Der Aktuelle Begriff
24.05.2005
Archiv 2005
Auflösung des Bundestages und vorzeitige Wahlen
Das Grundgesetz sieht zwei Möglichkeiten
einer Auflösung des Bundestages vor - nach Art. 63 Abs. 4 Satz
3 GG und nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG. In beiden Fällen liegt
die Entscheidung, den Bundestag aufzulösen, beim
Bundespräsidenten. Es gibt also weder eine automatische
Auflösung noch ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments;
dieses hat es jedoch in der Hand, eine Auflösung zu
verhindern, indem es mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen neuen
Kanzler wählt (vgl. Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG). Nach erfolgter
Auflösung müssen "innerhalb von sechzig Tagen" (Art. 39
Abs. 1 Satz 4 GG) Neuwahlen stattfinden. Der "aufgelöste"
Bundestag bleibt bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages
bestehen, wie sich aus Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt; es gibt
also keine parlamentslose Zeit.
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG "kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen", wenn "ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages" findet. Darüber hinaus enthält Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts jedoch noch ein ungeschriebenes sachliches Tatbestandsmerkmal: "Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine [d.h. des Bundeskanzlers] Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag." Alle drei am Verfahren nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG beteiligten Verfassungsorgane - Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident - seien an dieses materielle Erfordernis gebunden. Unter diesem Gesichtspunkt habe der Bundespräsident zunächst zu prüfen, ob insbesondere das Vorgehen des Bundeskanzlers verfassungsmäßig war, wobei er dessen weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu respektieren habe. Unabhängig davon habe "der Bundespräsident, nachdem er die Verfassungsmäßigkeit der vorangehenden Akte von Bundeskanzler und Bundestag bejaht hat, im Rahmen seines Ermessens die Lage selbständig und insoweit ohne Bindung an die Einschätzungen und Beurteilungen des Bundeskanzlers ... zu beurteilen ...." Nicht ausreichend für die Bejahung einer die Auflösung des Bundestages rechtfertigenden "politische[n] Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag" sei insbesondere der Umstand, "dass alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien oder ihre Fraktionen sich in dem Willen zu Neuwahlen einig sind", wenngleich dem eine gewisse Indizwirkung beigemessen werden könne.
Das Vorliegen einer solchen materiellen Auflösungslage - wie auch der in Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG ausdrücklich normierten Erfordernisse - kann vom Bundesverfassungsgericht im Wege des Organstreitverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG nachgeprüft werden, wobei das Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass "die verfassungsgerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten [bei Art. 68 GG] weiter zurückgenommen [sind] als in den Bereichen von Rechtsetzung und Normvollzug." So prüfte - und bejahte - es im Jahre 1983 auf eine Klage von Abgeordneten die Verfassungsmäßigkeit der von Bundespräsident Carstens verfügten Auflösung des Bundestages. Vorangegangen war der Sturz von Bundeskanzler Schmidt durch die Neuwahl von Bundeskanzler Kohl nach Art. 67 Abs. 1 Satz 1 GG und ein negativ beschiedener Antrag von Bundeskanzler Kohl, ihm das Vertrauen auszusprechen. Im Jahre 1972 hatte es bereits einen Fall der Auflösung nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG gegeben, nachdem eine Vertrauensfrage von Bundeskanzler Brandt gescheitert war.
Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG betrifft die Situation, dass im Falle der Wahl eines neuen Kanzlers - der nicht nur beim Zusammentritt eines neuen Bundestages, sondern auch bei einem Rücktritt des Kanzlers eintreten kann -, die Mehrheit der Mitlglieder des Bundestages nicht dem Wahlvorschlag des Bundespräsidenten gefolgt ist, innerhalb von 14 Tagen einen anderen Bundeskanzler nicht gewählt hat und in einem daraufhin stattfindenden Wahlgang der Gewählte nicht die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt hat. Dann "hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen" (Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG). Die Möglichkeit der Auflösung nach Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG besteht nach herrschender Meinung darüber hinaus auch dann, wenn im Falle von Stimmengleichheit oder Nichtannahme der Wahl ein erneuter Wahlgang scheitert oder jeglicher Wahlgang unterbleibt. Auch im Falle des Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG muss - ähnlich wie bei Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG - eine materielle Auflösungslage vorliegen, damit der Bundespräsident sich für die Variante "Auflösung" entscheiden kann.
Die in Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG für den Fall der Auflösung des Bundestages angeordnete Durchführung von Neuwahlen "innerhalb von sechzig Tagen" wirft Probleme im Hinblick auf die im Bundeswahlgesetz für die Wahlvorbereitung vorgesehenen Fristen (vgl. §§ 16 ff. BWahlG) auf; diese können bei einer Sechzig-Tage-Frist nicht eingehalten werden. Aus diesem Grunde ermächtigt § 52 Abs. 3 BWahlG das Bundesministerium des Innern dazu, "im Falle einer Auflösung des Deutschen Bundestages die in dem Bundeswahlgesetz und in der Bundeswahlordnung bestimmten Fristen und Termine durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates abzukürzen." Auf diese Weise könnten z.B. Fristen, wie sie bei der Neuwahl vom 6. März 1983 praktiziert wurden, festgesetzt werden.
Quellen:
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG "kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen", wenn "ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages" findet. Darüber hinaus enthält Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts jedoch noch ein ungeschriebenes sachliches Tatbestandsmerkmal: "Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine [d.h. des Bundeskanzlers] Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag." Alle drei am Verfahren nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG beteiligten Verfassungsorgane - Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident - seien an dieses materielle Erfordernis gebunden. Unter diesem Gesichtspunkt habe der Bundespräsident zunächst zu prüfen, ob insbesondere das Vorgehen des Bundeskanzlers verfassungsmäßig war, wobei er dessen weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu respektieren habe. Unabhängig davon habe "der Bundespräsident, nachdem er die Verfassungsmäßigkeit der vorangehenden Akte von Bundeskanzler und Bundestag bejaht hat, im Rahmen seines Ermessens die Lage selbständig und insoweit ohne Bindung an die Einschätzungen und Beurteilungen des Bundeskanzlers ... zu beurteilen ...." Nicht ausreichend für die Bejahung einer die Auflösung des Bundestages rechtfertigenden "politische[n] Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag" sei insbesondere der Umstand, "dass alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien oder ihre Fraktionen sich in dem Willen zu Neuwahlen einig sind", wenngleich dem eine gewisse Indizwirkung beigemessen werden könne.
Das Vorliegen einer solchen materiellen Auflösungslage - wie auch der in Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG ausdrücklich normierten Erfordernisse - kann vom Bundesverfassungsgericht im Wege des Organstreitverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG nachgeprüft werden, wobei das Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass "die verfassungsgerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten [bei Art. 68 GG] weiter zurückgenommen [sind] als in den Bereichen von Rechtsetzung und Normvollzug." So prüfte - und bejahte - es im Jahre 1983 auf eine Klage von Abgeordneten die Verfassungsmäßigkeit der von Bundespräsident Carstens verfügten Auflösung des Bundestages. Vorangegangen war der Sturz von Bundeskanzler Schmidt durch die Neuwahl von Bundeskanzler Kohl nach Art. 67 Abs. 1 Satz 1 GG und ein negativ beschiedener Antrag von Bundeskanzler Kohl, ihm das Vertrauen auszusprechen. Im Jahre 1972 hatte es bereits einen Fall der Auflösung nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG gegeben, nachdem eine Vertrauensfrage von Bundeskanzler Brandt gescheitert war.
Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG betrifft die Situation, dass im Falle der Wahl eines neuen Kanzlers - der nicht nur beim Zusammentritt eines neuen Bundestages, sondern auch bei einem Rücktritt des Kanzlers eintreten kann -, die Mehrheit der Mitlglieder des Bundestages nicht dem Wahlvorschlag des Bundespräsidenten gefolgt ist, innerhalb von 14 Tagen einen anderen Bundeskanzler nicht gewählt hat und in einem daraufhin stattfindenden Wahlgang der Gewählte nicht die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt hat. Dann "hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen" (Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG). Die Möglichkeit der Auflösung nach Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG besteht nach herrschender Meinung darüber hinaus auch dann, wenn im Falle von Stimmengleichheit oder Nichtannahme der Wahl ein erneuter Wahlgang scheitert oder jeglicher Wahlgang unterbleibt. Auch im Falle des Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG muss - ähnlich wie bei Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG - eine materielle Auflösungslage vorliegen, damit der Bundespräsident sich für die Variante "Auflösung" entscheiden kann.
Die in Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG für den Fall der Auflösung des Bundestages angeordnete Durchführung von Neuwahlen "innerhalb von sechzig Tagen" wirft Probleme im Hinblick auf die im Bundeswahlgesetz für die Wahlvorbereitung vorgesehenen Fristen (vgl. §§ 16 ff. BWahlG) auf; diese können bei einer Sechzig-Tage-Frist nicht eingehalten werden. Aus diesem Grunde ermächtigt § 52 Abs. 3 BWahlG das Bundesministerium des Innern dazu, "im Falle einer Auflösung des Deutschen Bundestages die in dem Bundeswahlgesetz und in der Bundeswahlordnung bestimmten Fristen und Termine durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates abzukürzen." Auf diese Weise könnten z.B. Fristen, wie sie bei der Neuwahl vom 6. März 1983 praktiziert wurden, festgesetzt werden.
Quellen:
- BVerfGE 62, 1 ff. (Bundestagsauflösung 1982).
- von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 2 (Art. 20 bis Art. 69), 4./5. Auflage, München 2001, Art. 39 (Versteyl), Art. 63 (Meyn), Art. 68 (Mager).
- Schindler, Peter, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, Gesamtausgabe in drei Bänden, Band I: Kapitel 1-6, Baden-Baden 1999, S. 61 ff. (Terminplan der Neuwahl vom 6. März 1983).
- Schreiber, Wolfang, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, Kommentar zum Bundeswahlgesetz, 7. Auflage, Köln u.a. 2002, § 52 Rn. 5 (zum Fristproblem bei Neuwahlen nach Auflösung).
Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/archiv/2005/w_dienst/