Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 50-51 / 06.12.2004
Zur Druckversion .
Thilo Castner

Grenzüberschreitung

Der Moralist Salman Rushdie
Der Verfasser der "Satanischen Verse" ist nicht nur ein begnadeter Romancier, sondern auch, wie dieser Sammelband eindrucksvoll zeigt, ein gut informierter, kritischer Kommentator des Weltgeschehens. 27 Essays und 38 Kolumnen, vorwiegend in britischen und amerikanischen Zeitschriften veröffentlicht, belegen das umfangreiche und vielfältige literarische Werk Salman Rushdies aus den Jahren von 1992 bis 2002.

In den Essays beschreibt Rushdie in einigen Glossen auch scheinbar Nebensächliches: gesäuertes Brot, die Straußenzucht, "Lokale, die Mama's heißen". Im Vordergrund stehen aber natürlich ernste Themen wie Reflexionen über den Tod von Prinzessin Diana oder der 80. Geburtstag Arthur Millers, der sich vehement für die Aufhebung der unter Khomeini gegen Rushdie verhängten Fatwa eingesetzt hatte. Am bewegendsten ist Rushdies Schilderung seiner "glorreichen Heimkehr" in die indische Heimat nach zehnjähriger Verbannung - Indien war das erste Land, das die "Satanischen Verse" verboten hatte.

Erschütternd seine Aufzeichnungen "Botschaften aus den Jahren der Heimsuchung". 1988 der Gotteslästerung und Ketzerei angeklagt, war auf seine Tötung ein Kopfgeld von mehreren Millionen Dollar ausgesetzt, und Rushdie wusste, dass ihm seine Mörder in Großbritannien auf der Spur waren. Obwohl er anfangs fast täglich die Unterkunft wechseln musste, jegliche Öffentlichkeit zu meiden hatte und ständig von Polizei und Geheimdienst umringt war, gab er den Kampf gegen das Ajatollah-Regime nicht auf. Er veröffentlichte Erklärungen, hielt Reden, nahm Kontakt zu liberalen Parlamentariern und demokratischen Regierungen auf. Deutlich wird in diesen Dokumenten, wer ihn unterstützte und wie die Fatwa ihr Ende fand.

In den Kolumnen wird Rushdies Philosophie, seine Einstellung zu zentralen Gegenwartsproblemen deutlich. Die Brennpunkte der internationalen Politik, ob in Nordirland, Pakistan, Amerika oder im Kosovo verfolgt er gebannt; er steht immer auf der Seite der Unterdrückten, Verfolgten und Rechtlosen. Er klärt auf, hinterfragt soziale Ungerechtigkeit, unterbreitet Lösungsvorschläge. Seine Gegner sind stets die "Sturmtruppen der Bigotterie und Heuchelei", christliche, jüdische und islamistische Fundamentalisten, Gewaltverherrlicher, patriotische Eiferer, Kriegstreiber und Kriegsgewinnler.

Rushdie hält mit ätzender Kritik an George W. Bush nicht zurück, warnt aber gleichzeitig eindringlich vor pauschalem Antiamerikanismus. Er verurteilt jede Form des Terrorismus und distanziert sich von einer Politik, die den Terroristen mit gleicher Münze heimzuzahlen sucht. Sein Überzeugung ist stets ein Plädoyer für Meinungsfreiheit, für Freiheit der Kunst, für Gleichberechtigung der Frau, für ein Miteinander der Kulturen, für religiöse Toleranz und uneingeschränkte Wahrung der Menschenrechte.

Rushdies Credo wird am deutlichsten im Schlusskapitel "Überschreiten Sie diese Grenze!" Grenzen zu übertreten heißt für ihn, auferlegter Unfreiheit zu trotzen, innere Ängste zu überwinden, gegen Unrecht mutig Widerstand zu leisten, Rassendiskriminierung zu verurteilen, religiösem Fanatismus die Stirn zu bieten. Der größte Feind der Menschheit seien die Verkünder alter und neuer Unfreiheiten und Lügen. Nur wenn es gelinge, sich den Unwahrheiten und Einflüsterungen falscher Propheten zu entziehen, "die Freiheit zu mehren und die Ungerechtigkeit einzudämmen", bestehe Aussicht, die "schrecklichen neuen Waffen" des Terrorismus und Fanatismus zu neutralisieren. Der Sammelband ist allen Lesern, die diesen großen Schriftsteller und Moralisten genauer kennen lernen wollen, sehr zu empfehlen. Darüber hinaus können einzelne Passagen erfolgversprechend in der politischen Bildungsarbeit eingesetzt werden, an Schulen wie in der Erwachsenenbildung.

Salman Rushdie

Überschreiten Sie diese Grenze!

Schriften 1992 - 2002.

Rowohlt Verlag, Hamburg 2004; 576 S., 24,90 Euro.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.