IG Metall und Arbeitgeberverband Stahl haben am 11. Mai eine Tarifeinigung erzielt. Danach erhalten Beschäftigte der Stahlindustrie zunächst eine Einmalzahlung von insgesamt 500 Euro. Ab September steigen die Löhne um 3,5 Prozent. Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit von 17 Monaten. Auf ein Jahr umgerechnet bedeutet der Abschluss eine Lohnerhöhung von rund 2,5 Prozent. Für den Präsidenten des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Martin Kannegiesser, ist das problematisch.
Das Parlament: Herr Kannegiesser, die IG Metall verbucht den Stahl-Tarifabschluss als Erfolg. Wie bewerten Sie die Einigung ?
Martin Kannegiesser: Die weltweite Stahlindustrie hat in den vergangenen zwei Jahren von der gewaltigen Nachfrage aus China profitiert. Es ist klar, dass die Arbeitnehmer an dieser Sonderkonjunktur beteiligt werden sollten. Der jetzt vereinbarte Tarifabschluss hat allerdings einen Fehler: Der prozentuale Lohnzuwachs ist mit 3,5 Prozent relativ hoch. Dieser Zuschlag erhöht die Einkommen dauerhaft und ist damit als Kostenblock für die Ewigkeit festgeschrieben. Das wird den strukturellen Herausforderungen der Branche nicht gerecht. Aus unserer Sicht wäre es angemessen gewesen, die gute konjunkturelle Situation mit einer höheren Einmalzahlung auszugleichen.
Das Parlament: Welche strukturellen Herausforderungen meinen Sie?
Martin Kannegiesser: Rund um den Globus sind in den vergangenen Jahrzehnten neue Stahl-Standorte entstanden, die im Vergleich zu deutschen Werken viele Vorteile haben: Sie sind nahe an den Rohstoffquellen und nahe an ihren Abnehmern. Denn der Großteil des Stahls wird heute nicht mehr in Deutschland oder Europa nachgefragt, sondern außerhalb unseres Kontinents. Hinzu kommt: Viele Werke im Ausland haben niedrige Personalkosten. Die deutsche Stahlindustrie muss all dies ausgleichen durch eine sehr hohe Produktivität und Produktinnovationen, die andere nicht bieten können. Was die Einkommen betrifft, darf man sich nichts vormachen: Unternehmen wie Stahlkonzerne, die in den Weltmarkt eingebunden sind, müssen auch die Lohnentwicklung an anderen Standorten berücksichtigen.
Das Parlament: Welche Bedeutung hat der Abschluss für die Tarifpolitik in anderen Branchen?
Martin Kannegiesser: Keine. Die Stahlindustrie hat relativ wenige Beschäftigte. Sie hat eine technologische Struktur, die es nirgendwo sonst gibt, und die Produktion ist sehr kapitalintensiv. Zudem hat die Branche eine ungewöhnliche Sonderkonjunktur hinter sich. Deswegen ist dieser Abschluss nicht auf andere Branchen übertragbar.
Das Parlament: Für IG-Metall-Chef Jürgen Peters markiert die Vereinbarung einen Wendepunkt: "Die Jahre des Verzichts sind vorbei", sagt er. Die Gewerkschaft werde sich in der Tarifrunde 2006 mit den Zuwächsen der Vergangenheit nicht abfinden. Rechnen Sie deshalb mit einem harten Tarifkonflikt?
Martin Kannegiesser: Solche Äußerungen bergen die Gefahr, die Realität zu verkennen und falsche Erwartungen zu wecken. Was heißt denn: Die Jahre des Verzichts sind vorbei? Wir haben eine außerordentlich schwierige Situation in Deutschland: Millionen Menschen sind arbeitslos, unsere Volkswirtschaft stagniert, und die Unternehmen konkurrieren mit neuen Wettbewerbern. Ich finde es riskant, in dieser Lage den Eindruck zu erwecken, wir könnten uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, indem wir überzogene Lohnforderungen vereinbaren. Wir sollten stärker an der Sache orientiert arbeiten und so versuchen, die Lage zu verbessern.
Das Parlament: Gewerkschafter verweisen darauf, dass Manager auch nicht gerade bescheiden sind. So seien die Vorstandsgehälter in Stahlkonzernen um bis zu 30 Prozent gestiegen.
Martin Kannegiesser: Es geht hier um Manager von Unternehmen, bei denen Gewerkschafter in den Aufsichtsräten mitbestimmen. Dort könnten sie ihre Bedenken äußern und die Vorstandsbezüge beeinflussen. Stattdessen kritisieren sie öffentlich die Gehälter, um die Beschäftigten zu mobilisieren. Dadurch werden Tausende Unternehmer und Geschäftsführer diskreditiert. Das ist doch eine doppelbödige Politik.
Das Parlament: Woran sollten sich die Lohnzuwächse der Beschäftigten generell orientieren?
Martin Kannegiesser: In normalen Zeiten sollten die dauerhaften Lohnzuschläge die Entwick-lung der Produktivität widerspiegeln. Das ist für uns der langfristige Maßstab. Aber in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und geringen Wachstums sollten sie leicht darunter liegen. Denn zurzeit ist ein Teil des Produktivitätsfortschritts auf Stellenabbau zurückzuführen: Viele Unternehmen produzieren die gleiche Menge an Gütern mit weniger Beschäftigten. Man sollte in der Tarifpolitik nur den Teil des Produktivitätszuwachses berücksichtigen, der tatsächlich zu Wachstum führt. Andernfalls verschärft man die Beschäftigungskrise. Zudem plädieren wir dafür, besondere konjunkturelle Entwicklungen durch Einmalzahlungen auszugleichen, die Unternehmen nicht für die Ewigkeit belas-sten. Denn konjunkturelle Hochphasen zeichnen sich nun mal dadurch aus, dass sie nicht von Dauer sind.
Das Parlament: Und die Preissteigerung wollen Sie ignorieren?
Martin Kannegiesser: Wir plädieren dafür, dass sich die Einkommen an der Produktivität und der konjunkturelle Entwicklung orientieren. Inwieweit diese Lohnzuwächse die Inflationsrate ausgleichen können, muss man im Einzelfall entscheiden. Wir sollten dabei auch eines bedenken: Wenn der Ölpreis in die Höhe schnellt oder neue Verbrauchssteuern erhoben werden, dann darf dies nicht auf die Unternehmen abgewälzt werden.
Das Parlament: Wie wirkt sich der Stahlabschluss denn wirtschaftlich auf die Metall- und Elektroindustrie aus?
Martin Kannegiesser: Der direkte Einfluss ist nicht messbar. Die Metall- und Elektro-Industrie ist der wichtigste Abnehmer der Stahlindustrie, und wir haben bereits jetzt mit hohen Rohstoffpreisen zu kämpfen. Wir können nur hoffen, dass der Lohnab-schluss nicht zur weiteren Preissteigerungen führt.
Das Interview führte Eva Roth. Sie ist Korrespondentin der
"Frankfurter Rundschau" in Frankfurt.