Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 21-22 / 17.05.2004
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Gerd Werle

Für die Sicherheit sind die Amerikaner wichtiger als Europa

NATO und EU aus lettischer Sicht

Eine "gebürtige" Lettin ist sie zwar nicht, die 1957 in Bonn als Kind lettischer Emigranten zur Welt gekommene Abgeordnete Liene Liepina. Die Dolmetscherin heiratete in Schweden einen lettischen Landsmann und verbrachte 14 Jahre in dem skandinavischen Land. 1992 zog es sie nach Riga, wo sie der Partei "Neue Zeit" beitrat. Rund zwölf Monate gehörte sie als Beobachterin dem Europäischen Parlament an, war Mitglied im EU-Verfassungskonvent und ist seit Mai eine der 126 neuen Abgeordneten in Straßburg. Um ihre Wiederwahl im Juni braucht sie nicht zu fürchten, denn auf der Kandidatenliste ihrer Partei rangiert sie auf Rang 2.

Kontakte zum Mutterland

Die Kontakte der Emigrantenfamilie zu ihrem Mutterland begannen nicht erst mit der Auflösung der Sowjetunion. Bereits 1969 hatte der Vater Kontakte geknüpft, vor allem zu Kirchenkreisen. Als Jugendliche erhielt die heutige Abgeordnete Gelegenheit, nach Lettland zu reisen. Dort sprach sie zum ersten Mal Lettisch auch mit Menschen, die nicht wie in Deutschland zu ihrem engeren Bekanntenkreis gehörten. Allerdings durfte man nicht zu laut kommunizieren, denn in den Straßen der alten Hansestadt Riga dominierte Russisch. Beim Einkauf war Lettisch sogar verboten - ein besonders negativer Auswuchs der damaligen Russifizierungspolitik. Liene selbst hatte an ihrem Gymnasium in Münster (Westfalen) kein Russisch gelernt, obwohl ihr Großvater ihr dazu geraten hatte, die Sprache Tolstois und Dostojewskis zu erlernen.

In die Politik zog es sie nicht gleich, als sie 1992 in Lettland ankam. Ihr Vater gründete zwar eine inzwischen aufgelöste christdemokatische Partei, in der sie sich jedoch nicht engagierte. Sie arbeitete als Dometscherin und Übersetzerin und lernte auf diese Weise erst einmal ihr Land kennen. Mittlerweile gehört sie der Partei "Neue Zeit" an, die den vorherigen Ministerpräsidenten stellte. Eine Partei, die "zuerst an den Staat dachte, und dann erst an die eigene Tasche". Aus diesem Grund sei man heute auch nicht mehr an der Regierung, meinte Liepina mit bitterer Miene.

Wie ordnet sich Liene Lipiena politisch ein? Etwas rechts von der Mitte, aber nicht zu weit rechts, lautet ihre Antwort. Die lettische Parteienlandschaft sei nicht so deutlich nach dem Links-Rechts-Schema einzuordnen. So richtig linke Parteien gebe es nach dem Niedergang des Kommunismus überhaupt nicht mehr. Was die Rolle des Staates angeht, sei ihre Partei eindeutig rechts. Der Staat müsse nicht Eigentümer von Unternehmen sein. Er sollte lediglich das Umfeld für die Betriebe so gestalten, dass die Menschen mit ihrer Eigeninitiative zum Zuge kommen. Also eher eine liberale Auffassung. Denkt man aber an das soziale System, dann sei ihre Partei eher sozialdemokratisch, denn um Gruppen wie Rentner oder Kinder müsse sich einfach der Staat kümmern. Es sei denn, man werde das jetzige Rentensystem ganz abschaffen, was ihrer Meinung nach so schlecht nicht wäre.

Am 3. Mai traf Liene Liepina als Abgeordnete in Straßburg an. Nein, einen Kulturschock habe sie in der elsässischen Metropole nicht gerade erlitten, allein schon deshalb nicht, weil sie ein Jahr lang Beobachterstatus im Europäischen Parlament hatte. Einen Vorteil habe sie durch ihre Sprachkenntnisse und durch das Wissen über die Denkweisen in Straßburg und in Brüssel. Bereits als Dolmetscherin habe sie es als ihre Aufgabe verstanden, nicht nur zu übersetzen, sondern die Leute im Gespräch zusammen zu bringen.

Ob die neuen Abgeordneten so richtig ernst genommen werden, wollen wir etwas despektierlich wissen. Sie habe oft den Eindruck, die Westler glaubten, alles besser zu wissen, sie hörten nicht immer richtig zu. Bei Diskussionen höre man oft das Argument, diese Fragen haben wir hier schon vor 50 Jahren diskutiert, und die Leute aus dem Osten seien wohl etwas zurückgeblieben. Gleichzeitig verspüre sie jedoch bei vielen echte Freude darüber, dass die Osteuropäer endlich angekommen sind.

Was können die Menschen aus den alten Mitgliedstaaten von den Balten lernen? Liepina nimmt die Abstimmung über die Übermittlung von Fluggastdaten an die USA zum Anlass, Kritik zu üben. Die Parlamentsmehrheit hatte aus Gründen des Datenschutzes seine Stellungnahme zu dem Vertrag verweigert und will das Urteil des Europäischen Gerichtshofs abwarten. Liepina warf der Parlamentslinken eine blauäugige Sichtweise vor. Man sehe in diesem Fall seine Freiheiten zwar bedroht, aber andererseits nicht die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, wenn man auf einen Datenaustausch verzichtet.

Sind die Osteuropäer anti-europäisch und pro-amerikanisch, man denke an die US-freundliche Erklärung von zehn Staaten in Vilnius vor dem Irak-Krieg? In der Tat habe man nicht das Gefühl, sich auf Europa in punkto Sicherheit verlassen zu können. Europa habe die Balten schon früher für den Frieden geopfert, was historisch so allerdings nicht richtig ist. Wenn man das Handeln der Amerikaner in den vergangenen 50 Jahren in Betracht ziehe, sei klar, dass sie nicht so sehr darauf achteten, was in den Gesetzen geschrieben steht. "Sie gehen einfach hin" (wie in den Irak). Im Kampf gegen die Sowjetunion seien sie verlässliche Verbündete gewesen, insbesondere in den 70er- und 80er-Jahren. Damals habe Deutschland auf die Entspannungspolitik gesetzt, die Amerikaner jedoch hätten mehr gewagt. Bei ihren Landsleuten besteht offenbar der Eindruck, dass man sich auf Europa nicht verlassen kann.

Würde man die Letten fragen, was für sie wichtiger ist, die NATO oder die EU, dann würden die meisten den Nordatlantikpakt nennen. Allerdings sei diese Frage rein hypothetisch, gibt die Abgeordnete zu. Die Balten seien in dieser Frage vielleicht empfindlicher als die Mitteleuropäer, weil sie direkter Bestandteil der Sowjetunion waren.

Was bedeutet die EU überhaupt für die Menschen in Lettland? Das Votum für die Europäische Union sei keine politische Entscheidung gewesen. Die Menschen hätten einfach gewollt, dass ihre Kinder einmal besser leben als sie selbst. Während in den alten Ländern Ängste kursieren, dass immer mehr Unternehmen nach Osteuropa ziehen, herrscht bei den Balten offenbar die Besorgnis, dass der Westen mit seinen großen Unternehmen in das Baltikum kommt und die kleinen Betriebe dort vom Markt verschwinden müssen. Es gebe viele Leute, die der Meinung sind, dass der Westen nur Handelsinteressen am Baltikum habe.

Korruption ist ernsthafte Bedrohung

Was die Außenpolitik angeht, sind die Amerikaner nicht nur für Liene Liepana interessanter. Im Kampf gegen die organisierte Kriminalität, den Terrorismus und die Korruption benötige man zwar die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in der EU. Die Korruption stelle eine ernsthaftere Bedrohung der Demokratie dar als der Terrorismus. Fühlen sich die Letten überhaupt dem Westen zugehörig? Die Antwort ist ein klares Ja. Man fühle sich von den europäischen, vor allem von den christlichen Werten beeinflusst. Und den Deutschen sei es zu verdanken, dass die Letten das lateinische Alphabet lernten und nicht das kyrillische.

Wie steht die neue EU-Bürgerin zu künftigen Erweiterungen? Was die Balkan-Länder betrifft, sei es ganz natürlich, dass sie in die EU aufgenommen werden müssten. Und die großen Länder wie die Ukraine? Diese müssten sich noch in eine andere Richtung entwickeln. Dort fehle der Wille, überhaupt Veränderungen herbeizuführen. Zuerst aber müsse die EU ihre zehn neuen Länder verkraften.

Dr. Gerd Werle ist Redakteur beim "Luxemburger Wort".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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