Bloß nicht dran rühren: Die Tarifautonomie ist für die SPD ein Tabu-Thema. Denn Grundlage ihrer bisherigen Wirtschaft- und Arbeitsmarktpolitik war, die gesetzlich abgesicherte Tarifautonomie in jedem Fall unangetastet zu lassen. Für die Sozialdemokraten ist die Tarifautonomie von Gewerkschaften und Arbeitgebern ein fester Bestandteil ihrer Identifikation - und auch eine Möglichkeit der Abgrenzung gegen andere Parteien.
Eine Partei, die ihr traditionelles Wahlklientel in den Arbeitnehmern sieht, muss die Tarifautonomie hochhalten, so die Überzeugung bei den Sozialdemokraten. Die SPD, die sich hier in der Nachfolge der deutschen Arbeiterbewegung sieht, rückt das Modell Tarifautonomie nicht nur in den Mittelpunkt sozialdemokratischer Politik, für sie ist es auch ein Teil demokratischer Überzeugung.
Ein fester Bestandteil der sozialdemokratischen politischen Rhetorik ist daher der Vorwurf an das gegnerische Lager, die Tarifautonomie zerschlagen zu wollen. Derartig wahrgenommene Angriffe auf die Tarifautonomie werden von der SPD nicht selten als Angriffe auf die Demokratie verstanden - wie der Parteivorsitzende Franz Müntefering nicht müde wird zu betonen. Zum Beispiel in einer Erklärung im November vergangenen Jahres, damals noch in der Funktion als Fraktionsvorsitzender: "Die Union will eine Republik, in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich nicht mehr in gleicher Augenhöhe begegnen, in der das Prinzip Herr und Knecht gilt. Zu den Stärken Deutschlands gehört der soziale Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Tarifautonomie und Kündigungsschutz steht bei uns nicht zur Disposition."
Nach Auffassung des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Ludwig Stiegler, sind Einschnitte in die Tarifautonomie nicht nur verfassungsrechtlich höchst problematisch, sondern auch ordnungspolitisch nicht geboten: "Einschränkungen oder gar Beseitigung der Tarifautonomie sind ein denkbar ungeeigneter Weg, zu mehr Beschäftigung zu kommen. Die Tarifvertragsparteien sind am besten in der Lage, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Regelungen auf tarifvertraglicher Ebene und auf Betriebsebene herzustellen."
Gleich welcher Natur Änderungen sind, die den Bereich der Tarifverträge betreffen: Die SPD ist stets bemüht zu betonen, dass Eingriffe in die Tarifautonomie tabu sind. Beispiel Nummer eins: Im März dieses Jahres forderte der SPD-Kreisverband Heidelberg die Programmkommission der Sozialdemokraten per Beschluss auf, die Wochen-Arbeitszeit generell zu begrenzen. Die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit hätten nicht ausgereicht, um die Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu lösen. Die Arbeit müsse gerecht verteilt werden - und das gehe eben nur über eine allgemeine Reduzierung der Wochenarbeitszeit. Der Kreisverband beeilte sich aber zugleich klarzustellen, dass mit dieser Resolution kein Eingriff in die Tarifautonomie gefordert werde.
Die Lager sind gespalten
Beispiel Nummer zwei: die aktuelle Debatte um einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn. Nicht erst seit der Diskussion um Billigarbeiter-Konkurrenz aus den osteuropäischen neuen EU-Mitgliedstaaten versucht die SPD den Spagat: Lohndumping müsse verhindert werden, heißt es. Ob ein gesetzlich festgeschriebener Mindestlohn ein Mittel dafür sein könnte, ist unter Sozialdemokraten heftig umstritten. Der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Klaus Brandner, warnte bereits eindringlich: Der Staat könne nicht als Ersatz für die Tarifvertragsparteien herhalten.
Das den Sozialdemokraten bislang eng verbundene Gewerkschaftslager ist ähnlich gespalten: Einige Gewerkschaften, allen voran ver.di und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), fordern seit Jahren den gesetzlichen Mindestlohn - dies vor allem, da es im Einzelhandel und in der Gastronomie in vielen Betrieben keine allgemein verbindlichen Tarifverträge mehr gibt. Die IG Metall dagegen, die für ihre Mitglieder bislang innerhalb der Tarifverträge einiges erstreiten konnte, wendet sich ebenso gegen gesetzliche Mindestlöhne wie die IG BAU, die dies als gefährlichen Eingriff in die Tarifautonomie wertet. Herausgekommen ist nun ein Kompromiss: Die Bundesregierung beschloss Ende April, das so genannte Arbeitnehmer-Entsendgesetz auf alle Branchen auszuweiten. Damit kann der Bundeswirtschaftsminister auf Antrag einer Tarifvertragspartei die tariflichen Standards für alle Arbeitgeber einer Branche für verbindlich erklären.
SPD-Politiker wie Klaus Brandner atmen auf; die Tarifautonomie könne so aufrechterhalten werden, erklärte der Wirtschaftsexperte in einem Zeitungsinterview. "Das entspricht unserer Kultur, wie Löhne gefunden werden." Ein Wink mit dem Zaunpfahl für die Tarifparteien bleibt: Die Bundesregierung erklärte, dass sie davon ausgehe, dass die Tarifvertragsparteien im eigenen Interesse bundesweit flächendeckende Tarifstrukturen schaffen werden. Wer die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne ablehne, dürfe sich den erforderlichen Maßnahmen auf tarifvertraglicher Basis nicht entziehen. Die Autorin arbeitet als freie Wirtschaftsjournalistin in Köln mit den Schwerpunkten Steuern, Recht, Mittelstand und Wirtschaftspolitik.