Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 48 / 22.11.2004
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Margit Mantel

Nichts ist mehr so wie bisher

Wenn man auf einmal als Pflegender gefordert wird
Das Buch hat ein fröhliches, verspieltes Titelbild: Zwei Frauen, eine in hohem Alter und die andere jünger, sie könnte ihre Tochter sein, lachen und tanzen miteinander. Doch solch leichte, beschwingte Szenen sind im Inneren eher selten. Es geht um die Pflege von hilfebedürftigen Familienangehörigen. Rund 40 Menschen, in der Mehrzahl Frauen, erzählen, was es für sie und ihre Familien bedeutet, die Fürsorge eines pflegebedürftigen Familienmitglieds zu übernehmen.

Die Situationen sind ganz unterschiedlich, von denen die Pflegenden erzählen. Sie kümmern sich Tag und Nacht um Eltern, Schwiegereltern oder den Ehepartner. Sie haben mit Altersdemenz, Alzheimer, Schlaganfall, Krebs oder anderen Krankheiten zu kämpfen. Viele waren, bevor sie sich für die häusliche Pflege ihrer Angehörigen entschieden, nicht auf diese schwere Aufgabe vorbereitet, geschweige denn, dass sie ermessen konnten, was damit auf sie zukommt.

Die Erzählenden lassen den Leser teilhaben an ihrem Alltag. Sie schreiben von ihren Gefühlen, von Zuneigung und Liebe, aber auch von Trauer, Angst und Verzweiflung, von Enttäuschung und Wut. Es sind Geschichten von kaum zu bewältigenden Belastungen ("es ist schwer zu ertragen, den körperlichen und geistigen Verfall eines geliebten Menschen zu erleben"), aber auch von erfüllten Stunden ("es gibt auch schöne Momente: Mutter kann jetzt genießen").

Das Buch ist entstanden aus einer Projektarbeit. Die vier Herausgeberinnen untersuchten an der Universität Bielefeld, Fakultät Pädagogik, die verschiedenen Aspekte der Pflege und ihrer Bedeutung für die Lebensgeschichte pflegender Menschen. In Gesprächen mit pflegenden Angehörigen wurde ihnen deutlich, dass es zwar eine Fülle von wissenschaftlichen Studien und Veröffentlichungen zum Thema häusliche Pflege gibt, dass die betroffenen Familien selbst aber oft hinter Zahlen zu verschwinden drohen.

Darüber, was Pflege für die eigene Biographie und das Familienleben bedeutet, ist allgemein wenig bekannt. So ist es dem Projektteam, das pflegende Angehörige bat, ihre persönlichen Erfahrungen aufzuschreiben, zu danken, dass diese Menschen aus dem Schatten heraustreten und eine Stimme bekommen. Denn, auch das wird in diesem Buch deutlich, ihre Leistungen werden öffentlich kaum wahrgenommen und zu selten anerkannt.

Das Familienleben ändert sich total, wenn ein Angehöriger zu Hause gepflegt wird, manchmal über Jahre. Zunächst ist da das "Gefühl, dass alles zusammen bricht". Der Alltag muss völlig neu organisiert werden. Derjenige, der die Pflege übernimmt, muss seine eigenen Bedürfnisse zunehmend in den Hintergrund stellen. Von früh bis spät ist sie oder er gefordert: waschen, Toilettengang, pudern, kämmen, anziehen, kochen, zerkleinern, pürieren, füttern, die Treppe hinunter und später wieder heraufbugsieren, chauffieren, telefonieren, verhandeln, immer wieder sauber machen, ordnen, lagern, beruhigen, trösten, streicheln, halten ... Urlaube werden gestrichen, selbst Spaziergänge oder ein Einkaufsbummel sind zuweilen nicht möglich. Bisherige Abläufe, Gewohnheiten, Rituale in Familien können nicht mehr eingehalten werden. Der Lebenskreis wird enger, der Alltag gleichförmiger.

Viele Handgriffe müssen nach und nach erst erlernt werden. Um alles unter einen Hut zu kriegen, wird eine wahre "Alltagskunst" entwickelt. Doch die überaus vielfältigen "Verrichtungen", die enorm viel Zeit und eine Menge Geschick erfordern, sind oft nicht das eigentliche Problem. Bei der Pflege ist der ganze Mensch gefordert mit seinen körperlichen und seelischen Kräften. "Jede Eigenschaft eines Menschen wird aufgedeckt", sagt einer, "man braucht einen festen Stand im Leben, aber auch einen beweglichen. Denn wer nahestehende Menschen pflegt, steht nicht außerhalb der Erkrankung. Ich wurde also gleichsam ein Lotse, dessen eigener Kurs unlöslich mit einem angeschlagenen Schiff in einer gefährlichen Passage verbunden war."

Viele sind traurig über die schwindenden sozialen Kontakte. "Gäste einladen, Feten feiern, wo Mutter nebenan liegt - das geht nicht mehr." Freunde ziehen sich mehr und mehr zurück: "Wenn ihr nicht zu uns kommt, kommen wir auch nicht zu euch." Und die Umwelt ist oft alles andere als solidarisch. Gerade die Andersartigkeit dementiell Erkrankter wird in der Gesellschaft wenig akzeptiert. Wenn der alte Vater im Winter ohne Jacke und Kopfbedeckung mit triefender Nase durch die Straßen läuft und nicht mehr nach Hause findet, sind andere mit Vorwürfen schnell dabei. Verständnis ist oft nur bei denen zu finden, die ähnlich betroffen sind; "andere haben keine blasse Ahnung, wovon die Rede ist".

Die Tatsache, dass die Pflege alter Menschen mit Abschied verbunden ist, macht vielen Angst. Einen nahestehenden Menschen loszulassen, sein Sterben und seinen Tod zu akzeptieren, den Verlust anzunehmen, ihn zu betrauern und durch ihn mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert zu werden - das sind traumatische Erfahrungen. "Es ist ein Weg, auf dem es eigentlich keine Hoffnung gibt, den man aber gehen muss, leben muss - nur wie?"

Hilflosigkeit, Leere, Verzweiflung und Aussichtslosigkeit machen sich breit. "Das Leben spielte nur hier und jetzt. Morgen würde es schlimmer sein", schreibt eine Betroffene. Manche haben im Nachhinein auch Versagens- und Schuldgefühle: "Da hättest du doch noch mehr tun können!"

In den Berichten wird deutlich, wie wichtig die Beziehungen zu den Pflegebedürftigen und innerhalb der Familie sind. Konflikte treten auf, wenn die Aufteilung der Verantwortung nicht geklärt ist. Manchmal ist es nur ein Angehöriger von mehreren, dem alles aufgebürdet wird. Wenn die Familienbeziehungen schon vorher schwierig gewesen sind, wenn Missverständnisse auftreten und gegenseitig Vorwürfe gemacht werden, dann spitzt sich die Situation zu.

Und Pflegebedürftige können oft nicht kampflos ihre zunehmende Schwäche und Gebrechlichkeit, ihre Abhängigkeit und Hilflosigkeit akzeptieren. Sie reagieren oft mit Unruhe, mit Protesten und mit Neid auf die Gesunden und Jungen. Wenn ihnen kaum ein Dankeschön über die Lippen kommt oder sie die Pflegenden entwerten, manchmal sogar beschimpfen, dann ist das schwer zu ertragen. In vielen alltäglichen Pflegesituationen gerät der oder die Pflegende in einen Teufelskreis von Hilflosigkeit und Ärger, von Wut und Enttäuschung, von Macht und Kontrolle. Leichter haben es die, die es mit geduldigen und dankbaren zu Pflegenden zu tun haben.

Es wird auch von vielen guten Erfahrungen berichtet. Etwa: "Diese Zeit erlaubte es uns, uns voneinander zu verabschieden." Pflegezeit ist auch eine Zeit, in der sich ein ganz intensiver Kontakt entwickeln kann, der in normalen Zeiten des Lebens so nicht möglich war. Da wächst das Vertrauen zueinander, da gibt es Momente des Glücks. "Ohne Liebe kann man diesen Dienst nicht über längere Zeit wahrnehmen", sagt ein Ehepartner, und "ich hatte oft das Gefühl, dass mir meine Frau als Kranke mehr gab, als ich ihr je hätte geben können". Viele Berichte zeugen von der Kraft der Liebe, die Menschen fähig macht, sich den enormen Belastungen der Pflege auszusetzen und sie auszuhalten.

Manche betonen auch das ihnen anerzogene Verantwortungsgefühl, aus dem heraus sie ihre Eltern umsorgen, oder sprechen von der Dankbarkeit für das, was Eltern für sie getan haben und das ihnen die Kraft gibt, ihnen jetzt etwas zurückzugeben: "Ich finde, dass unsere Eltern das verdient haben. Wenn ich allein daran denke, dass sie uns großgezogen haben - vor allem in den damals schlechten Zeiten -, so ist die Unterstützung im Alter für mich eigentlich selbstverständlich", schreibt eine Tochter.

Die Betroffenen haben viel gelernt. Nur wenige sind verbittert, oft sind sie ihren Eltern näher gekommen, sagen, dass sie in dieser Zeit bereichert wurden. Und der Schatz an Erfahrungen, den sie durch die Pflegezeit für ihr eigenes weiteres Leben und vielleicht für ihre spätere eigene Pflegebedürftigkeit mitbekommen haben, ist unbezahlbar. "Kranksein ist eine anstrengende Übung in Geduld für beide Parteien. Sie zwingt uns einzusehen, dass es noch andere Formen gibt, sein Leben zu leben als die täglich gewohnten und praktizierten. Schmerz und Verzweiflung haben ihr Recht im menschlichen Leben genau so wie Freude und Glück. ... Im Rückblick war die Pflege trotz aller Mühen und Opfer auch ein Gewinn", so das Resümee einer Frau nach dem Tod ihrer 97-jährigen Mutter.

Das Buch ist unterteilt in "Entwicklungsgeschichten", "Belastungs- undVerzweiflungsgeschichten", "Bindungs- und Verstrickungsgeschichten" und "Abschiedsgeschichten". Jede der Geschichten ist von den Herausgeberinnen mit einem Kommentar versehen. Am Schluss finden sich ein Einblick in die Forschung unter dem Thema "Theoretische Perspektiven auf die häusliche Pflege" und ein Literaturverzeichnis.

Von den vielfältigen Erfahrungen, die das Buch weitergibt, auch von den Fehlern, die gemacht wurden, können andere profitieren, die noch am Anfang des Pflegeprozesses stehen. Aber es ist auch generell eine hilfreiche Lektüre, denn wer weiß schon, wie gesund oder pflegebedürftig er, sein Partner oder andere Familienmitglieder morgen oder später sein werden?

Stil, Länge und der Blickwinkel des Erzählens sind in den einzelnen Berichten sehr unterschiedlich; manche sind sogar sehr sachlich geschrieben. Doch wird das Buch keinen Leser unberührt lassen von der enormen Leistung, die diese Menschen aufbringen. Und es hilft Außenstehenden, dass sie Familien in ihrem Bekanntenkreis oder in der Nachbarschaft, in denen gepflegt wird, besser verstehen, und es hilft vielleicht sogar dazu, nachzufragen und Anteil zu nehmen

Katharina Gröning, Anna-Christin Kunstmann, Elisabeth Rensing, Bianca Röwenkamp (Hrsg.)

Pflegegeschichten. Pflegende Angehörige schildern ihre Erfahrungen.

Mabuse-Verlag, Frankfurt/M. 2004; 295 S., 22,90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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