Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 14.03.2005
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Robert Luchs

Ein Leben in Todesangst

Haiti versinkt im Chaos

Ein Jahr nach dem Sturz des haitianischen Präsi-denten Jean-Bertrand Aristide droht das ärmste Land der westlichen Hemisphäre in Chaos und Anarchie zu versinken. Polizei und Todesschwadronen töten auf offener Straße. Menschen werden willkürlich verhaftet, Gefangene misshandelt. Weite Teile des Landes werden von früheren Angehörigen der Armee und Anhängern Aristides kontrolliert. Krankenhäuser und Schulen sind geschlossen. Elend und Hunger haben, obwohl viele Experten dies kaum noch möglich gehalten haben, inzwischen weiter zugenommen.

"Die Übergangsregierung unter Premierminister Gerard Latortue und die Mission der Vereinten Nationen zur Sicherung Haitis (MINUSTAH) haben es bisher sträflich versäumt, die bis an die Zähne bewaffneten Gruppen zu entwaffnen und zu demobilisieren", beklagt Jerome Cholet, Haiti-Experte der Menschenrechtsorganisation amnesty international. "Sie müssen endlich diejenigen bestrafen, die schwerste Menschenrechtsverletzungen verüben." Die Bevölkerung in Haiti lebe in ständiger Unsicherheit und Angst. Sie könne sich, so Cholet, nicht frei bewegen, ihre Rechte auf Nahrung, Gesundheit, Bildung und Unversehrtheit würden täglich verletzt. amnesty internationalhat inzwischen die internationale Gemeinschaft dringend dazu aufgerufen, ihre Hilfszusagen an Haiti zu erfüllen.

Die 7.400 Mann starke UN-Truppe ist offenbar mit der Aufgabe überfordert, nach dem Staatsstreich vor einem Jahr die politischen Verhältnisse wieder zu normalisieren. "Als wir die Vereinten Nationen gebeten haben, die haitianische Bevölkerung vor dem Terror der Todesschwadronen in den vergangenen Wochen und Monaten zu schützen, bekamen wir noch nicht einmal eine Antwort", sagte Jonas Petite, Sprecher der Partei Fanmi Lavalas des gestürzten Aristides, in einem Interview. Nach dem Sturz des Präsidenten aber habe der Sicherheitsrat nur wenige Stunden benötigt, um internationale Truppen nach Haiti zu entsenden, die sich nicht scheuten mit den Paramilitärs zusammenzuarbeiten.

Die UN-Truppe MINUSTAH unter der Führung Brasiliens versucht seit dem 1. Juni vergangenen Jahres, das Land zu stabilisieren. Im März soll die Organisation Amerikanischer Staaten damit beginnen, die Wähler Haitis zu registrieren. Für den 13. November sind Präsidentschafts- und Parlamentswahlen angesetzt. Ein Wahlkampf aber ist unmöglich, solange das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht existiert und politische Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen werden.

Amnesty international hat erklärt, die Organisation erkenne die derzeitigen Schwierigkeiten an, denen sich die Übergangsregierung gegenübersehe. Sie seien zu einem gewissen Teil auf die Regierung Jean-Bertrand Aristides zurückzuführen, rechtfertigten allerdings nicht die Menschenrechtsverletzungen und den Zustand der Straflosigkeit. Diese Gründe sowie die unzureichende Entwaffnung verfeindeter Gruppen seien Hauptproblem und Ursache für die anhaltende schwere Krise im Land.

Unhaltbare Zustände

Das Auswärtige Amt in Berlin hat unterdessen seine Reisewarnung für Haiti erneuert und auf die angespannte Sicherheitslage hingewiesen. Es komme nach wie vor zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Aristide-Anhängern und der haitianischen Polizei beziehungsweise der internationalen Schutztruppe und zu Schießereien zwischen kriminellen Banden. Am 19. Februar habe ein bewaffnetes Kommando das Zentralgefängnis von Port-au-Prince angegriffen, worauf mehrere hundert Kriminelle geflohen seien. Dadurch habe sich die Sicherheitslage noch weiter zugespitzt. Schließlich hätten in jüngster Zeit außerdem Überschwemmungen schwere Schäden verursacht und die schlimme Lage der Bevölkerung zusätzlich erschwert.

Der UN-Truppe scheint die immer dramatischer werdende Entwicklung wenig Sorge zu bereiten. Sie seien entsandt worden, um die Regierung zu beschützen, wird der Kommandant Juan Gabriel Valdez zitiert. Nur darin bestehe der Auftrag des UN-Sicherheitsrates. Nach einem Bericht der britischen Zeitung "Guardian" wurden in den vergangenen Monaten hunderte Anhänger von Ex-Präsident Aristide ohne Begründung inhaftiert. Lediglich 20 von ihnen seien offiziell unter Anklage gestellt worden, die anderen würden willkürlich festgehalten. Auch das amerikanische Repräsentantenhaus hat sich inzwischen mit diesen unhaltbaren Zuständen beschäftigt. In einer Petition an das Außenministerium forderten die afroamerikanische Abgeordnete Maxine Waters sowie 30 ihrer Parlamentskollegen deshalb die unverzügliche Freilassung aller politischen Gefangenen in Haiti aus der Gefängnishaft.

Je länger die Unsicherheit andauert, desto schwieriger gestaltet sich die soziale und wirtschaftliche Situation. Nur sehr wenige Menschen der rund acht Millionen Haitianer gehen einer geregelten Arbeit nach, die meisten halten sich und ihre Familien mit Gelegenheitsjobs notdürftig über Wasser. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei einigen hundert Dollar im Jahr. Das heißt, die Mehrzahl der Einwohner liegt mit ihrem Verdienst unter der von der Weltbank angegebenen Armutsgrenze von einem US-Dollar pro Tag. Ohne die finanzielle Unterstützung durchdie im Ausland lebenden Haitianer für ihre Landsleute wäre deren Lage jedoch noch weitaus dramatischer. Viele Einheimische sind gezwungen, nur noch von dem zu leben, was sie auf ihren kleinen landwirtschaftlichen Flächen anbauen können. Da die Geburtenrate auf der Insel mit rund zwei Prozent immer noch hoch ist und keine Anzeichen für eine wirtschaftliche Erholung vorhanden sind, steht der Karibik-Staat vor allem wirtschaftlich vor einer düsteren Zukunft.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.