In einem Kommentar zum aktuellen deutsch-polnischen Verhältnis unlängst in der "Süddeutschen Zeitung" schrieb deren Osteuropa-Korrespondent Thomas Urban unter anderem: "Nur in einem Punkt steht die ganze Nation zusammen: wenn die Rede auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete kommt, auf die Vertreibung und Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung nach dem Krieg." Diese Aussage wird bestätigt durch die Reaktionen in Polen auf das Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen und die Aktivitäten einer so genannten Preußischen Treuhand. Für Urban waren wechselseitige Missverständnisse und verbreitete Unkenntnis ein Anlass, grundsätzlich eine fundierte Übersicht über Vertreibungen von Polen und von Deutschen im 20. Jahrhundert zu erarbeiten, die auch in polnischer Sprache erscheinen wird.
Das Buch orientiert sich an Fakten, ohne aufzurechnen; es stellt bei unterschiedlichen Sichtweisen deutsche und polnische Positionen gegenüber: So schlägt Urban statt des immer noch umstrittenen Begriffes "Vertreibung" die Formulierung "Verlust der Heimat" vor, die sich auch im Titel des Buches wiederfindet. Ganz entscheidend und für die politische Information unentbehrlich ist die in der Darstellung begründete Aussage, dass die Vertreibungen der Deutschen 1945/46 bis in die Ära Bismarcks ihre Vorläufer hatten, die "in Polen im kollektiven Gedächtnis sehr präsent, den Deutschen aber kaum bekannt sind".
Nicht nur in Vertriebenenkreisen wird bis heute in Deutschland nicht nach Ursachen gefragt, warum am Ende des Zweiten Weltkrieges mehr als zwölf Millionen Deutsche ihre Heimat verloren haben. Dass die Ursache in der Entfesselung des Krieges durch Hitler liegt, wird verdrängt. Erst ganz allmählich beginnt sich das zu ändern, auch ein Ergebnis der kontroversen Diskussionen um das Zentrum gegen Vertreibungen.
Das Buch hat insgesamt elf Kapitel; es beginnt mit der Bismarckschen Polenpolitik, dann folgen Versailles und die Zeit zwischen den Weltkriegen. Für die Jahre 1939 listet Urban über 20 größere Bevölkerungsverschiebungen innerhalb Polens in den Vor- und Nachkriegsgrenzen auf - eine unglaubliche Bilanz.
Zentralen Raum nimmt die NS-Besatzung ein mit unvorstellbaren Grausamkeiten an der polnischen Bevölkerung. Hier werden der ganze Hass und eine gewaltige Wut auf jeden Deutschen nachvollziehbar und verständlich, die sich dann bei den Vertreibungen gegen die Deutschen richteten. Der Leser muss sich der Tatsache stellen, dass unzählige deutsche Soldaten und Polizisten an diesen Verbrechen mitgewirkt haben.
Die weiteren Kapitel behandeln die Kriegskonferenzen der Großen Drei sowie die Übernahme der deutschen Ostprovinzen durch Polen. Von besonderer Aktualität sind dann die Schlusskapitel "Deutschland und die Vertriebenen" sowie "Polen und die Vertreibung". Hier wird noch einmal der gesamte Spannungsbogen zur Gegenwart deutlich, von den auf beiden Seiten antagonistischen Positionen bis zur heutigen Entkrampfung, die durch die Auseinandersetzungen um das Zentrum und die Treuhand gefährdet scheint.
Bevölkerungsverschiebungen
Es ist erstaunlich, wie sich seit 1945 das deutsch-polnische Verhältnis gestaltet hat. Die Textdarstellung wird aufgelockert durch Fotos mit Lebensläufen bekannter und für die Thematik wichtiger Persönlichkeiten; etwa Bismarck, Pilsudski, Kardinal Hondt oder die Vertriebenensprecher Czaja und Hupka. Gerade auch für deutsche Leser ist es wichtig zu erfahren, wie wenig das Bild vermeintlich entspannungsfeindlicher Symbolfiguren immer stimmt. Hupka ist aufgrund seines jüdischen Hintergrundes Opfer des Nationalsozialismus, was in Deutschland kaum bekannt ist.
Die gesamte Darstellung ist ebenso konzentriert wie verständlich. Dass dabei Differenzierungen manchmal fehlen, ist zu verschmerzen. So gab es durchaus massive Widerstände gegen die Oder-Neiße-Grenze in der Spitze der SED; hier siegte der Druck aus Moskau. Auch verschwanden nicht alle historisch ostdeutschen Namen in der DDR, eine Küstriner Straße in Berlin etwa überdauerte die Teilung.
Hilfreich zum Verständnis der räumlichen Entwicklung des polnischen Staatsgebietes sind die beigefügten Karten; hier ist eine stärkere Differenzierung dringend anzuraten: Polen in der Teilungszeit, nach dem ersten Weltkrieg, der Hitler-Stalin-Pakt, Polen unter der NS-Herrschaft und Polen seit 1945. Bei der verbreiteten Unkenntnis ist dies außerordentlich wichtig. Der umfangreiche Anmerkungsapparat sowie das Literaturverzeichnis bieten wertvolle Informationen zur Vertiefung. Das Buch sollte ab sofort einen festen Platz in der politischen Bildungsarbeit zum Thema Deutschland-Polen erhalten.
Thomas Urban
Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert.
Verlag C . H. Beck, München 2004; 223 S., 19,90 Euro