Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 12 / 21.03.2005
Zur Druckversion .
Tobias Asmuth

Das schwierige Leben im Wartesaal

Zehn Jahre nach Dayton: Bosnien-Herzegowina zwischen Hass und Hoffnung

Zehn Jahre nach dem Ende des Krieges steht Bosnien-Herzegovina am Scheideweg: Die Jugend wagt den Aufbruch, doch die Politik blockiert den Fortschritt. Der einzige Ausweg ist eine Reform des vor zehn Jahren abgeschlossenen Friedensabkommens von Dayton.

In der Altstadt von Sarajevo im Club Sloga stürmt die Band unplugged plug die Charts des Westens. Sänger Salih, Gitarrist Adim, Keyboarder Süley und Zag am Schlagzeug können sich auf ihre Fans verlassen. Egal ob U2 oder Oasis, das Menschenmeer vor der Bühne singt jedes Lied laut mit, Zeile für Zeile, versunken und hingebungsvoll. Die Luft steht, das Bier an der Bar ist teuer, es kostet unglaubliche vier bosnische Mark (zwei Euro), aber wenn Sänger Salih Robbie Williams "Feel" anstimmt, dann gehören die Menschen im Sloga dazu, fühlen sie sich frei, liegt Sarajevo in Europa und nicht im Protektorat Bosnien-Herzegowina. "Come and hold my hand, I wanna contact the living." Inzwischen kocht der Club, alles wird gut.

Draußen vor der Tür des Sloga liegt ein Land, das ohne eine solche Gewissheit existiert. Zehn Jahre nach dem Ende des Krieges gibt es in Bosnien-Herzegovina zwar eine gemeinsame Regierung aus Muslimen, Kroaten und Serben, die aus freien und geheimen Wahlen hervorgegangen ist, über eine Million Flüchtlinge sind zurückgekehrt, und an der ehemaligen "Sniper-Alley" in Sarajevo, an der serbische oder muslimische Scharfschützen Menschen wie Hasen jagten, glitzern jetzt die Fassaden der Autohäuser von VW, BMW und Volvo. Gleichzeitig aber können sich die Politiker der muslimisch-kroatischen Föderation und der serbischen Teilrepublik Srpska nicht auf einheitliche Pässe, Autokennzeichen oder einen gemeinsamen Text der Nationalhymne einigen. Das Land wird von unbarmherzigen Grenzen durchzogen, an den alten Frontlinien liegen immer noch tausende Minen, die, wenn überhaupt, nur langsam geräumt werden. Die Hilfsorganisation HELP hat ausgerechnet, dass es so noch 740 Jahre dauern wird, bis Bosnien-Herzegowina minenfrei ist.

Der Krieg werde heute mit politischen Mitteln fortgesetzt, sagt General David Leakey, englischer Oberbefehlshaber der europäischen Friedenstruppe (EUFOR): "Die Politiker auf allen Seiten sind Nationalisten." Leakey, 52, bittet zu einem Gespräch ins Hotel Hollywood am Flughafen von Sarajevo, um zu erklären, warum die 7.000 europäischen Soldaten weiter in Bosnien-Herzegowina stationiert sein müssen. "Es gibt zu wenig Vertrauen und zu viele Waffen. Ohne uns würde der Konflikt wieder aufflammen." Die Politik sei nicht reif für die Versöhnung, betont Leakey, an vielen Schulen würden muslimische, kroatische und serbische Kinder weiter getrennt unterrichtet - oder in Schichten: morgens die Muslime, nachmittags die Serben: "Die Vergangenheit drängt die Gegenwart in die Ecke." Bestes Beispiel sei die Jagd auf Kriegsverbrecher. Auch wenn an den bosnischen Straßen Plakate mit dem Bild zweier gefesselter Hände um Hinweise bei der Jagd nach Kriegsverbrechern bitten, glaubt der General nicht an den dicken Fang. "In der Republika Srpska gelten Radovan Karadzic und Ratko Mladic immer noch als Helden."

Karadzic und Mladic - für Adis Jugo, 30, sind beide Dinosaurier. "Sie gehören natürlich vor das Gericht in Den Haag, aber unsere wirklichen Probleme sind heute Bürokratie und Korruption." Informatiker Jugo hat vor fünf Jahren den Aufbruch gewagt und die Firma daenet gegründet, mit fünf Mitarbeitern entwickelt er Softwareprogramme für das bosnische Fernsehen oder die Stadtwerke in Mostar. Die Firma sitzt in zwei mit Rechnern vollgestopften Zimmern im achten Stock des Holiday Inn. Während des Krieges wohnten dort Journalisten, die vom Dach des Hotels die Kamera einfach nur auf das umkämpfte Sarajevo halten mussten. Weil das Hotel heute viel zu wenig Gäste hat, vermietet es drei Etagen an junge Unternehmer. Neben Jugos Büro organisiert Kemal, 29, den Vertrieb von Kyocera-Druckern in Bosnien, und Samir, 32, hat eine Rafting-Agentur gegründet. Er bietet Touren auf Flüssen im ganzen Land an, auch in der Republik Srpska. Die Wirtschaft könnte der Schrittmacher für ein gemeinsames Bosnien sein, glaubt Jugo. "Die jungen Muslime oder Serben haben die Nase voll vom Hass. Leider ist unsere Politik eine Katastrophe." Wenn der junge Unternehmer heute aus den Fenstern des Holiday Inn blickt, schaut er zwar immer noch auf das Betonskelett des ehemaligen Parlaments, aber auch auf die Werbe-Agentur Dallas und das Reisebüro Travel-Service. Englisch ist die Sprache der Hoffnung: "Cause I got too much life, running through my veins, going to waste."

Die Jugend in Sarajevo ist kosmopolitisch eingestellt, sagt Jasna Letic, 28, die als Übersetzerin in der Stadt arbeitet. Das gelte auch für ihren Glauben. "Der Islam in Bosnien ist traditionell aufgeklärt und tolerant. Das hat auch der Krieg nicht geändert." Auf die liberale Geschichte ihrer Stadt, in der Muslime, Katholiken, Orthodoxe und Juden zusammengelebt haben, sind die Menschen stolz. Dieses Gefühl ist auch nicht durch den Bosnienkrieg verschüttet worden. Die Jugendlichen suchen nach Jobs - und nicht nach den Worten des Propheten. Sie finden die Ängste des Westens lächerlich, islamische Fanatiker könnten das Land zu ihrem europäischen Brückenkopf ausbauen. Über die westliche Hysterie macht sich die Jugend Sarajevos gerne lustig. Ein schwarzes T-Shirt ist in den Clubs der Stadt besonders angesagt: Auf ihm steht:

"I am a muslim - don't panic!" Bisher habe es noch keinen einzigen Beweis gegeben, dass in Bosnien Gruppen aktiv sind, die zum Netzwerk Al Qaidas gehörten, gibt auch EUFOR-General David Leakey zu: "Die Probleme des Landes sind immer noch eher der Nationalismus der Politiker und die schwierige wirtschaftliche Lage." Die jungen Menschen versuchten inzwischen den Aufbruch, die Religion sei dabei für sie allerdings überhaupt keine Alternative.

Die Träume der Menschen seien groß, aber ihre Geduld am Ende, meint Lord Paddy Ashdown, der oberste Repräsentant der Internationalen Verwaltung für Bosnien-Herzegowina. "Der Vertrag von Dayton hat den Krieg beendet, aber er hat seine Schwächen: Alles in Bosnien gibt es in dreifacher Ausführung." Ashdown, 64, lädt zum Interview in seinen Amtssitz in Sarajevo und erklärt, dass die Leute auf den Straßen keinen Respekt vor der Politik haben könnten, wenn 70 Prozent des staatlichen Budgets in Regierung und Verwaltung gehen, und nur 30 Prozent in die Sozialsysteme. "Muslime, Serben und Kroaten müssen sich um eine Reform der Verfassung von Dayton bemühen. Ein Kompromiss ist kein Schimpfwort." Doch eine Reform wird schwierig, das weiß auch Ashdown. Das knapp vier Millionen Einwohner große Bosnien-Herzegovina besitzt zwar nur knapp 20 Kilometer Autobahn, aber dafür 18 Regierungen und über 1.000 Minister. Hass und Misstrauen sind immer noch groß, keine Volksgruppe will freiwillig Macht abgeben. Im letzten Wahlkampf spielten die Politiker mit der Unsicherheit der Leute: "Wählt eure Leute - die anderen tun es bestimmt", lauteten die Parolen der Nationalisten auf allen drei Seiten. In dem vergifteten Klima hatten Reformer keine Chance. Für die Politiker aber ist die Vergangenheit nicht nur ein Hindernis. Alle Parteien verdienen an der gegenseitigen Blockade. Nach vertraulichen Einschätzungen der europäischen Polizei in Bosnien (EUPM) hat die organisierte Kriminalität die Politik unterwandert. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht ein hochrangiger Politiker wegen Bestechlichkeit angeklagt wird. Ohne den Druck der europäischen Polizei würden viele Fälle nicht verfolgt. In seltener Einigkeit verhindern die Volksgruppen bisher eine Reform der Sicherheitskräfte. Die zersplitterten Polizeieinheiten sind schlecht ausgerüstet und wissen nicht, was in der benachbarten Stadt passiert, wenn die im fremden muslimischen oder serbischen Teil des Landes liegt. Dadurch bietet Bosnien ideale Bedingungen für Verbrechen aller Art und ist heute nach Einschätzungen von EUPM ein Zentrum für den Drogenschmuggel und Menschenhandel in ganz Europa.

"Ohne Druck aus Brüssel gibt es keine Reform von Dayton", sagt Senka Kurtovic, 40, Chefredakteurin der Tageszeitung Oslobodjenje. Dayton aber sei für den Westen ein Fetisch, weil der Vertrag den Krieg beendet habe. "Keiner in Europa möchte doch wissen, dass Dayton Bosnien langsam an den Abgrund führt." Kurtovic sitzt in der Redaktion, einem Betonklotz aus der Tito-Zeit im Zentrum von Sarajevo, sie schaut auf die Ruine eines Freizeitzentrums, die immer noch mit Sprengfallen verseucht ist. "Bosnien sieht aus wie Frankenstein, es ist mit Gewalt zusammengenäht." Europa müsse endlich die Selbstverwaltung des Landes stärken, Muslime und Serben zwingen zusammenzuarbeiten. "Die Republik Srpska darf sich nicht als eigener Staat aufspielen." Da die Serben die Auslieferung von Kriegsverbrechern blockieren, gibt es immer noch kein tragfähiges Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Gemeinschaft. Die Wirtschaft liegt am Boden. Keine Reformen bedeuteten keine Sicherheit bedeuteten keine Investitionen aus dem Ausland, fasst Kurzovic die Lage zusammen. "Aus Armut ensteht aber nur neuer Hass." In manchen Gegenden Bosniens liegt die Arbeitslosigkeit bei 45 Prozent, fast 66 Prozent der Jugendlichen unter 22 Jahren wollen ins Ausland. "Ein guter Freund ist Chirurg", erzählt die Journalistin, "er packt in Michigan am Band Pillen in Schachteln."

"Come and hold my hand, I want to contact the living, not sure I understand, this role I've been given." Auch die Band "unplugged plug" im Club Sloga wird nicht mehr oft zusammen spielen. Schlagzeuger Zag geht zum Studium nach Kroatien, Gitarrist Adim hat von einem Freund einen Job in Europa angeboten bekommen. Wo? Ist doch egal, Hauptsache er liegt im Westen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.