Die Regierungsfraktionen weisen darauf hin, dass der Verhandlungsbeginn nicht automatisch den Beitritt bedeute. Bis zu einer möglichen Aufnahme in die EU in zehn bis 15 Jahren werde sich die Türkei auf der Basis des Transformations- und Reformprozesses stark gewandelt haben. Auch die EU werde sich auf der Grundlage ihrer Verfassung weiterentwickeln. Die Kommission schlage für den weiteren Umgang mit der Türkei einen erheblich verstärkten politischen und kulturellen Dialog zwischen den Bürgern der EU und der Türkei vor. Die Koalition erklärt, sie begrüße diesen Vorschlag ausdrücklich.
SPD und B90/Grüne machen ferner deutlich, in vielen Ländern der EU lebten Bürger türkischer Abstammung, allein in Deutschland mehr als zwei Millionen. Viele der in europäischen Ländern lebenden Türken hätten sich bereits in die europäische Kultur integriert und seien heute anerkannte Bürger Europas. Wo Türken heute in der EU lebten, hätten sich zum Teil auch Parallelgesellschaften gebildet. Das Ziel sei es, im Zuge der Beitrittsverhandlungen die Integrationsprozesse zu beschleunigen und zu vertiefen.
Die Türkei sei als Wirtschaftspartner und Absatzmarkt für die EU von hohem Interesse. Daneben sei das NATO-Mitglied Türkei seit der Zeit des Ost-West-Konflikts ein verlässlicher Partner des Westens, so die Koalition.
Für die EU wachse die Bedeutung der Türkei als stabiles, europaorientiertes Land in der unruhigen Großregion Naher und Mittlerer Osten. In dieser Krisenzone mit den blutigen Konflikten im Irak und im Nahen Osten zwischen Israel und den Palästinensern, mit den Herausforderungen durch die Atompolitik im Iran und den regionalen Aktivitäten Syriens gelte die Türkei als "Stabilitätsanker", so die Koalition. Dies betreffe auch die großen Einflusschancen Ankaras auf die türkischsprachigen Länder Zentralasiens.
In dem globalen Kampf gegen den Terrorismus spiele die Türkei eine "Schlüsselrolle": Die Entscheidung einer so großen und bedeutenden islamischen Gesellschaft, den europäischen Weg zu gehen, und ihre Einbindung in die demokratische Gemeinschaft der EU zeigten die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam. Sie widerlegten die These vom "Kampf der Kulturen" und ermutigten die Hoffnungen auf einen friedlichen Dialog.
Die CDU/CSU stellt demgegenüber in ihrem Antrag (15/3949) fest, das Parlament sollte bekräftigen, dass Beitrittsverhandlungen mit dem üblichen Automatismus, wonach die Aufnahme von Verhandlungen de facto einem Beitrittsversprechen gleichkäme, im Falle der Türkei nicht aufrecht erhalten werden könnten. Die politischen Erwägungen, nicht zuletzt die "bemerkenswerten Zweifel" der EU-Kommission in ihrem Bericht an den Rat, sprächen dafür, dass im beiderseitigen Interesse eine besondere, "privilegierte Partnerschaft" die geeignetste Form für die zukünftigen Beziehungen zwischen der Türkei und der EU sei.
Die Bundesregierung solle deshalb darauf hinwirken, dass beim im Dezember anstehenden EU-Gipfel das Thema der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht isoliert, sondern im Lichte der Entwicklung der EU hin zu einer Politischen Union und im Zusammenhang mit einer plausiblen Finanzarchitektur für eine um die Türkei erweiterte EU behandelt wird.
Nicht zuletzt seien auch die Fragen der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben in der erweiterten Union ab 2007 bislang nicht gelöst. Es bestehe jetzt schon die Gefahr, die EU zu überdehnen und Integrationsfähigkeit zu verlieren.
Für den Fall, dass der Rat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen dennoch beschließen sollte, müsse sich die Bundesregierung bei den EU-Partnern dafür einsetzen, dass diese Verhandlungen "ausdrücklich" ergebnisoffen geführt werden. Dafür hätte auch die EU-Kommission votiert. Als deutsches Verhandlungsziel sollte auch die Alternative einer besonderen, privilegierten Partnerschaft mit der EU enthalten sein, so die Union.
"Keine Entscheidung über Beitritt"
Das Parlament soll die Bundesregierung auffordern, die EU-Kommission beim Wort zu nehmen und dafür zu sorgen, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei "ergebnisoffen" geführt werden. Die FDP hat dazu ebenfalls einen Antrag (15/4064) vorgelegt.
Es gehe gegenwärtig um eine Entscheidung über Beitrittsverhandlung, nicht um einen Beitritt selbst. Erst am Schluss von Verhandlungen könne die Entscheidung über die Aufnahme, die Ablehnung oder auch eine differenzierte Position stehen. Die EU wäre in ihrer gegenwärtigen Verfassung - nach dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten - nicht in der Lage, die Türkei aufzunehmen, und umgekehrt wäre die Türkei in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht beitrittsfähig. Alle drei Anträge wurden am 28. Oktober zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen. bob