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Debatte
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Wortlaut der Reden, die zu Protokoll gegeben wurden

Norbert Gansel, SPD Hans H. Gattermann, FDP >>

Mehr als 40 Jahre lang ist Berlin versprochen worden, die Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland zu werden. Ich habe dieses Versprechen nie abgegeben. Ich habe es nicht abgegeben, weil ich es nicht für einlösbar hielt. Und ich habe es als Heuchelei empfunden, wenn so oft von so vielen Berlin als zukünftige Hauptstadt Deutschlands beschworen wurde, die doch die Hoffnung auf einen deutschen Gesamtstaat aufgegeben hatten. Bonn ist voll von Baudenkmälern für diese Haltung. Ich gehöre zu der Generation, die in der Bundesrepublik mit dem Widerspruch aufgewachsen ist, daß mit westdeutscher Realpolitik Fakten geschaffen und mit gesamtdeutschen Sonntagsreden Illusionen in den Grenzen von 1937 genährt wurden.

1990 hat Deutschland zur Einheit gefunden in den Grenzen von 1990. Das ist für mich keine Wieder-Vereinigung. Und es ist für mich auch keine Folge unseres unbeirrbaren Glaubens und unserer planmäßigen Politik. Daß zusammenwachsen kann, was zusammengehört, ist die Chance einer glücklichen politischen Konstellation, die wir dem Sieg der Freiheit im Osten und dem Vertrauen im Westen zu verdanken haben, die wir genutzt haben und die wir weiter nutzen müssen. Die deutsche Einheit ist ein Geschenk. Ein Geschenk zu nutzen, um ein Versprechen einzuhalten, auch wenn es andere gegeben haben, ist aber auch eine glückliche Chance.

Der Antrag, den ich mit unterschrieben habe und der Berlin als Sitz des Deutschen Bundestages bestimmen will, der den Kernbereich der Regierungsfunktionen nach Berlin verlegen und zwischen Berlin und Bonn eine faire Arbeitsteilung vereinbaren will, trägt die Überschrift »Vollendung der Einheit Deutschlands«.

Vollendung? Ich liebe diesen Begriff nicht. Alle großen politischen Aufgaben sind dauernde Aufgaben, und die Einheit wird eine dauernde Aufgabe bleiben. Weil sie so lange dauern wird, weil wir nach der völker- und staatsrechtlichen Einheit aber auf dem Weg zur wirtschaftlichen und sozialen und -- ich zögere nicht, es so zu nennen -- zur seelischen Einheit der Deutschen vorankommen müssen, müssen wir den nächsten großen Schritt wagen und nach Berlin gehen. Zur Wirtschafts- und Sozialpolitik ist einiges gesagt worden und auch dazu, daß wir aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen -- und wohl auch aus moralischen -- Bonn und den Bonnern gegenüber in der Pflicht bleiben.

Entscheidend ist es, daß eine Verlegung des Bundestages und der Regierungsfunktionen nach Berlin unserer Verpflichtung gegenüber den 17 Millionen Deutschen entsprechen würde, denen wir keinen Anschluß, sondern eine Vereinigung versprochen haben. Daß wir uns wirklich als ein Volk fühlen werden, wird nicht nur von Wirtschafts- und Sozialpolitik abhängen, sondern vor allen Dingen davon, wie wir eine gemeinsame politische Kultur und Identität entwickeln, wie wir unser Zusammengehörigkeitsgefühl stärken. Es ist nun einmal so, daß die übergroße Mehrheit der Menschen im Osten Deutschlands unseren Schritt nach Berlin mit dem Gefühl verbinden würden, daß wir ihnen nicht nur Hilfe »gewähren«, sondern daß wir ihnen entgegenkommen, wir, das Parlament als Vertreter des ganzen deutschen Volkes.

Und die Kosten? Jede Hauptstadt wird teuer. Am teuersten werden aber falsche Entscheidungen, die in der Hauptstadt getroffen werden. Ich will nicht behaupten, daß Berlin die Gewähr dafür bietet, eine richtige Politik zu machen. Aber daß wir auf die deutschen Realitäten, auf die west- und auf die ostdeutsche Wirklichkeit in Berlin mehr gestoßen werden als in Bonn, wer wollte das bestreiten?

Wolfgang Schäuble hat in seiner respektablen Rede gesagt: Berlin, das ist die Entscheidung für die Zukunft Deutschlands: Mir ist wichtiger, daß Berlin die Entscheidung für die deutsche Gegenwart ist.

Die Probleme Westdeutschlands sind in West-Berlin zugespitzt -- so wie die Probleme Ostdeutschlands in Ost-Berlin.

Aber das Wichtigste: Nur in ganz Berlin sind wir mit der anhaltenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Widersprüchlichkeit und Ungleichheit des sich einigenden Deutschland täglich konfrontiert, und zwar in zugespitzter Form. Wir Parlamentarier brauchen diese Zuspitzung. Wer von uns hat nicht die dicke Haut, die uns im Laufe der Zeit wächst.

Berlin wird nie die Behaglichkeit und die Bequemlichkeit für uns haben, die Bonn uns bietet und manchmal auch aufzwingt. Die Floskel von den »Menschen draußen im Lande« wird in Berlin keiner mehr gebrauchen können. Berlin ist die unbequeme Alternative und für den Bundestag wie für die Regierung deshalb die richtige.

Das gemütliche Bonn und die angsteinflößende Metropole Berlin? Dieses Parlament und diese Regierung müssen sich auch den Herausforderungen der Metropolen stellen. Eine Flucht in die Idylle darf es nicht geben, und wo wir uns in der Idylle schon sicher fühlen, müssen wir uns herauswagen.

Die ehrwürdige Stadt Bonn hat eine lange Geschichte. Ihre historische Bedeutung für Deutschland liegt -- so oder so -- in der relativ kurzen Geschichte seit 1949. Eigentlich eine ziemlich glückliche Geschichte -- für uns Westdeutsche.

Kann Berlin bei seiner Geschichte, vor allen Dingen bei jener Geschichte von 1933 bis 1945, noch einmal Hauptstadt werden, Hauptstadt, die doch auch symbolische Bedeutung hat? Ich bin überzeugt, daß wir diese Geschichte -- auch wenn sie nur zwölf Jahre dauerte und viel kürzer als die nach 1945 war -- nie verdrängen dürfen. Deutsche Politik -- die Innen- wie die Außenpolitik -- braucht auch in Zukunft Elemente der Selbstbeobachtung und der Selbstkontrolle. Und sie braucht deshalb das ständige Element der Erinnerung. In Bonn wird allzu leicht vergessen. In Berlin wiegt die Erinnerung schwerer, wir werden täglich auf sie gestoßen werden und uns an ihr stoßen.

Ich bin nicht für Berlin wegen der Geschichte, aber daß Berlin wegen seiner Geschichte, die uns ja übrigens nicht erst seit heute bekannt ist, als Hauptstadt weniger als Bonn in Frage kommt, scheint mir doch ein Beweis eines Verdrängungsmechanismus zu sein. Der preußische Militarismus war ja nicht auf Preußen, noch nicht einmal auf das preußische Militär beschränkt.

Und der Nationalsozialismus wurde ja nicht in Berlin gezeugt. Wer hätte München je die Qualifikation als Landeshauptstadt abgesprochen? Nein, für die deutsche Geschichte gibt es keine Sippenhaft, weil es unsere gemeinsame deutsche Geschichte ist. Es gibt keine Stadthaftung, wohl eine Staatshaftung. --

Mit unserer Vergangenheit haften wir für die Zukunft: Fast auf den Tag genau 50 Jahre nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion, da sich endlich die Perspektive der Überwindung der Vergangenheit aufzeigt, kann es nicht schaden, auch bei dieser Debatte daran zu erinnern.

Peter Glotz hat heute morgen gesagt: Bonn, das ist das Symbol für den Neubeginn nach 1945. Es war das Symbol für den Neubeginn. Nach 1945 für uns Westdeutsche, die wir nicht die besseren oder die tüchtigeren Deutschen, sondern die glücklicheren waren. Nun steht Bonn schon für das Alte. Für uns Deutsche, für Westdeutsche und Ostdeutsche muß Berlin das Symbol für einen neuen gemeinsamen Anfang 1991 sein. Das gilt für unsere Innenpolitik, und das gilt für unsere Außenpolitik.

Ich gebe zu, daß ich vor einem Jahr noch der Hauptstadt Bonn zugeneigt habe. Ich habe die innenpolitische Aufgabe größer eingeschätzt als viele von uns, aber nicht groß genug. Ich habe geglaubt, wir könnten sie von Bonn aus lösen. Ich glaube es nicht mehr.

Ich habe in der Außenpolitik die Gefahr für groß gehalten, daß eine Entscheidung für die Hauptstadt Berlin bei unseren Nachbarn und Verbündeten, bei unseren einstigen Feinden und Angstgegnern alte Ängste erneuern und die Chance der Vereinigung hätte mindern können. Stand Berlin nicht für alte Großmachtansprüche oder auch für eine Umorientierung des unsicheren deutschen Kantonisten nach Osten? Ist Bonn nicht auch das Symbol unserer europäischen Bestimmung und atlantischen Bindung?

Ich bin überzeugt, daß wir diese Bestimmungen und Bindungen erhalten müssen und daß wir sie einbringen müssen in die deutsche, europäische und atlantische Öffnung nach Osten. Berlin muß auch dafür ein Symbol werden. Eine multikulturelle europäische Stadt ist Berlin schon heute. In keiner deutschen Großstadt ist das nordamerikanische Element so stark wie in Berlin. Und keine deutsche Stadt ist so offen nach Osten wie Berlin.

Daß wir Deutsche uns diese Entscheidung über die Hauptstadt auch aus den Blickwinkeln unserer Nachbarn dennoch schwermachen, schadet uns nicht. Daß aber im Ausland, in Ost und West, eine Entscheidung für Berlin als eine gewissermaßen natürliche Entscheidung akzeptiert wird, das kann uns doch in der Entscheidung freier machen, auch wenn es uns verpflichtet.

Bonn oder Berlin? -- Das kann nicht anhand von Parteiprogrammen oder Parteitagsbeschlüssen entschieden werden. Das kann nicht sozialdemokratisch und nicht christdemokratisch entschieden werden. Es kann nur demokratisch entschieden werden: durch Abstimmung. Wir Sozialdemokraten hätten es vorgezogen, wenn das Volk hätte abstimmen können. Die Mehrheit des Bundestages hat eine solche Volksabstimmung abgelehnt. Nun sind wir verurteilt, selbst zu entscheiden. Für Kompromisse ist wenig Raum. Für Vertagung ist keine Zeit. Hoffen wir, wie immer die Entscheidung ausfallen wird, daß sie vor unserem Volk und vor unseren Nachbarn und vor der Geschichte Bestand haben wird.

Hans H. Gattermann, FDP >>
Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_126
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