Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 03-04 / 19.01.2004
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Ernst-Otto Czempiel

Der ausgeprägte westliche Dominanzanspruch wird nicht zu mehr Gerechtigkeit in der Welt führen

In der Weltpolitik muss viel gründlicher als bisher nach den Ursachen von Gewalt und Aggression geforscht werden
Der Zustand der Weltpolitik hat sich in den vergangenen drei Jahren drastisch verschlechtert. Konnte er Ende 2000 noch als "prekäre Koexistenz von echtem Frieden und kleinen Kriegen" beschrieben werden, so sieht sich der Westen seit dem 11. September 2001 im Kampf gegen den Terrorismus, der seine politische Aufmerksamkeit wie seine politischen Kräfte absorbiert. Zwei Kriege hat er schon gegen diesen Terrorismus geführt, weitere sind im Visier.

Der Terrorangriff des 11. September 2001 ist aber nicht Ursache dieser Unordnung, sondern eines ihrer Signale. Zu Recht sieht sich der Westen bedroht. Aber er macht es sich zu einfach, wenn er die Attacke auf New York mit anderen Fällen unliebsamer gesellschaftlicher Gewaltanwendung in einen Topf wirft und ihn mit "Terrorismus" etikettiert. Das mag politisch bequem erscheinen, strategisch ist es wertlos.

Das größte Gewaltaufkommen verdankt unsere Welt nicht dem Terrorismus, sondern dem Widerstand gegen nicht akzeptierte Herrschaft oder Besatzung. 32 Bürgerkriege sind die Folgen dieser Ablehnung, eingeschlossen die Kämpfe in Palästina, Tschetschenien, dem Irak und Afghanistan.

Terrorismus, anonyme Gewaltanwendung auch gegen Unschuldige, trat bisher in zwei Formen auf: blind in Oklahoma und Tokio, mit politischem Hintergrund gegen politische Einrichtungen des jeweiligen Staates oder fremde Repräsentanzen. Am 11. September 2001 hat sich diese Form des politischen Terrorismus internationalisiert. Der Angriff auf New York kam aus der Anonymität, insofern war er terroristisch. Er interagierte aber nachweislich mit einem gesellschaftlichen Umfeld, dessen politische Zustimmung er zu erzeugen oder zu verstärken versuchte. Insofern muss der Massenmord zum politischen Terrorismus gezählt werden.

Die dunkle Seite der "Einen Welt"

Sollte der bisher einmalige Akt sich wiederholen, dann öffnet sich die dunkle Seite der gerade vom Westen gerühmten - und herbeigeführten - "Einen Welt". Kleine Gruppen der von der militärischen, wirtschaftlichen oder politischen Globalisierung negativ Betroffenen steigern ihren Widerstand dagegen zur Gewaltanwendung.

Kritik an den ordnungspolitischen Folgen der Globalisierung hatte es seit langem gegeben, aber in zivilen Formen. Dass sie jetzt zur internationalen Gewaltanwendung eskalierte - und durchaus nicht nur in der arabischen Welt auch beifällig aufgenommen wurde -, macht darauf aufmerksam, dass am 11. September 2001 mehr abgelaufen ist als ein Terrorangriff von 19 bis zur Besinnungslosigkeit hasserfüllten Männern. Erstmals haben gesellschaftliche Akteure für sich in Anspruch genommen, bestimmte Politikrichtungen des Westens mit Gewalt global zu bekämpfen.

Um diesem Phänomen analytisch gerecht zu werden, muss es als Teil jener sozioökonomischen Prozesse begriffen werden, die während des 20. Jahrhunderts die alte Staatenwelt in die moderne Gesellschaftswelt verändert haben. Die Interdependenz hat die Souveränität der Staaten beschnitten. Mit den Prozessen der Demokratisierung haben sich gesellschaftliche Akteure aus der Verhaltenskontrolle der Regierungen emanzipiert und im internationalen System als eigenständig Handelnde etabliert. Zunächst waren es nur die transnationalen Konzerne. Dann kamen die Nichtregierungsorganisationen hinzu. Am 11. September meldete sich der politische Terrorismus zur Stelle - als Produkt dieser neuen Gesellschaftswelt. Diesem Nachteil stehen viele Vorteile gegenüber. In der Gesellschaftswelt sind zwei große Kriegsursachen wenigstens abgemildert worden, die die Staatenwelt beherrscht hatten: Die Interdependenz hat die Isolierung der Staaten beendet und die Anarchie des internationalen Systems gemindert. Die Demokratisierung hat die autoritäre Herrschaft abgelöst, die der größte Urheber des Krieges ist.

Diese Strukturveränderung sollte die Politik aufnehmen und vorantreiben. Vorrangig ist die Demokratisierung, weil sie im Innern Freiheit und im internationalen System Frieden schafft. Ihre Prozesse müssen von den Betroffenen selbst in Gang gesetzt, sie können dabei von außen vielfach unterstützt werden. In Serbien 1996 hat sich der Westen richtig verhalten, gegenüber dem Irak eine Dekade lang grundfalsch. Seine Sanktionen und Bombardements haben die Bevölkerung und den Diktator zusammengebracht. Bei den "failing states" kann die Demokratisierung erst einsetzen, wenn eine gesellschaftlich-wirtschaftliche Stabilisierung erreicht ist. "Nation-building" ist vorläufig nur ein Begriff, dessen Operationalisierung über die Wissenschaft nicht hinausgediehen ist.

Staaten aufzubauen und zu demokratisieren ist Einmischung pur. In der Gesellschaftswelt müssen die Nachbarn intervenieren, weil sie involviert sind. Das Einmischungsverbot, ehernes Ordnungsprinzip der Staatenwelt, ist heute obsolet. Es muss durch eine Pflicht zur gewaltfreien Intervention ersetzt werden.

Das Aufkommen des politischen Terrorismus zeigt also nur die Schattenseiten der Gesellschaftswelt. Sie sind dennoch sehr gefährlich. Unautorisierte Akteure greifen zur Gewalt, um Verteilungsprozesse, die sie für ungerecht halten, zu bekämpfen. Sie stellen den Westen damit vor die Frage, ob er diese Kämpfer nur bekämpfen oder ob er auch die Verteilungsprozesse überdenken und neu ordnen soll.

Schließlich haben nicht erst die Terroristen darauf aufmerksam gemacht, dass es in unserer Welt sehr viele Ungerechtigkeiten gibt, die den Westen bevorteilen, die außerwestliche Welt benachteiligen. Diese Felder der Unordnung sind vielmehr seit langem bekannt und Gegenstand innerwestlicher Kritik. Deren Reform hat der 11. September 2001 nur noch dringlicher gemacht, auch den Sicherheitsaspekt benannt, der ihnen innewohnt.

Ganz oben auf der Liste der Unordnungen steht der seit 50 Jahren anhaltende Nahostkonflikt. Er leistet den aktuell größten Beitrag zur Unordnung der Region wie der Welt. Neben den USA ist Westeuropa für diese Unordnung mitverantwortlich. Es ist Koautor der "Straßenkarte (road map)" zur Lösung des Konflikts und sollte deswegen dafür sorgen, dass dieser Plan auf der weltpolitischen Agenda ganz oben bleibt und entlang den längst bekannten Mitchell- und Tenet-Plänen endlich verwirklicht wird.

Westeuropa partizipiert auch an der Kritik sämtlicher Entwicklungsländer an der westlichen Politik ihnen gegenüber. Da die EU wirtschaftlich genau so stark ist wie die USA, ist sie für die Hälfte der wirtschaftlichen Unordnung zuständig, unter der die Entwicklungsländer leiden. Die Demonstrationen gegen die westliche Position in der Doha-Runde zeigen, dass die so lange gewährte Toleranz der Betroffenen gegenüber der gewinnmaximierenden Politik des Westens zu Ende geht. Der Agrarprotektionismus der EU und die amerikanischen Exportsubventionen für Zucker und Baumwolle bewirken eine Verteilungsungerechtigkeit, die direkt mit der sich ausbreitenden Armut in der Welt korreliert, vor allem in Afrika. Darauf haben Wirtschaftswissenschaft und Politikwissenschaft immer wieder hingewiesen. Aber USA und EU haben im September 2003 auf der WTO-Konferenz in Cancún, Mexiko, demonstriert, dass sie diesen Beitrag zur Weltunordnung nicht korrigieren wollen.

Den gleichen Anspruch auf gewinnmaximierende Dominanz zeigt die westliche Weltpolitik vielfach. Die militärischen Interventionen auf dem Balkan und in Afghanistan mündeten in jahrelangen Besetzungen, der sattsam bekannten Schwachstelle der humanitären Intervention. Ähnliches ist dem Irak beschieden und, geht es nach den Neocons in Washington, dem gesamten Mittleren Osten. Den amerikanischen Dominanzanspruch kann man in der "National Security Strategy" vom September 2002 nachlesen, den der NATO im Prager Gipfeldokument vom Dezember. Dieser vielfach auf Gewalt gestützte Dominanzanspruch weist fatale Parallelen zur Innenpolitik autoritärer Herrschaftssysteme auf. Opposition dagegen kann daher nicht verwundern. Der politische Terrorismus darf nicht toleriert, muss bekämpft, wird aber wirksam nur dadurch besiegt werden, wenn die Felder der Unordnung erkennbar aufgearbeitet werden.

Eine funktionierende Weltordnung kann nicht auf den zerbröselnden Strukturen der vergehenden Staatenwelt errichtet werden Die interdependente und sich tendenziell demokratisierende Welt mit ihren um die Macht konkurrierenden gesellschaftlichen Akteursgruppen kann nicht mehr vom Nationalstaat, auch nicht von einem Superstaat und nicht einmal allein mit der zwischenstaatlichen Kooperation gesteuert werden.

Die Politikwissenschaft beschäftigt sich seit langem mit dem neuen "Weltregieren", mit "global governance". Die Stichworte sind Multilateralismus und institutionalisierte Kooperation verschiedenen Grades unter Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure. Noch ungelöst - darauf kann hier nur hingewiesen werden - ist die Legitimierung dieser Kooperation und ihrer Instanzen. Sie ist aber zentral. Denn in der Gesellschaftswelt ist ein Problem wieder aufgetaucht, das von der Staatenwelt eliminiert worden war: das der Gerechtigkeit. Ihr Subjekt ist die Gesellschaft und der Einzelne, ihre Messlatte deren Konsens. Zur Effizienz als dem Kriterium des Weltregierens tritt das der gesellschaftlichen Akzeptanz ihrer Leistung.

Rolle der Vereinten Nationen

Unentbehrliches Institut des Weltregierens ist die internationalen Organisation. Die UN haben es gerade wieder bewiesen. Die Regierung Bush hatte sie am 20. März 2003 umgangen, und musste doch zu ihr zurückkehren. Das in der UN-Charta niedergelegte Gewaltverbot und das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates haben sich in diesem Härtetest gut gehalten. Militärische Gewalt kann heute erfolgreich nur eingesetzt werden, wenn sie eine überzeugende Legitimation vorweisen kann. Zuständig dafür ist keine "Coalition of the Willing", auch nicht die NATO, sondern nur eine dazu verfasste internationale Organisation. Allerdings muss ihr, was die UN-Charta noch nicht vorgesehen hatte, eine Gesellschaftskammer beigeben werden, damit aus Botschafterkonferenzen Leitungsinstitute der Gesellschaftswelt werden können. Dann sind sie imstande, die Interdependenzräume zu ordnen, die den Nationalstaat übergreifenden oder unterlaufenden Interaktionen zu erfassen und kontrollierender Steuerung zuzuführen.

Diese Organisationen institutionalisieren den Multilateralismus, der die Beteiligung aller Betroffenen ermöglicht und damit ihren Konsens mobilisiert. Sie reflektieren den Zustand der Welt, die einerseits noch immer staatlich organisiert, andererseits durch viele Handlungszusammenhänge integriert worden ist. Sie vermögen das jeweils vorhandene Mischungsverhältnis von Souveränität und Interdependenz, staatlicher Herrschaft und gesellschaftlicher Macht abzubilden.

In der Wissenschaft herrscht weitgehend Konsens, dass im Vergleich zum Leistungsvermögen der institutionalisierten Kooperation der Unilateralismus auch einer Weltsupermacht bestenfalls nur annähernd optimale Ergebnisse erzielen kann. Der Multilateralismus erlaubt hingegen sehr wohl den Einsatz von Macht, schließt nur die eigenständige Anwendung von Gewalt aus. Das ist kein Schaden, denn solche Gewalt ist nicht nur regelwidrig, sie kann auch politisch nichts gestalten.

Das erfahren die USA erneut bei ihrem Versuch, den Verzicht auf Massenvernichtungswaffen nicht mehr kooperativ zu erzeugen, sondern mit der "counterproliferation" gewaltsam zu erzwingen. Die Rüstungskontrollforschung hat immer wieder auf die Vergeblichkeit dieses Strategiewandels aufmerksam gemacht - das Ausscheren nun auch Brasiliens aus dem Atomwaffenverzicht bescheinigt sie erneut. Die kooperative Kontrolle der Massenvernichtungswaffen zu aktivieren und dabei deren Verifikation zu verbessern, ist allein erfolgversprechend.

Rüstungskontrolle fiele leichter, gäbe es mehr regionale Organisationen. Das Sicherheitsdilemma und der daraus folgende Rüstungswettlauf sind primär regionale Phänomene, könnten in der Vertrauensbildung regionaler Organisationen besser beherrscht werden. Geradezu schmerzlich fehlt eine solche Organisation im Nahen und Mittleren Osten. Während die Interdependenz in der Wirtschaft weltweit 16 regionale Organisationen hervorgerufen hat, sind im Sachbereich der Sicherheit erst wenige entstanden. Die größte und erfolgreichste, die OSZE in Wien, hat nach großem Auftakt viel von ihrer Bedeutung verloren; das Asian Regional Forum im Pazifik stellt erst einen Anfang dar.

Einen bedeutenden Schritt nach vorn tat Westeuropa, indem es aus der sich vertiefenden Interdependenz die richtige Konsequenz gezogen und mit der Europäischen Union den Regionalstaat aus der Taufe gehoben hat. Er rangiert zwischen Nationalstaat und Weltstaat und gibt das Vorbild des steuerungspolitischen Fortschritts für viele Regionen ab. Denn die Interdependenz ist vor allem regional verdichtet, nicht global. Die EU entstand bisher im Wesentlichen aus der Praxis. Das Konzept des multinationalen, multiethnischen, föderal-dezentral strukturierten Regionalstaats muss erst noch entwickelt werden.

Auch fehlt es an Plänen für die Gestaltung von Beziehungen, die interdependent sind, aber wegen unterschiedlicher Teilnehmergrößen keine Integration erlauben. Das Paradebeispiel bietet die Atlantische Gemeinschaft. Ihre aktuellen Kohäsionsprobleme verdanken sich dem Widerspruch, dass der hochgradigen, bis zur Teilintegration der Märkte reichenden Interdependenz nur eine Verteidigungsallianz als Steuerungsinstrument zur Verfügung steht. Hier hätte sich längst die Errichtung einer Regionalen Organisation nach Kapitel VIII UN-Charta angeboten, in der die interdependenten Segmente der Sachbereiche Wirtschaft und Sicherheit reguliert werden könnten.

In abgeschwächter Form könnte eine regionale Organisation auch die EU mit Russland und der GUS verbinden. Ihre Beziehungen werden durch die Osterweiterung der EU (1. Mai 2004) und der NATO (Istanbul, im Juni 2004) real gefährdet. Die Ausgrenzung in Moskau muss notwendig eine Entfremdung hervorrufen. Der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat ist nur ein Notbehelf. Erforscht werden müsste, wie sich EU und GUS so miteinander verbinden ließen, dass ihre Eigenständigkeit gewahrt, gleichzeitig aber garantiert wird, dass sich in der Distanz nicht wieder das aus der Systemanarchie resultierende Misstrauen einnistet. Von der erfolgreichen Lösung dieses Problems hängt nichts Geringeres ab als der Friede in Europa.

Die größte Herausforderung der Zukunft liegt darin, diese innovativen Strategien der Politiksteuerung in die Praxis der Politik zu übernehmen. Die Gipfelkonferenz des UN-Sicherheistrates hatte 1992 die Parole der Vorbeugung ausgegeben, also frühzeitig gewaltfrei zu intervenieren, bevor Diktaturen sich entwickeln oder Staaten zusammenbrechen. Passiert ist wenig. Im Irak sind zehn kostbare Jahre mit absehbar erfolglosen Sanktionen verschwendet worden. In Afghanistan hätte die Politik des "nation-building" schon Mitte der 80er-Jahre einsetzen müssen. In Zentralafrika hat die EU die Initiative der Privatwirtschaft, auf dem Balkan dem Militär überlassen. Dabei hat sich die Politikwissenschaft seit langem mit den Strategien der Prävention beschäftigt. Weil sie langfristig angelegt sind, lassen sie sich nicht leicht in die notwendig kurzfristigen Orientierungen der Tagespolitik einbringen. Hier liegt ein Strukturproblem gerade der parlamentarischen Demokratisierung, das dringend der Lösung bedarf.

Viele moderne Formen ziviler Konfliktbearbeitung sind in die von Javier Solana entworfenen, in Brüssel im Dezember 2003 verabschiedete "Europäische Sicherheitsstrategie" eingegangen. Sie behält die militärische Sanktion bei, aber nur als letzten Ausweg, und beschäftigt sich ausführlich mit den vorgelagerten Einwirkungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft. Das moderne Paradigma einer auf rechtzeitige und gewaltfreie Intervention setzenden Präventionspolitik ist deutlich erkennbar. Ob es angewendet werden kann, ohne dass zuvor der immer noch an den Traditionen der Staatenwelt orientierte Aufbau der außen- und sicherheitspolitischen Strukturen verändert sein wird, ist die große Frage.

Professor Ernst-Ottzo Czempiel lehrte bis zu seiner Emeritierung Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main. Die Arbeit der ebenfalls in Frankfurt ansässigen Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) ist über viele Jahr hinweg von ihm entscheidend geprägt worden.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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