Es folgen beeindruckende Schilderungen der Kämpfe zur Verteidigung von Moskau und von Leningrad ("Zwischen Leben und Tod") sowie der für die Rote Armee erfolgreichen Schlachten von Stalingrad und von Kursk. Dann wird das Vordringen der sowjetischen Truppen nach Westen dargestellt, welches mit dem triumphalen Sieg der Roten Armee in der Reichshauptstadt Berlin im Frühjahr 1945 seinen Abschluss fand.
Der Präventivkriegsthese erteilt der britische Historiker eine ebenso klare Absage wie der Behauptung, lediglich der "General Winter" habe Ende 1941 einen Sieg der deutschen Wehrmacht über die Rote Armee verhindert. Die russischen Kriegsanstrengungen - also die personelle Mobilmachung, die Verlagerung der Rüstungsindustrie hinter den Ural sowie die mit terroristischen Methoden durchgesetzte Beseitigung aller Widerstände im Innern - werden durchgängig als Reaktion des Sowjetstaates auf die deutsche Aggression begriffen. Kenntnisreich und ohne jede Beschönigung legt der englische Historiker dar, wie Stalins Herrschaftsapparat jede Zusammenarbeit mit dem Feind rücksichtslos bekämpfte. Dass auch die in deutsche Hand gefallenen russischen Kriegsgefangenen der Kollaboration bezichtigt und nach Kriegsende teilweise erneut zu Zwangsarbeit gezwungen wurden, gehört zu den grausamsten Erscheinungen dieses Systems.
Von der ersten bis zur letzten Seite lässt Richard Overy die für ihn zentrale Frage nicht aus den Augen, wie es der zunächst rückständigen Sowjetunion gelingen konnte, in einer jahrelangen, außergewöhnlichen Anstrengung einen militärischen Sieg über die deutsche Wehrmacht zu erringen, die damals als die stärkste Streitmacht der Welt galt. Das leidensfähige und patriotische russische Volk kommt dabei ebenso in den Blick wie die russischen Generäle und der Politiker Stalin, der sich als fähig erwies, das Ganze zusammenzuhalten.
Richard Overy
Russlands Krieg 1941 - 1945.
Aus dem Englischen von Hainer Kober.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2003; 555 S., 24,90 Euro