Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 20 / 10.05.2004
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Lutz Herden

Der "machtlüsterne Wüstling" Lenin

Abrechnung mit der Sowjetgesellschaft
Geschichte, dieser nie zu bändigende Stoff der Überlieferung und Erinnerung, aber auch des Verdrängens und Täuschens, ist mit der Erfahrung verbunden, dass Menschen aus ihr nichts lernen oder nur das lernen wollen, was sie brauchen, um sich ihrer Gegenwart zu versichern. Man mag dem ehemaligen sowjetischen Spitzenpolitiker Alexander Jakowlew (Jahrgang 1923) wünschen, dass mit seiner Autobiographie nicht so verfahren wird. Dieses Werk empfiehlt sich als phänomenaler historischer Abriss der sowjetischen Epoche russischer Geschichte und besticht durch seinen wahrlich enzyklopädischen Charakter.

Das Buch ist eine wahre Fundgrube für den aufgeschlossenen Zeitgenossen, besonders die politischen Eliten Russlands und Deutschlands, die über strategische Partnerschaften nachdenken. Jakowlew konfrontiert den Leser mit einer Lebens- und Epochenbilanz, deren immenser Faktenreichtum nicht zuletzt dem (für das vorliegende Buch) "glücklichen" Umstand zu verdanken ist, dass er jahrzehntelang im Führungs- und Nervenzentrum der Sowjetgesellschaft gearbeitet hat - im Apparat und in den höchsten Gremien der Kommunistischen Partei.

Dabei gerät die Exkursion durch Kraterlandschaften des verflossenen Jahrhunderts über weite Strecken zur resoluten Abrechnung mit dem Sowjetsystem. Jakowlew fällt mit seinen Analysen historische Urteile, die vernichtenden Schuldsprüchen gleichkommen. "Durch Russland galoppierte die Barbarei", schreibt er über die Jahrzehnte nach 1917 und deren zivilisatorische Entartungen.

Allerdings, so unerbittlich die Systemerkenntnis, so konziliant die Selbsterkenntnis. Jakowlew gibt sich wohl als schonungsloser Chronist der Epoche von Stalin bis Gorbatschow zu erkennen, weniger indes als selbstkritischer Prokurator in eigener Sache. Jahrzehntelang stand er selbst mit anderen Parteigrößen am 1. Mai auf der Kremlmauer, um den vorbei ziehenden Moskauern zuzuwinken: "Ich habe mehrfach versucht, meine Tribünengefühle auszudrücken, es ist nicht Gescheites dabei herausgekommen", merkt er an.

Den einen oder andern mag es stören, Jakowlews beinharte Analyse von einer gehörigen Portion persönlicher Amnesie flankiert zu sehen, den geschichtlichen Wert des vorliegenden Buches schmälert der gnädige Umgang mit eigener Vita und Verstrickung kaum.

"Revolution ist Hysterie und Ohnmacht vor dem erdrückenden Gang der Ereignisse. Ein Akt der Verzweiflung, der sinnlose Versuch aus dem Stand und in vollem Lauf all das zu überwinden, was Jahrzehnte angespannter Mühen der ganzen Gesellschaft erfordert", diagnostiziert Jakowlew mit Blick auf den Sturz der Regierung Kerenski durch die Bolschewiki im November 1917 und die folgende Periode des "revolutionären Terrors".

Höchst aufschlussreich, geradezu spektakulär ist in diesem Kontext sein Verweis auf die finanziellen Transaktionen, mit denen das kaiserliche Deutschland Lenin und dem geplanten Umsturz seit 1915 zur Seite stand und Sorge trug, dem zaristischen Feind auf dem östlichen Kriegsschauplatz kräftig zu schaden. Gewährsmann Alexander Helphand - genannt "Parvus" - ließ die Gelder direkt aus dem deutschen Generalstab in die Kriegskasse Lenins fließen: Von 60 Millionen Goldmark ist die Rede, wo bisher nur von einem plombierten Zug gesprochen wurde, der Lenin Anfang 1917 unbehelligt durch Deutschland schleuste. Der Geldstrom sollte auch, wie Jakowlew ergänzt, im ersten Jahr der Revolution bis hin zu den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk (1918) nicht versiegen.

Lenin-Uljanow selbst geißelt der Verfasser als "machtlüsternen Wüstling" und "schwadronierenden Halbgebildeten". Wer das theoretische Werk des russischen Revolutionsführers einigermaßen kennt, etwa seine "Philosophischen Hefte" (1914/16) oder die auf akribischer Faktenanalyse fußende Anatomie des "Imperialismus als höchstes und letztes Stadium Kapitalismus" (1916), die bis heute aktuell ist, wird diese Geringschätzung nicht nachvollziehen können.

Es überrascht ohnehin, dass Jakowlew Lenin einerseits als prinzipienlose Kreatur abkanzelt und andererseits doch Jahrzehnte lang einer sich auf Lenin wie keinen anderen berufenden Ordnung gedient hat. Er tat dies bekanntlich nicht als Funktionärswinzling in irgendeinem Provinzsowjet, sondern mitten im Apparat, als geschätzte Zunge und dienstbares Hirn der Nomenklatura - als Redenschreiber mehrerer Generalsekretäre der KPdSU.

Dieses Geschäft ließ ihn eine Ära nach der anderen überstehen, den "Träumer" und unberechenbaren Experimentator Chrustschow, den in die Stagnation führenden Breschnew, den verkappten Reformer Andropow, den siechen und einem Politbüro-Kompromiss geschuldeten Tschernenko.

Unter Michail Gorbatschow schafft es Jakowlew als Protagonist der Perestroika kurz vor ultimo sogar noch ins Politbüro. Eine solche Karriere der vermiedenen Brüche und des Großen Sprungs zum Schluss erfährt auf ihrem Höhepunkt die "Waschung durch Freiheit", wie der Autor die 1985 begonnene "Reform des Sozialismus" nennt. Das grandiose Scheitern dieses Versuchs - vor allem Gorbatschows persönlich - bis hin zur Selbstauflösung der UdSSR Ende 1991 ist selten so fesselnd beschrieben worden wie in diesem Buch.

Alexander Jakowlew

Die Abgründe meines Jahrhunderts.

Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer.

Faber & Faber. Leipzig 2003; 911 S., 29,90 Euro


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