Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 50-51 / 06.12.2004
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Claudia Heine

"Bis dass der Tod uns scheidet"

40 Millionen Menschen sind weltweit mit HIV infiziert
Seit 1988 wird jährlich am 1. Dezember der Welt-AIDS-Tag begangen. In jedem Jahr nutzen viele Organisationen weltweit, aber auch in der Bundesrepublik den Tag für große Kampagnen, um für Solidarität mit den Betroffenen zu werben, Spenden zu sammeln und über Vorbeugung, Aufklärung und Behandlung der Immunschwächekrankheit zu informieren. Die Zahlen des neuen Welt-AIDS-Berichtes zeigen, dass auch künftig große Anstrengungen nötig sein werden, um der Krankheit zu begegnen - auch in Deutschland.

Nur elf Prozent der Frauen in dem südafrikanischen Land Sambia glauben, dass sie das Recht haben, ihre Ehemänner zu fragen, ob sie ein Kondom benutzen würden, selbst wenn diese HIV-positiv sind. "Bis dass der Tod uns scheidet" heißt deshalb die bittere Überschrift eines Kapitels des neuesten Welt-AIDS-Berichts, der Ende November der Öffentlichkeit präsentiert wurde, und in dem weitere ähnliche Beispiele genannt werden. UNAIDS, das AIDS-Bekämpfungsprogramm der Vereinten Nationen, veröffentlicht darin erschreckende Zahlen: Drei Millionen Menschen werden demnach im Jahr 2004 an der Immunschwäche AIDS sterben - mehr als jemals zuvor. Weltweit haben sich in den vergangenen zwölf Monaten rund fünf Millionen Menschen mit HIV infiziert. Zum Jahresende werden fast 40 Millionen Menschen mit dem Virus leben. Trotz großer regionaler Unterschiede gab der Direktor von UNAIDS, Peter Piot, bei der Vorstellung des Berichtes für kein Gebiet Entwarnung: "Auf allen Kontinenten steigt die Zahl der Neuinfektionen."

Die Zeiten, in denen AIDS allein eine Krankheit der Homosexuellen zu sein schien, sind längst vorbei. In diesem Jahr standen deshalb andere im Zentrum des Welt-AIDS-Tages, an dem UNAIDS unter dem Motto "Frauen, Mädchen, HIV und AIDS" einen neuen Schwerpunkt formulierte. Global betrachtet sind rund die Hälfte aller HIV-Infizierten Frauen. Deren Anteil wächst sehr viel schneller als der der Männer. Studien belegen zwar, dass rein biologisch das Infektionsrisiko für Frauen beim ungeschützten Geschlechtsverkehr doppelt so hoch ist wie für Männer. Als alleinige Erklärung reicht das natürlich nicht aus: "Weltweit geht das Ausmaß, in dem Frauen von HIV bedroht oder schon betroffen sind, mit großen geschlechtlichen, sozialen und anderen Ungleichheiten einher", heißt es deshalb in dem Bericht. Frauen haben oft nicht den gleichen Zugang zu medizinischer Versorgung und aufklärenden Hilfsprogrammen wie Männer. Das ist vor allem, aber nicht nur ein Problem der Entwicklungsländer: Auch Frauen am Rand der westlichen Industriegesellschaften gehören laut UNAIDS dazu: Migrantinnen zum Beispiel. 80 Prozent der infizierten Frauen in den USA sind afrikanische und lateinamerikanische Einwanderinnen; diese repräsentieren jedoch lediglich ein Viertel der in den USA lebenden Frauen.

AIDS hat aber nach wie vor ein Zentrum, in dem der Anteil betroffener Frauen sogar die 50-Prozent-Marke weit überschreitet: Von den 25 Millionen Menschen, die im südlichen Afrika mit HIV leben, sind fast 60 Prozent Frauen. In der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen sind sogar es 76 Prozent. Das bedeutet, dass rund drei Viertel aller weltweit HIV-infizierten Frauen dort leben.

Eine UNICEF-Studie ergab, dass in einigen besonders gefährdeten Gebieten die Hälfte der Frauen grundlegende Dinge über AIDS gar nicht wissen. "Das lässt sich nicht einfach mit Ignoranz erklären, sondern hat ganz wesentlich mit ihrer machtlosen Position in Ehe und Gesellschaft zu tun", schreibt UNAIDS in dem neusten Welt-AIDS-Bericht. Und weiter: "Die meisten Frauen werden durch das riskante Verhalten ihrer Partner angesteckt, auf das sie nur wenig Einfluss haben." Nicht nur in Afrika, auch in Asien gibt es genügend Beispiele für diese Tendenz: Während vor zwölf Jahren in Thailand 90 Prozent der HIV-Infektionen in Bordellen stattfand, sind es heute 50 Prozent Ehefrauen, die sich bei ihren Männern anstecken.

Frauen spielen jedoch aufgrund ihrer Rolle in der Kinderbetreuung eine zentrale Rolle im Kampf gegen AIDS. Sie sind es, die die Kinder aufklären und deshalb auch über Vorbeugung informieren können. Hier könnten die Hilfsprogramme ansetzen, die aber mehr als nur medizinische Betreuungsangebote sein sollten, fordert UNAIDS. Der Kampf gegen AIDS sei zuerst auch ein Kampf für die Rechte der Frauen, für ihre ökonomische, aber auch emotionale Unabhängigkeit. Um diesen zu unterstützen, gründete die UN-Organisation in diesem Jahr die "Globale Koalition Frauen und AIDS", ein Netzwerk aus gesellschaftlichen Organisationen, politischen Institutionen und Bürgern, das sich für eine bessere Information von Frauen, ihren besseren Zugang zu medizinischen Versorgung, aber auch für eine Intensivierung der medizinischen Forschung einsetzt. So genannte Mikrobizide, Cremes oder Zäpfchen für Frauen, werden seit Jahren von der Wissenschaft, bisher allerdings erfolglos, getestet. Es kann noch fünf bis zehn Jahre dauern, ehe diese wirklich auf den Markt kommen - und damit eine Möglichkeit für Frauen bieten, sich unabhängig vom Kondomgebrauch ihrer Männer vor AIDS zu schützen.

Während weltweit immer mehr Frauen von AIDS betroffen sind liegen die Zahlen für die Bundesrepublik in den letzten Jahren konstant bei rund 400 Erstdiagnosen pro Jahr. Mit rund 20 Prozent an den insgesamt 2.000 Neuinfektionen stellen Frauen in Deutschland im weltweiten Maßstab also immer noch eine verhältnismäßig kleine Gruppe. Homosexuelle Männer dagegen bilden mit 55 Prozent nach wie vor die Mehrheit der Neuinfizierten im Jahr 2004, gefolgt von Menschen, die aus so genannten Hochprävalenzländern zu uns kommen, also Ländern, in denen HIV unter der Allgemeinbevölkerung sehr verbreitet ist. Deren Anteil unter den 44.000 in Deutschland lebenden HIV-Infizierten ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Entsprechend verändern auch die in Deutschland tätigen Hilfsorganisationen ihre Angebote: "Wir bieten seit einiger Zeit verstärkt Materialien auch in russischer und polnischer Sprache an", sagt Joyce Dreezens-Fohrke von der Deutschen-AIDS-Hilfe. Solche Bemühungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier Lücken in der Angebotsstruktur bestehen. Hinzu kommt ein anderer Aspekt: "Viele der von HIV betroffenen Migranten vertrauen den staatlichen Institutionen nicht, weil sie diese aufgrund ihrer Erfahrungen in den Heimatländern mit Repressalien verbinden", begründet Keikawus Arastéh, Direktor der Infektiologie am Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin, die Schwierigkeiten einer Kontaktaufnahme. "Es müsste dringend mehr niedrigschwelligere Angebote geben", so der Arzt weiter. Er weiß, wovon er spricht: Immerhin betreut diese Klinik die meisten der Berliner AIDS-Patienten, unter ihnen eine steigende Zahl aus Osteuropa. Als Infektionsquelle spielen Migranten jedoch so gut wie keine Rolle: "Sie sind aufgrund ihres Status meist relativ stark in Bedrängnis und ziehen sich in Gruppen zurück, so dass der Austausch mit der übrigen Bevölkerung kaum da ist", erläutert Arastéh.

Eine Ausnahme ist die Prostitution. Nicht nur in Berlin bieten viele osteuropäische Frauen ihre Dienste an. Der kleine Grenzverkehr an der deutsch-tschechischen Grenze bereitet Mitarbeitern von AIDS-Hilfsprojekten schon lange Kopfschmerzen. Nur ein kleiner Teil der Frauen in Bordellen oder auf den Straßen wenige Kilometer hinter der Grenze kommt aus Tschechien, viele dagegen aus der Ukraine oder Weißrussland - Länder, in denen die HIV-Raten seit einiger Zeit geradezu explodieren. Für ein paar Euro mehr lassen sie sich auch ohne Kondom auf ihre deutschen Kunden ein; mehrere tausend sind es pro Tag. Und die Zahl derer, die es ohne Kondom machen wollen, steigt. Die Gefahr, die sich hier auch für ahnungslose Ehefrauen und Freundinnen versteckt, darf nicht unterschätzt werden: "Es gibt heute ungefähr 500.00 HIV-Infizierte in der Ukraine - eine ähnlich dramatische Situation wie in Südafrika kurz vor der Explosion vor zehn Jahren", sagt Arastéh und fordert deshalb entschiedene Maßnahmen auch von deutscher Seite: "Da müsste die Bundesregierung viel mehr tun, um die Aufklärungsarbeit dort vor Ort zu unterstützen."

In den meisten Ländern Osteuropas und Zentralasiens ist AIDS immer noch ein Tabuthema. Steigenden Infektionszahlen, besonders unter Frauen, steht ein völlig unterentwickeltes Gesundheits- und Aufklärungssystem gegenüber. Über 80 Prozent der jungen Frauen in der Ukraine und Usbekistan wissen zum Beispiel nicht, wie sie sich vor AIDS schützen können. Von einem "dramatischen" Anstieg auf 1,4 Millionen Infizierte in dieser Region spricht UNAIDS im aktuellen Welt-AIDS-Bericht; allein im Jahr 2004 kamen 210.000 neu registrierte Fälle hinzu. Die Ukraine und Russland stehen dabei an der traurigen Spitze.

Trotz der insgesamt großen regionalen Unterschiede der Verbreitung weisen die Experten auf einige Gemeinsamkeiten hin:

1. Meistens befinden sich die Epidemien in einem frühen Stadium, was bedeutet, dass effektive Gegenmaßnahmen diese eindämmen oder sogar stoppen können.

2. Die meisten der von HIV Betroffenen sind sehr jung: 80 Prozent sind unter 30 Jahre. Im Vergleich: In Westeuropa sind es nur 30 Prozent.

3. Die Übertragung von AIDS durch Sex stieg in jedem der Länder stark an, für UNAIDS ein Hinweis, dass es in der breiten Bevölkerung Fuß gefasst hat. (In der Ukraine stieg der Anteil jener, die sich über heterosexuelle Kontakte infiziert haben, von 11 Prozent im Jahr 1997 auf nun 30 Prozent; davon sind über 40 Prozent Frauen.)

4. Der mühsame und lang andauernde sozial-ökonomische Übergang nach 1990 bildet den Kontext, in dem außergewöhnlich viele Jugendliche Drogen konsumieren.

Die Bekämpfung von AIDS in Osteuropa und Zentralasien müsste, so UNAIDS, in erster Linie über eine Drogenpolitik erfolgen, die die Abhängigen nicht mehr an den Rand und in die Illegalität treibt. Folgende Zahlen unterstreichen die Dringlichkeit eines solchen Appells: Über 80 Prozent der seit Beginn der AIDS-Epidemie in Russland registrierten Fälle finden sich unter jenen, die intravenös Drogen konsumierten und es immer noch tun. Momentan wird die Zahl der drogenabhängigen Russen auf 1,5 bis drei Millionen geschätzt, von denen 40 Prozent keine sterile Nadeln oder Spritzen benutzen. Doch nur das Angebot von sauberen Spritzen würde das Problem nicht lösen. Auffallend groß sind nämlich die Überschneidungen zweier Risikogruppen: Sehr viele, die intravenös Drogen konsumieren prostituieren sich, um ihre Sucht zu finanzieren. Umgekehrt sind viele Prostituierte von der Nadel abhängig. Mit Nachdruck fordert UNAIDS deshalb von den Verantwortlichen Aufklärungsprogramme darüber zu starten, wie man sich und andere vor AIDS schützen kann.

Wie erfolgreich man damit sein kann beweist die Kampagne "Gib AIDS keine Chance!" der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Seit 1987 wird auf massenwirksame Weise über Prävention und den Umgang mit der Krankheit informiert. Mit einem Ergebnis, das sich sehen lassen kann: Nach der Studie "AIDS im öffentlichen Bewusstsein", die die BZgA jährlich erhebt, wissen 99 Prozent der Bevölkerung über Infektionsrisiken und Schutzmöglichkeiten Bescheid. Innerhalb der westeuropäischen Länder nimmt Deutschland mit einer Anzahl von 0,5 Infektionen pro Tausend Einwohnern nach Finnland, Schweden und Norwegen eine sehr günstige Position ein. Im Vergleich: In den Niederlanden liegt dieser Wert bei 1,1, in der Schweiz bei 2,6 und in Spanien sogar bei 3,3.

Sich auf diesen Lorbeeren auszuruhen wäre jedoch der falsche Schluss. Rainer Jarchow, Vorstandsmitglied der Deutschen-AIDS-Hilfe, zeigte sich anlässlich des Welt-AIDS-Tages besorgt über eine neue Nachlässigkeit: "Wir dürfen die bisherigen großen Erfolge nicht durch eine zurückgehende Intensität gefährden." Genau diese scheint sich derzeit besonders unter Jugendlichen zu verbreiten: "Jugendliche denken doch: Das ist eine Krankheit von alten Säcken. Sie fühlen sich nicht angesprochen, und genau deswegen stecken sie sich in letzter Zeit wieder vermehrt an", erregt sich der Berliner Chefarzt Arastéh. Zahlen bestätigen diesen Trend. In derselben Studie der Bundeszentrale kann man nachlesen, dass im vergangenen Jahr nur noch 78 Prozent der Befragten mit mehreren Sexualpartnern Kondome benutzt haben. Im Jahr 2001 waren es noch 83 Prozent. Bei Urlaubsbekanntschaften benutzten im Jahr 2003 nur noch 73 Prozent der Befragten Kondome; diese Zahl sank von 79 Prozent zwei Jahre zuvor.

Lebensgefährlicher Irrglaube

Den Grund dafür, dass AIDS seinen Schrecken verloren hat, lieferte der medizinische Fortschritt, den viele Menschen falsch verstehen, weil sie glauben, AIDS sei nun keine lebensbedrohliche Krankheit mehr. Auch wenn das Leben durch Medikamente verlängert werden kann: Der Preis, den die Patienten dafür zahlen, ist hoch. Sie leiden nicht nur unter der sichtbaren Veränderung ihres Fettstoffwechsels, die sie zum Teil entstellt, da Fettpolster aus dem Gesicht, Gesäß, Armen und Beinen verschwinden, sich gleichzeitig aber immer mehr Fett im Bauchraum und am Nacken ablagert. Ein Thema, das zunehmend auch von den Hilfs-organisationen aufgegriffen wird: "Für uns ist es ganz entscheidend, auch über die Konsequenzen einer AIDS-Therapie zu informieren. In gewissen Sinne ist es eine Art Nebenwirkungsmanagement, das wir da unterstützen", erläutert Dreezens-Fohrke von der Deutschen-AIDS-Hilfe. Längst sterben mehr Menschen an den Nebenwirkungen wie Tumorerkrankungen, Leber- oder Nierenversagen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, als an den "klassischen" AIDS-Todesursachen, so genannten opportunistischen Infektionen. Man nennt sie so, weil sie die "günstige Gelegenheit" - nämlich die Schwäche des Immunsystems - nutzen, um sich zu vermehren. Auf diese Weise werden selbst Lungenentzündungen zum Lebensrisiko. Der Klinikdirektor aus Berlin warnt deshalb eindringlich: "Jede Generation braucht immer wieder neu eine Aufklärung über AIDS, die ihnen auch erklärt, was eine AIDS-Therapie wirklich bedeutet. Das ist kein Zuckerschlecken, sondern eine Therapie, die keine Fehler verzeiht. Das ist nichts anderes als eine lebenslange Chemotherapie."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.