Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 46 / 08.11.2004
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Stephan Höyng

Hilfestellung im Lebensdschungel

Ja, wie denn nun? Die Verunsicherung der Jungen
Seit ihren ersten zaghaften Versuchen Anfang der 1980er-Jahre in der außerschulischen Bildungsarbeit hat sich die Arbeit mit Jungen in vielen Feldern der Kinder- und Jugendarbeit ausdifferenziert zu einer relativ bekannten Arbeitsform entwickelt. Sie lässt sich ableiten aus der Querschnittsaufgabe der "Berücksichtigung der spezifischen Lebenslagen von Jungen und Mädchen", die durch Paragraf 9 BSHG VIII allen Arbeitsbereichen der Jugendarbeit vorgeschrieben ist. Sie bewegt sich heute in mehreren Spannungsfeldern, in denen Jungenarbeiter ihre Haltung finden müssen.

Viele Jungen fühlen sich heute durch den Widerspruch zwischen zahlreichen möglichen Lebensentwürfen einerseits und ihren zum Teil schlechten Chancen am gegenwärtigen Arbeitsmarkt andererseits verunsichert, viele Orientierungen werden beliebig. In diesen rasanten Veränderungen werden manche Aspekte traditioneller Männlichkeit auch für den einzelnen Jungen zu einem belastenden Faktor. Hier muss Jungenarbeit ansetzen. In der Praxis orientieren sich Jungenarbeiter leider meist an einer einheitlichen Beschreibung "des Mannes" und setzen sich von traditioneller, vorherrschender Männlichkeit mit dem Leitbild einer "neuen" Männlichkeit ab. Doch Jungenarbeit soll zeigen, welche Verhaltensweisen oder Lebensstile heute möglich und angemessen sind, ohne neue Normen zu schaffen. Da eine Stabilisierung der Identität nicht ohne Selbststilisierung auskommt, bietet auch die des "neuen Mannes" nur eine trügerische Sicherheit. Stattdessen sollten Jugendliche von diesem Zwang zur Männlichkeitsinszenierung entlastet werden, indem auf "eine aus diesen Widersprüchen entstammende Instabilität männlicher Identität" (Krabel/Schädler) hingewiesen wird. So kann auch die eigene Geschichte als veränderbar verstanden werden. Ziel ist ja gerade nicht die Herausbildung einer Perspektive, in der die Selbstvergewisserung von "Männlichkeit" oder "Weiblichkeit" als Problemlösungsressource erscheint.

Ein zentrales Spannungsfeld für die Jungenarbeit ergibt sich daraus, dass sie einerseits die Gleichstellung der Geschlechter fördern, Macht- und Dominanzverhalten von Jungen abbauen und Männlichkeit kritisch hinterfragen soll. Insoweit müssen entgegen den aktuellen Interessen von Jungen Grenzen gesetzt werden. Andererseits soll Jungenarbeit spezifisch Jungen fördern. Um die Persönlichkeit von Jungen zu stärken, sollen deren Defizite abgebaut, ihre Ressourcen aufgegriffen und ihre Handlungsmöglichkeiten erweitert werden.

Anfangs und vereinzelt heute noch wurde Jungenarbeit daraus begründet, dass Mädchen geschützt werden, indem Sexismus schon bei Jungen entschlossen entgegen getreten wird. Dieser antisexistische Ansatz war zu stark aus der patriarchatskritischen Theorie gespeist und konnte kaum auf konkrete Erfahrungen der Jungenarbeit zurückgreifen. Dieser Ansatz wird von den heutigen, sich meist parteilich verstehenden Jungenarbeitern als überholt angesehen und abqualifiziert. Doch auch wenn die Kritik daran nicht unberechtigt ist, die gegenwärtig vorherrschende Tendenz, einzig und allein auf die Stärkung von Jungen zu setzen, ist in ihrem isolierten Blick auf den Einzelnen ebenfalls unangemessen. Soziale Fragen und gesellschaftliche Strukturen und die Lebenslagen von Jungen müssen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Die Probleme, die Jungen machen, müssen in Verbindung mit ihren Defiziten, Bedürfnissen und Möglichkeiten verstanden werden. Erst dann können Pädagogen bestimmte Bedürfnisse von Jungen als Ressourcen nutzen, aber auch Verhalten eingrenzen, das Ungleichheit produziert.

Ein weiteres Spannungsfeld: Einerseits will Jungenarbeit die Differenzen zwischen den Geschlechtern und den Geschlechterbildern abbauen beziehungsweise auflösen. Andererseits greift sie in ihrer Arbeit zunächst genau diese Differenz auf, indem sie sich spezifisch mit Jungen beschäftigt und immer wieder auf die Kategorie Geschlecht aufmerksam macht. Um diese Benennung kommt geschlechtsspezifische Arbeit nicht herum: Geschlecht wird in unserer Gesellschaft einerseits immer wieder überbetont (was die biologischen Differenzen betrifft), andererseits unterbetont (was die sozialen Folgen der Zugehörigkeit zu einer Geschlechtsgruppe angeht). Die 13. Shell Jugendstudie aus dem Jahr 2000 hat herausgefunden, dass Jungen wie Mädchen zunehmend den Eindruck haben, es gäbe keine berufliche Benachteiligung von Frauen mehr. Mit einer grundsätzlichen und unhinterfragten Thematisierung von Geschlecht droht gerade bei diesen Jugendlichen eine "Dramatisierung", eine Festschreibung von Geschlechterdifferenzen. Hier schlägt Faulstich-Wieland eine "Entdramatisierung" von Geschlecht vor, ohne faktische Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu leugnen. Vielmehr sollen die handelnden Personen selber festlegen, ob und welche Kategorie von Ungleichheit (Alter, Ethnie, Schicht, Stadt/Land) in ihr Blickfeld gerückt wird. In Verbindung mit den verschiedenen Kate-

gorien von Ungleichheit kann erneut abgewogen werden, welche Bedeutung Geschlecht im jeweiligen Zusammenhang hat.

Hier muss sich Jungenarbeit wie jede Jugendarbeit an Bedürfnissen orientieren. Aus unserer offenen Jungenarbeit haben wir die Erfahrung gewonnen, dass gerade Jungen zwischen 10 und 13 Jahren allgemein an geschlechtsspezifischen Angeboten interessiert waren. Bei älteren Jungen traf Geschlechtertrennung lediglich bei bestimmten Fragestellungen auf Interesse. Nur in Feldern, in denen Jungen Geschlechterdifferenzen auch emotional erleben (können) und die ihre Lebenswelt unmittelbar berühren, kann Geschlecht auch sinnvoll thematisiert werden.

Dann aber müssen Reflexionen oder Sachinformationen in Verbindung stehen mit dem Ziel der Aufhebung von Geschlechterzuschreibungen und Diskriminierung. Vor dem Hintergrund der benannten Themen stellt soziale Arbeit mit Jungen (mit Pädagoginnen) und Jungenarbeit (mit männlichen Pädagogen) sehr hohe Anforderungen an beide Pädagogengruppen: Die, die praktische soziale Arbeit mit Jungen leisten, reflektieren neben in der Theorie verankerten Zielsetzungen und Ansätzen die eigenen Verwicklungen in die gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse und deren Verknüpfung mit Macht und Herrschaft. Die soziale Arbeit mit Jungen zielt auf einen anderen Umgang mit Konflikten, Gefühlen und Aggressionen; sie erreicht die Bereitschaft zu einer neuen Sorge und Kooperation zwischen den Geschlechtern auf der Basis einer kritischen Auseinandersetzung mit Überlegenheitsansprüchen von Jungen und Männern; Geschlechterbilder werden kritisch reflektiert; wirtschaftliche Veränderungen sowie die damit verknüpfte Spaltung und Hierarchisierung unser Gesellschaft wird reflektiert, ein kritischer Umgang damit gefördert. Jungenarbeit fördert schließlich durch intensive Begegnung persönliche Orientierungen, ohne deren berufliche Verwertung in den Vordergrund zu stellen, weil Jungenarbeiter Jungen persönlichen Zugang zu Männern mit einem offenen Selbstverständnis bieten.

Manchmal ergibt sich der Eindruck, Jungenarbeit sei weit verbreitet, ja ein anerkannter normaler Ansatz in der Jugendhilfe. Ansätze zur Jungenarbeit gibt es inzwischen in fast allen Feldern der Jugendhilfe. Aufgrund der Initiativen von einzelnen Jungenarbeitern und Organisationen sowie den Anforderungen, die sich aus Gender-Mainstreaming-Prozessen ergeben, wird Jungenarbeit zunehmend zu einem festen Bestandteil von Jugendhilfe und Jugendarbeit.

Doch engagierte Jungenarbeiter erleben sich immer noch oft als Einzelkämpfer, die sich Räume innerhalb ihrer Organisationen schaffen müssen und dabei häufig auf wenig Unterstützung aus der Organisation und von männlichen und weiblichen Kollegen treffen. Jungenarbeiter brauchen viel mehr spezifische Vernetzung, um die Qualität ihrer Arbeit zu sichern. Zudem muss diese Qualität langfristig dadurch gesichert werden, dass vermehrt Männer in den Berufen Sozialarbeiter, Erzieher und Grundschullehrer ausgebildet werden, die ihre eigenen und gesellschaftlichen Männlichkeiten reflektieren.

Prof. Dr. phil. Stephan Höyng ist Erziehungswissenschaftler, Professor für Gender in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und wissenschaftlicher Leiter des europäischen Forschungprojektes Work Changes Gender von Dissens e.V. Berlin.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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