und "Lange Bank"
Begrüßungsrede
des Präsidenten des Deutschen Bundestages,
Wolfgang Thierse,
aus Anlass der Präsentation des
"Grünen Tisches" und der "Langen Bank"
am 5. Mai 2003
im Reichstagsgebäude
- Es gilt das gesprochene Wort -
Sehr geehrter Herr Schaidinger (Oberbürgermeister v.
Regensburg)
verehrte Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren,
beim Thema Reichstag ausgerechnet ans bayerische Regensburg zu denken, das fällt einem Berliner nicht gerade leicht. Denn der Reichstag, das weiß man doch, gehört zu Berlin, zu Preußen. Und das Reichstagsgebäude als Sitz des Deutschen Bundestages ist inzwischen Wahrzeichen dieser Republik. Doch wir Preußen sollten bescheiden bleiben. Ein kurzer Blick in die Geschichte relativiert jeden Anflug von Übermut.
Zu festen Institutionen entwickelten sich Reichstage bereits vor über 500 Jahren - im Zuge der Reichsreform, die darauf zielte, die Funktionsfähigkeit des Heiligen Römischen Reiches wiederherzustellen und entsprechende Behörden zu schaffen. Ende des 15. Jahrhunderts wurde das Reichskammergericht eingerichtet, eine allgemeine Reichssteuer erhoben, das Reich in Reichskreise eingeteilt, ein Reichsregiment begründet usw. Zwar scheiterten viele der frühen Reformen, aber sie schufen dennoch den Rahmen für die Regierbarkeit des Reiches bis 1806.
Der Immerwährende Reichstag in Regensburg prägte fast anderthalb Jahrhunderte (1663-1806) die Geschicke des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation". Dieser Reichstag war ein permanent tagender Kongress von Gesandten der Reichsstände: der Kurfürsten, Fürsten und Reichsstädte, die - wiederum getrennt nach Konfessionen und Ständen - über die Angelegenheiten des Reiches zu befinden hatten. Den nominellen Vorsitz führte der Kaiser, der an die Beschlüsse des Reichstags gebunden war.
Auch wenn der Immerwährende Reichstag aufgrund seiner ständischen Zerrissenheit nur begrenzt handlungsfähig war, hat er Geschichte geschrieben - und zwar europäische Geschichte. 1803 fällte er einen seiner letzten, doch folgenreichsten Beschlüsse - den Beschluss über die territoriale Reform des Deutschen Reiches. Dieser berühmte "Reichsdeputationshauptschluss" besiegelte das Ende des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation". Und er wirkt nach bis in die Gegenwart: Die damals festgelegten Grenzen prägen auch heute noch die Landkarte unseres Kontinents.
Das Jahr 1803 markiert im politischen Kalender Europas eine entscheidende Wende - die Wende vom feudalen zum bürgerlichen Zeitalter. Die Entscheidungen von 1803 haben den Weg geebnet zur Ablösung feudaler Strukturen und zur schrittweisen Ausbildung bürgerlich-parlamentarischer Systeme in der Mitte Europas.
Regensburg ist sich der historischen Bedeutung dieses Datums sehr wohl bewusst, schließlich stand die Stadt damals im Zentrum europäischer Politik. Heute daran zu erinnern - selbstbewusst und auch ein wenig stolz - ist eine begrüßenswerte Unternehmung. Sie stärkt den Bürgersinn und befördert die politische Bildung. Es gibt 2003 in Regensburg eine ganze Reihe von Veranstaltungen, die sich mit den Ereignissen vor 200 Jahren befassen. Höhepunkt ist im Juli 2003 die Neueröffnung des Reichstagsmuseums im Alten Rathaus der Stadt, dem authentischen Ort des Immerwährenden Reichstages.
Herr Oberbürgermeister Schaidinger, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie im Jubiläumsjahr auch eine symbolische Brücke nach Berlin schlagen, eine Brücke vom Immerwährenden Reichstag ins Zentrum der deutschen parlamentarischen Demokratie.
Die Reichstage in Regensburg und Berlin symbolisieren bedeutende Stationen der deutschen Parlamentsgeschichte. Diese Geschichte ist sehr viel älter als man gemeinhin denkt, sie reicht weiter zurück als nach Weimar oder Bonn. Bereits der Immerwährende Reichstag als deutsches Ständeparlament war ein bedeutsamer Schritt auf dem langen Weg in unsere Demokratie, aber auch ein wesentlicher Schritt auf dem Weg nach Europa. Und daran zu erinnern, ist das Anliegen dieser kleinen, aber wichtigen Ausstellung.
Oberbürgermeister Schaidinger hat zwei stumme, aber doch metapherngeladene Zeugnisse aus dem Immerwährenden Reichstag mitgebracht - die "Lange Bank" und den "Grünen Tisch". Auf den ersten Blick zwei Möbel, die für eine bestimmte Tradition parlamentarischer Arbeit stehen.
Die Assoziationen, die mit dem Regensburger Mobiliar verknüpft werden, kennt jeder: Etwas auf die lange Bank schieben (im Sinne von verzögern, von endlos vertrödeln) und politische Entscheidungen am grünen Tisch fällen (also möglichst weit weg vom wirklichen Leben) - das sind Bilder, die bis heute als Sprichwörter gang und gäbe sind. Also: nicht nur die Regensburger Möbel, auch die Regensburger Sprüche haben den Immerwährenden Reichstag um zweihundert Jahre überlebt.
Und wenn ich die "Lange Bank" hier stehen sehe, dann will ich auch die mit ihr verknüpfte Metapher aufgreifen. Schließlich steht sie ebenfalls im Raum als allzu häufig strapazierter Vorwurf, auch im Deutschen Bundestag würden notwendige Entscheidungen immer wieder "auf die lange Bank geschoben". Man denke nur an die politischen Auseinandersetzungen in Sachen Steuerreform, Rentenreform, Gesundheitsreform. Und es gibt sie ja tatsächlich, diese Diskrepanz zwischen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer Prozesse und Entscheidungen einerseits und der Langsamkeit und Mühseligkeit demokratischer Prozesse und institutioneller Entscheidungen andererseits. Doch die Langsamkeit demokratischer Politik ist schlicht alternativlos: Je schneller Politik ist, um so weniger können einbezogen werden, um so weniger föderal, um so weniger partizipativ, um so weniger demokratisch ist sie. Schnell kann Politik nur dort sein, wo sie - und hier bleibe ich im Bild - am "grünen Tisch" entschieden wird, ohne langwierige Anhörungs- und Beteiligungsverfahren. Ohne Einbeziehung, ohne Mitspracherecht jener, die von den Entscheidungen betroffen sind.
Der Begriff der "Bank" hat in der parlamentarischen Sprache noch eine zweite Bedeutung: Im übertragenen Sinne ist die "Bank" das wichtigste parlamentarische Möbel schlechthin. Wer auf der Regierungsbank sitzt, hat den Parlamentariern gegenüber Rechenschaftspflicht. Und wenn es dann ordentlich zur Sache geht, hilft es keinem Kabinettsmitglied, dass es auf einem gepolsterten Stuhl sitzt, entworfen von einem berühmten Designer. In Aktuellen Stunden können auch gepolsterte Stühle manchmal ganz schön harte Bänke sein. Trotzdem sitzt man da nach aller Erfahrung doch lieber als auf den Oppositionsbänken.
Auf eine gesunde und den Denkprozess befördernde Sitzhaltung müssen im übrigen selbst jene Abgeordnete nicht verzichten, die von der Presse etwas unfreundlich als "Hinterbänkler" bezeichnet werden. Wenn es allerdings im Plenum nicht an allen Plätzen einen Tisch gibt - weder einen "Grünen Tisch" noch einen Designertisch und schon gar keinen Campingtisch - dann hat das handfeste bauliche Gründe. Die Fläche im Plenum ist begrenzt. Da geht es nicht um irgendeine Form der Zurücksetzung.
Sie sehen, das Regensburger Mobiliar regt zu allerlei Überlegungen an. Und es erinnert daran, dass wir im Präsidium dieses Hohen Hauses mitunter auch über Möbel diskutieren. Ob allerdings das Mobiliar des Deutschen Bundestages geeignet ist, ebenso populäre und langlebige Sinnsprüche für die Alltagssprache zu stiften, wie einst die "Lange Bank" und der "Grüne Tisch", das muss die Geschichte erst noch zeigen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Herr Schaidinger, Sie haben das Wort.