Die politischen Parteien Ungarns haben im Herbst 2004 feierlich ihre Absicht verkündet, die uneingeschränkte Zugänglichkeit der Spitzel-Akten gesetzlich zu regeln, um Licht in die vertuschte Angelegenheit um den Staatssicherheitsdienst des früheren Regimes zu bringen. Die Öffentlichkeit und insbesondere die Wissenschaftler rätselten zwar über den wahren Inhalt der in Aussicht gestellten "transparenten Aufarbeitung" und "ungehinderten Veröffentlichung der Forschungsergebnisse", nahmen jedoch die Nachricht mit Genugtuung auf. Die Initiative der führenden sozialliberalen Koalition machte Furore.
Die Tatsache, dass das groß angekündigte Vorhaben ein Jahr vor den nächsten Wahlen in Angriff genommen wird und somit den Wahlkampf womöglich gar nicht beeinflussen wird, hat trotz den gängigen politischen Spielregeln keine leidenschaftliche Polemik ausgelöst. Allen Anzeichen nach haben die Bürgerinnen und Bürger des Landes eine abwartende Haltung eingenommen. Doch die Scheinruhe hat sich als trügerisch erwiesen.
Am 27. Februar 2005 veröffentlichte das Forschungsinstitut "Political Capital" im Internet eine Liste der früheren Agenten des ehemaligen ungarischen Staatssicherheitsdienstes. Bereits am ersten Tag besuchten rund 200.000 Interessierte die Website. Das Verzeichnis enthielt 19 bereits bekannten Namen von IMs. Einige Tage später erschien auf der Webseite von Lycos eine andere Liste (von unbekannten Autoren) mit mehr als 200 Spitzel-Namen, die mehrheitlich bis dahin nicht bekannt waren. Bezeichnend für diese vermeintlichen Agenten war, dass fast alle von ihnen nach 1990 eine bedeutende Rolle im politischen und gesellschaftlichen Leben sowie in den Medien des Landes spielten. Die Gliederung der mit Schreibmaschine getippten Namen war diesmal transparent: Mitglieder der 1987 - 1989 gegründeten politischen Parteien sowie von Kirchenvorständen. Angeblich handelte es sich um jene "Agentenliste", die der letzte kommunistische Regierungschef, Miklós Németh, dem ersten demokratisch gewählten Premier, József Antall, überreicht haben sollte. Auf Fragen der Journalisten antwortete Németh mit einem merkwürdigen "ich kann mich nicht mehr daran erinnern", während der Sohn des verstorbenen Antall mit einer bejahenden Version herausrückte: "Ja, seinerseits hat mir mein Vater eine ähnlich aussehende Liste gezeigt." Wieso dieses Staatsgeheimnis zum Familiengut wurde, wirft weitere Fragen auf.
Damals sollten angeblich alle politischen Parteien im Besitz ähnlicher Listen gewesen sein.
1997 wurde zum Zwecke der Verwaltung der Akten das so genannte Historische Amt gegründet, das jedoch ursprünglich nur über den Nachlass der Abteilung III./III. ("Kampf gegen die innere Reaktion") verfügte, während die Materialien der zivilen und militärischen Geheimdienste bei deren Nachfolgeorganisationen verblieben, welche die junge Demokratie übernahm. In die geschwärzten Akten des Historischen Amtes konnten Bürger Einsicht beantragen, die "reinen" Dokumente erhielten aber nur Wissenschaftler, wobei nicht ganz klar war, was sie davon veröffentlichen durften. Außerdem gab es offensichtlich verbotenerweise Privatarchive, deren Akten von Zeit zu Zeit gegen den jeweiligen politischen Feind eingesetzt wurden.
Kurz nach den Wahlen 2002 entlarvte eine Zeitung Ministerpräsidenten Medgyessy als ehemaligen, in der Finanzverwaltung des Landes tätigen Geheimoffizier "Nr. D-209". Als "Gegenschlag" gaben die Aktenkenner bekannt, dass der Vater des leidenschaftlichen antikommunistischen Oppositionspolitikers Pokorny ebenfalls Informant des Staatssicherheitsdienstes war. Erst jetzt reifte der Entschluss, die Geheimakten in einem "Archiv der ehemaligen Staatssicherheitsdienste" zu vereinigen, in das schließlich auch Dokumente der ehemaligen Auslandsdienste und die "vergessenen" operativen Akten der 80er-Jahre einbezogen wurden. Über diese heikle Übergabe-Aktion sollte eine dreiköpfige Historikerkommission entscheiden.
Die Aufarbeitung der ungarischen jüngeren Vergangenheit litt und leidet unter großen finanziellen und fachlichen Mängeln. Wichtiger aber war, dass die Zielsetzungen und der gesetzliche Rahmen dieser Tätigkeit nicht eindeutig definiert worden sind.
Die Schockwirkung nach der Veröffentlichung der Agenten-Listen ließ nicht lange auf sich warten. Es folgten einige öffentliche Geständnisse sowie heftige Proteste. Viele zogen die Echtheit der Dokumente teilweise oder ganz in Zweifel. In der Tat zeigen diese kein einheitliches Bild. Einige Namen konnten in der Zeit der angeblichen Entstehung nicht mehr auf der Liste stehen, da ihre Träger zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben oder damals schlicht zu alt waren. Gleichzeitig fehlten Namen, bei denen in der Zwischenzeit einigermaßen plausibel ein Kontakt zur Staatssicherheit nachgewiesen werden konnte. Der Hauptfehler des Konvoluts bestand aber darin, dass es keine Berichte oder Erklärungen zur Zusammenarbeit lieferte. Seriöser und bisher von niemandem angezweifelt ist dem gegenüber eine parallel publizierte Aufzeichnung der Führungsoffiziere in der Wochenzeitschrift HVG.
Die Produzenten dieser Listen setzten mit einer enormen Geschwindigkeit ihre Arbeit fort, was auch prinzipielle Einwände nach sich zog. Anfang März ließ der Ombudsmann für Datenschutz, Attila Péterfalvi, eine aus 1.000 Namen bestehende Liste, welche das Team von "Political Capital" bei ihm zur Genehmigung einreichte, öffentlich einstampfen - eine Geste, die angesichts der zahllos kursierenden Kopien eher von symbolischer Bedeutung war. Dafür sorgte die Angelegenheit für politische Kollisionen. So griff die populäre Fernsehjournalistin Katalin Szegvári in der Tageszeitung "Népszabadság" in einem offenen Brief den Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány an. Sie spielte wenig geschmackvoll auf die kommunistische Verwandtschaft von Gyurcsány an und behauptete, seinerzeit nach ihren Westreisen in den Berichten "nur Nebensächlichkeiten"" zu Papier gebracht und damit niemandem geschadet zu haben. Wer und wann aber diese Berichte bestellt hatte und was sie doch beinhalteten, in welcher Form sie überreicht wurden, darüber schwieg sie taktvoll. Viele rechtfertigen sich mit der Behauptung, dass man als Reisekader regelmäßig in Kontakt mit den Sicherheitsorganen stehen musste.
Die bisherigen Bekenntnisse und Reaktionen sind ohnehin weit von den wirklichen Relationen entfernt. Der Historiker László Varga hat 1995 die letzten Protokolle des Innenministeriums gründlich ausgewertet und in einer Studie veröffentlicht. Das darin gezeichnete Bild ist erschreckend: Selbst in den letzten Stunden des Regimes 1989 waren in dem operativen Register 164.900 Namen von zu observierenden Personen erfasst. Direkt beobachtet wurden von ihnen die Vertreter der neuen und als legal geltenden Organisationen, auf die an die 8.000 Spitzel angesetzt waren. Darüber hinaus behauptet Varga, dass 95 Prozent der damaligen Informanten keinerlei Druck oder Nötigung ausgesetzt und 22,5 Prozent von ihnen Mitglied der Staatspartei waren. Damit wird unter anderem eine alte Legende Lügen gestraft, der entsprechend die "Firma" (im ungarischen Jargon: "das Netzwerk") kein Recht hatte, einen Genossen anzuwerben. Geradezu grotesk mutet an, dass der ungarische Staatsicherheitsdienst im Juni 1989 über 812 Treff- und 248 konspirative Wohnungen verfügte. (Bei der ersten Kategorie handelt es sich um Wohnungen mit Hauptmieter als Mitwisser, bei der zweiten um Eigentumswohnungen der "Firma".)
Wir haben es also mit einer Vernetzung zu tun, die nicht zuletzt die großen Kirchen betraf. Der Anteil der IMs in der katholischen und in den reformierten Kirchen wird von manchen Forschern auf 20 Prozent geschätzt. In einer Delegation zu einer katholischen Weltkonferenz waren beispielsweise neun von 16 Mitgliedern zur Berichterstattung bei der Staatssicherheit verpflichtet. Manche ehemalige Kirchenspitzel sind heute hohe Würdenträger und legten während des letzten Wahlkampfes eine ebenso eifrige Loyalität zugunsten der rechten Parteien an den Tag, wie früher gegenüber der KP.
Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány bezeichnete die Verbreitung der suspekten Listen als "schändlich" und "niederträchtig". Er forderte, in die Zukunft statt in die Vergangenheit zu schauen, denn das Land brauche eine neue Politik, ein erneuertes Ungarn. Diese schöne Phrase lässt auf einen vorsichtigen Rückzieher schließen, als hätte er das Licht lieber wieder in eine Dunkelkammer verbannt. Die neue Version in Hinblick auf das neue Gesetz lautet ungefähr so: Zugänglich gemacht und veröffentlicht können nur diejenigen Akten werden, die bereits dem Archiv übergeben wurden und gegen die im Auftrag der jetzigen Staatsischerheitsbehörde das Oberste Gericht kein Verbotsverfahren einleitet.
Der Widerstand der eigenen Parteibasis - teilweise Funktionäre der älteren Generation, Intellektuelle der Ära Kádár und nicht zuletzt Leute des jetzigen Geheimdienstes - erwies sich also als überraschend massiv. Die Versäumnisse von vier Nachwende-Regierungen lassen sich nicht in einem Willensakt gutmachen.
Die quasi verbotenen Webseiten erfreuen sich großen Interesses, das, bösen Zungen zufolge, dasjenige für Pornografie übertrifft. Um die aufgeregten Fragen zu beantworten, hatte die Tageszeitung "Népszabadság" am 13. März eine Expertenrunde einberufen, die aus dem Leiter des "Political Capital", Zoltán Somogyi, und dessen Haushistoriker, Krisztián Ungváry, bestand. Die beiden Herren saßen stundenlang an den Computern und Telefonapparaten der Redaktion und versuchten, dem erregten Publikum verständliche Antworten zu geben.
Gefragt sind Historiker - unabhängig von dem bisher unklaren Ausgang der Affäre. Sie müssen die mysteriösen Listen in mühseliger Kleinarbeit akribisch mit den vorhandenen Dokumenten vergleichen. Und schließlich sollten sie dazu beitragen, dass an die Stelle von Emotionen und Skandalisierungen die Vernunft tritt. Besonnenheit würde die Wartezeit auf das versprochene Gesetz etwas angenehmer gestalten.