Parlamentsbibliotheken gibt es heute in allen europäischen Staaten. In einigen größeren sind sie bereits im 19. Jahrhundert eingerichtet worden. Zu ihnen gehörte die Bibliothek des Deutschen Reichstags, für die schon im ersten Jahr nach der Gründung des Reiches im Jahr 1871 im Rahmen des Haushalts für 1872 die finanziellen Voraussetzungen geschaffen worden sind. Gleichzeitig wurde die Einstellung eines Bibliothekars beschlossen, der ein jährliches Honorar von 600 Talern erhalten sollte. Als Gründungsdatum der Bibliothek gilt der 1. Januar 1872, der Beginn des Haushaltsjahres.
Die seit 1872 bestehende und im Laufe der Jahre personell und sachlich immer weiter ausgebaute Reichstagsbibliothek hat einen tiefen Einschnitt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erfahren, ist aber in der Zeit der Weimarer Republik wieder stabilisiert worden. Sie hat auch unter der nationalsozialistischen Herrschaft fortbestanden, und zwar als Organisationseinheit der Reichstagsverwaltung und gehörte damit zum Kompetenzbereich des Reichstagspräsidenten Hermann Göring. Ihr förmliches Ende erlebte sie erst am 28. Februar 1946.
Die Bibliothek war allerdings schon am 2. und 3. Mai 1945 im Zuge der letzten Kämpfe um das Reichstagsgebäude in Berlin fast völlig verbrannt. Dank der glücklichen Fügung, dass ihr Direktor, Dr. Eugen Fischer (Direktor seit 1928, Fischer-Baling seit 1945, offiziell 1951), überlebte und als "Chef der Restverwaltung des Reichstags" - seit 18. Juni 1945 im Auftrag des neugebildeten Berliner Magistrats tätig - sich um die Sicherstellung der Überbleibsel der Bibliothek kümmerte, konnte dieser Rest als Grundstock einer neugeschaffenen "Dokumentationszentrale für Neueste Deutsche Geschichte" zunächst überleben. Doch bereits am 1. März 1946 wurde sie in "Zentralstelle für Zeitgeschichte" umbenannt und als städtisches Institut mit marxistischer Ausrichtung weitergeführt. Es existierten noch 8.000 Bände aus der Reichstagsbibliothek.
Fischer-Baling war aus den Diensten der ehemaligen Reichstagsbibliothek entlassen worden. Er hatte in der Weimarer Zeit begonnen und die NS-Zeit überstanden, ohne Parteigenosse gewesen zu sein. Ab 1. März 1946 wurde er als Honorarprofessor an die Bergakademie in Freiberg/Sachsen berufen und beendete sein öffentliches Wirken als erster "Ordinarius für die Wissenschaft von der Politik" an der Freien Universität Berlin (1953 bis zu seinem Tod mit 83 Jahren 1964).
Aus kleinsten Anfängen
Seit 1948 war er mit dieser Universität duch das Otto-Suhr-Institut verbunden und gelangte in diesen Jahren auch in den Kreis der Gründer der "Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der Politischen Parteien" in Bonn. Als Hochschullehrer ist er besonders bekannt geworden durch seine Erfindung des Wortes "Politologe", wofür sich 1956 sämtliche Professoren der "Deutschen Hochschule für Politik" in Berlin mit ihrer Unterschrift bedankten.
Die Bibliothek des Deutschen Bundestages in Bonn entwickelte sich zunächst ohne förmlichen Gründungsakt im Anschluss an die geringen Hilfsmittel, die dem Parlamentarischen Rat 1948/49 zur Verfügung gestanden hatten (ungefähr 1.334 Titel). Sie wuchs aber bis zum Wechsel nach Berlin zu einer der am besten ausgestatteten deutschen Behördenbibliotheken mit über einer Million Bänden. Die Bundestagsbibliothek wurde damit zu einer politikwissenschaftlichen Spezialbibliothek, die auf den Säulen Politik, Recht und Wirtschaft ruhte, mit Abrundung zu Randgebieten hin.
Die Leitung hatten bis 1970 der Direktor beim Bundestag und der Leiter der Wissenschaftlichen Abteilung des Bundestages, beide als Abteilungsleiter dem Präsidenten des Bundestages untergeordnet. Diese hierarchische Ordnung wurde 1970 und 1989 geringfügig geändert, was aber den sachlichen Ausbau und das Funktionieren der Bibliothek nicht berührt hat. Entscheidend war hierfür vielmehr von Anfang an die Auswahl des Personals. Das galt zumal für die Zeit des Beginns, als sich manche Bedienstete der ehemaligen Reichstagsverwaltung, auch Nationalsozialisten, um einen Dienst in der Bundestagsbibliothek bemühten.
Mit der "vorläufigen Leitung" wurde am 1. September 1950 die seit dem Ersten Weltkrieg in der Reichstagsbibliothek tätig gewesene, 1943 vom Volksgerichtshof zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilte Bibliotheksinspektorin Hildegard Neumann betraut; sie war von Fischer-Baling empfohlen worden. Ihr folgten als "Leiter" für ein Jahr der SPD-Bundestagsabgeordnete Professor Gülich und als zunächst "kommissarischer Leiter" Kurt Georg Wernicke, der im Juli 1953 Leiter der Wissenschaftlichen Abteilung der Bundestagsverwaltung und zugleich Direktor der Bibliothek wurde. Erst mit seinem Nachfolger Dr. Zwoch erhielt die Bibliothek 1964 zum ersten Mal einen ausschließlich für sie zuständigen Chef.
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Der Beitrag von Raimund Kortje geht zurück auf die verdienstvolle Arbeit von Gerhard Hahn, viele Jahre stellvertretender Leiter der Bundestagsbibliothek. Die 1997 von der "Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der Politischen Parteien" herausgegebene Studie (759 Seiten, 198,- Euro) ist eine Pionierarbeit, die historisch weit ausgreift, nämlich bis auf die Bibliothek der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 zurückgeht, die damals nicht von den Abgeordneten selbst, sondern von mehreren Buchhändlern zusammengestellt worden war.
Das Buch enthält auch einen kurzen Abschnitt über die "Volkskammerbibliothek" der DDR von 1949 bis 1990 sowie einen Anhang über die Parlamentsbibliotheken Österreichs und der Staaten, die von 1938 bis 1945 von Deutschland besetzt waren. Hahns Bibliotheksgeschichte ist eingebettet in die politische Geschichte und in die Geschichte der Bauten, der Verwaltung und Finanzen, letztlich auch mit einem Blick auf die Besucher. Sie erscheint in der Tat wie ein Spiegel der deutschen Geschichte von 1848 bis zum Abschluss des Werks 1997.