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Dezember 7/2003
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Friedhelm Hengsbach
Friedhelm Hengsbach.

Nur im Zweifel gerecht

von Friedhelm Hengsbach

Ist es zulässig oder angemessen, die Kanzler-Agenda dem Anspruch der sozialen Gerechtigkeit zu unterstellen, nachdem die kurze Geschichte des politischen Reformaufbruchs mehr von Machtspielen als von normativen Erwägungen bestimmt war? In weltanschaulich pluralen Gesellschaften lassen sich Fragen der Gerechtigkeit offensichtlich nicht mehr einheitlich beantworten. Individuelles Handeln werde heutzutage nur noch über das Marktsystem formal gesteuert, das sich evolutionär herausgebildet hat, meint der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich von Hayek.

Wenn schon das Marktsystem in die staatliche Garantie des Privateigentums und der Vertragsfreiheit eingebettet ist, untersteht umso mehr das politische System dem ethischen Bewusstsein der Gesellschaft. Lässt sich der Agenda-Prozess an dem Leitbild der Verfahrensgerechtigkeit messen, die eine inhaltliche Richtigkeitsgewähr verbürgt? Mir sind einige Mängel des Verfahrens aufgefallen: dass in erster Linie Arbeitslose, Empfänger von Sozialleistungen oder Patienten für die Wachstums- und Beschäftigungskrise oder für die Steuerungsdefizite des Gesundheitssystems verantwortlich gemacht wurden, weil sie nicht arbeitsfähig beziehungsweise arbeitswillig seien oder das soziale Netz missbrauchten. Das Parlament stand im Schatten der öffentlichen Ruck-Propaganda und ökonomischer Interessen, die sich in so genannten Bürgerkonventen bündeln. Die Tempovorgabe der Exekutive und der Verdrängungswettbewerb der Parteien, die mit jeweils schärferen sozialen Einschnitten einander überboten, verloren die Lebenslagen und Sichtweisen der betroffenen Opfer aus dem Blick.

Kanzler-Agenda und Oppositionskritik waren flankiert vom politischen Diskurs um einen neuen, erweiterten Gerechtigkeitsbegriff. Die Verteilungsgerechtigkeit, die sich angeblich auf die Umverteilung materieller Güter beschränkt, stand im Kreuzfeuer der Kritik. Chancengerechtigkeit insbesondere beim Zugang zu Bildungsgütern sollte an deren Stelle treten. Gerechtigkeit sei in erster Linie von der Freiheit der Individuen her zu definieren. Der Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit gebiete größere Differenzen, die unterschiedlichen Verdiensten entsprächen.

In der Absicht, politische Maßnahmen auch normativ zu rechtfertigen, wird deutlich, dass der Grundsatz der Gerechtigkeit kontextbezogen und an die Deutung einer Situation, die das kollektive ethische Bewusstsein herausfordert, gekoppelt ist. Allerdings finde ich die herrschenden Deutungsmuster, die in den Megatrends der Globalisierung, des demografischen Wandels und der technischen Revolution die Ursachen der Wachstumsschwäche, der Massenarbeitslosigkeit und der Erosion der Sozialsysteme sehen, nicht überzeugend und die beschworene Reaktion der bloßen Anpassung nicht zwingend.

Gleiches Recht auf politische Beteiligung und als deren materielle Voraussetzung die Sicherung vergleichbarer Lebenslagen sind für mich die normative Antwort sozialer Gerechtigkeit, die den gravierenden Konflikt zwischen dem strukturellen Machtgefälle, das kapitalistische Marktwirtschaften erzeugen, und dem Bekenntnis der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften gewaltfrei regelt. Der Hauptschlüssel dazu liegt in der Beteiligung an der Erwerbsarbeit. Aber die Erwerbsarbeit ist nicht die einzige gesellschaftlich nützliche Arbeit, die es zwischen Männern und Frauen fair zu verteilen gilt. Neue Märkte für Arbeiten am Menschen in den Sphären der Bildung, Gesundheit, Kultur und Umwelt könnten öffentlich und privat erschlossen werden. Die finanzielle Basis solidarischer Sicherungssysteme ist nicht einzuschnüren, sondern auf alle in der Gesellschaft entstehenden Einkommen und Vermögen auszuweiten. Der Streit um Gleichheit oder Ungleichheit demokratischer Gesellschaften löst sich auf in das Einverständnis einer unteren und oberen Grenze der Ungleichheit.

Dass die Kanzler-Agenda in diese Richtung geht, bezweifle ich. Denn ich sehe in ihr einen Schritt, gesellschaftliche Risiken teilweise zu individualisieren, deren Absicherung zu privatisieren und die Steuerungsform der Solidarität durch die Marktsteuerung abzulösen.



Friedhelm Hengsbach, geboren 1937, ist Mitglied des Jesuitenordens und Professor für Christliche Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Hier leitet er das Oswald von Nell-Breuning Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik. Zuletzt veröffentlichte er „Die andern im Blick. Christliche Gesellschaftsethik in den Zeiten der Globalisierung“ (Darmstadt 2001).

www.st-georgen.uni-frankfurt.de/nbi

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2003/bp0307/0307003
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