Über sechs Millionen Vollzeitbeschäftigte arbeiten in Deutschland für Niedriglöhne. Laut Düsseldorfer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichem Institut (WSI) fallen darunter all jene Löhne, die mehr als 25 Prozent unter dem durchschnittlichen Bruttoverdienst liegen. Wenn Löhne und Gehälter noch nicht einmal die Hälfte des Durchschnittslohns erreichen, spricht man von "Armutslöhnen".
Claudia M. ist im dritten Berufsjahr. Die ausgebildete Floristin aus Hamburg arbeitet Vollzeit und nach Tarif - für 7,66 Euro brutto in der Stunde. Ihre Kollegen in Magdeburg bekommen nur 5,33 Euro. Ebenfalls streng nach Tarif arbeitet Karl F. aus Kiel. Der Wachmann im Veranstaltungsdienst erhält 5,60 Euro und ist damit immer noch besser dran als Hans L. aus Dresden. Der muss für tarifierte 4,32 Euro die Eingänge bei Fußballspielen und Rockkonzerten kontrollieren.
Claudia M., Karl F. oder Hans L. sind nur drei von rund 6,5 Millionen Vollzeitbeschäftigten in Deutschland, die für Niedriglöhne arbeiten gehen. Drei von 33 Prozent Beschäftigten sind es laut Angaben der Bundesregierung vom Oktober 2001. Das WSI ermittelte auf der Basis der effektiv gezahlten Löhne sogar eine Zahl von 35,9 Prozent, wobei 2,1 Millionen beziehungsweise zwölf Prozent aller Vollzeitbeschäftigten nur Armutslöhne beziehen. Minijobs, (Schein-) Selbstständigkeit oder unterjährig befristete Beschäftigungsverhältnisse sind in diesen Zahlen noch nicht mitgezählt.
Ein Niedriglohnsektor muss in Deutschland nicht erst geschaffen werden. Es gibt ihn schon - in erheblichem Umfang und seit langer Zeit. Allein im Zeitraum von 1980 bis 1997 ist der Niedriglohnbereich um 4,6 Prozentpunkte gestiegen - auch Ausdruck einer verstärkten "Lohnspreizung". Denn während gleichzeitig auch der Hochlohnsektor um 0,9 Prozentpunkte leicht zugenommen hat, sind die mittleren Löhne (75 bis 125 Prozent des Durchschnitts) um 5,8 Prozentpunkte drastisch zurückgegangen. Während also im Bereich der Vollzeitbeschäftigung schlecht bezahlte und - in deutlich geringerem Umfang - sehr gut bezahlte Arbeit zunimmt, erodiert der gesamte Bereich der "normalen" Einkommen.
In welchem Maße Niedriglöhne inzwischen in der Mitte des Arbeitsmarktes angekommen sind, wird auch dadurch bestätigt, dass längst nicht nur so genannte "Problemgruppen" betroffen sind. Niedriglöhne sind weder ein "Jugendproblem" noch ein Problem mangelnder Qualifizierung. Nahezu zwei Drittel aller Geringverdienenden sind 30 Jahre oder älter, und unter ihnen stellen nicht etwa Unqualifizierte die größte Gruppe, sondern diejenigen mit Berufsausbildung. Niedriglöhne sind auch keineswegs auf einzelne Branchen beschränkt. Nahrungs- und Genussmittelindus-trie, Land- und Forstwirtschaft, Verbrauchsgüterproduktion und einzelne Segmente des Dienstleistungsbereichs liegen in dieser Beziehung eng beieinander.
Zwei Aspekte sind allerdings auffällig. Zum einen sind es nach wie vorallem Frauen, deren Arbeit - egal welche und egal wo - niedriger entlohnt wird. Bei den Armutslöhnen sind Frauen sogar mit fast 70 Prozent vertreten. Allerdings scheint es hier eine kontinuierliche Verschiebung zu geben, denn 1980 war der Anteil von Frauen in beiden Segmenten der Niedriglöhne deutlich höher. Man kann in diesen Zahlen ein statistisches Indiz für eine "Feminisierung der Lohnarbeit" sehen: Schlechte und niedrig bezahlte Arbeit ist zwar immer noch im Wesentlichen Frauenarbeit, doch weiten sich Arbeitsbedingungen, die Frauen bereits seit Jahren bekannt sind, zunehmend auch auf Männer aus.
Zum anderen tauchen Niedriglöhne überdurchschnittlich häufig in kleinen und mittleren Betrieben auf. So es denn überhaupt tarifliche Regelungen gibt, sind sie in Klein- und Mittelbetrieben häufig schlechter als in großen Unternehmen. Gleichzeitig ist hier die Lücke zwischen den Tarifbestimmungen und den effektiv gezahlten Löhnen am größten. Auch liegt die Vermutung nahe, dass sich in der zunehmenden Konzentration von Niedriglöhnen in Klein- und Mittelbetrieben die Tendenz zur Auslagerung und Fremdvergabe niederschlägt, mit der größere private und öffentliche Unternehmen seit längerem versuchen, ihre Personalkosten zu senken.
Wie wenig es sich bei Niedriglohnbereichen um klar abgrenzbare "Sektoren" des Arbeitsmarktes handelt, zeigt auch ein Blick auf die Tarifwirklichkeit. Wo früher mehr schlecht als recht ein Niedriglohnsektor an der Grenze zwischen tarifierten und "irregulären" Beschäftigungsverhältnissen festgemacht wurde, ist das heute kaum noch möglich. Weder sind niedrig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse "irregulär" noch sind Tariflöhne automatisch Mittel- oder gar Hochlöhne: "Wer glaubt, dass allein durch Tarifverträge ein ausreichendes und sozial akzeptables Einkommensniveau gesichert werden kann, kennt die Tarifverträge nicht", so Reinhard Bispinck vom WSI-Tarifarchiv.
Schon in der Vergangenheit hat die gewerkschaftliche Tarifpolitik die Etablierung von Niedriglöhnen begleitet und teilweise abgesichert, so etwa bei der Tarifierung von Löhnen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) oder bei der freiwilligen Tarifierung des gesamten Leiharbeitssektors im Jahr 2003. Aber auch andere Branchentarife sehen reguläre Niedriglöhne mit einer tariflichen Grundvergütung zwischen vier und zehn Euro in der Stunde vor - und zwar keineswegs nur in Ostdeutschland und nicht nur für so genannte Einfachtätigkeiten. So bekommt eine Friseurmeisterin in Rheinland-Pfalz nach Tarif 8,19 Euro pro Stunde, in Sachsen sind es 5,59 Euro. Ein gelernter Konditor verdient im ersten Jahr in Hamburg 7,87 Euro, in Brandenburg 7,68 Euro. In Nordrhein-Westfalen kommt eine Gebäudereinigerin auf 8,17 Euro, in Sachsen-Anhalt auf 5,79 Euro.
Eine vollständige Erfassung aller tarifierten Niedrig- löhne liegt bis heute nicht vor. Nach einer Statistik des Bundesministeriums für Arbeit beinhalteten Ende 2003 130 von 2.800 gültigen Verbandsentgelttarifverträgen Vergütungen unter sechs Euro die Stunde beziehungsweise unter 1.000 Euro im Monat, nicht selten mit Stundenlöhnen von drei bis vier Euro. Es handelt sich um Entgelte, die nach der WSI-Definition nicht über den Status der Armutslöhne hinauskommen. Die Anzahl aller regulären Niedriglohntarife dürfte deutlich größer sein. Die alte gewerkschaftliche Parole, nach der jeder Tarif besser sei als keiner, hat inzwischen viel von ihrer früheren Plausibilität verloren.
Vor diesem Hintergrund wäre es völlig verfehlt, wollte man die Diskussion um Niedriglöhne auf einen Teilaspekt von Arbeitsmarkt- oder Beschäftigungspolitik verkürzen. Die Niedriglohnentwicklung ist vielmehr Bestandteil einer umfassenden Neugestaltung der bisherigen Normalarbeitsverhältnisse. Alles ist im Fluss: die Art und Weise, wie die Arbeit in Betrieben und Büros organisiert und kontrolliert wird, genauso wie Arbeits- und Entlohnungsbedingungen. Schlagworte wie "Flexibilisierung", "Eigenverantwortung" und "Aktivierung" deuten an, wie "Normalarbeit" neu definiert werden soll - eine Neudefinition, die sich in der Auflösung des Flächentarifs genauso niederschlägt wie in dem ganzen Heer der neuen "Arbeitskraftunternehmer" oder in der breiten Palette der indirekten Lohnkürzungen durch Arbeitszeitverlängerung.
Je lauter in der öffentlichen Debatte der Stellenwert "der Arbeit" beschworen wird, desto weniger wird über Arbeitsbedingungen und die Ansprüche an Arbeit gesprochen. "Arbeit an sich" wird zum abstrakten Prinzip. Die so genannten Arbeitsmarktreformen bringen das auf den Punkt. Mit Hartz IV und der flächendeckenden Einführung der Ein-Euro-Pflichtarbeit wird der Bereich öffentlicher Beschäftigung von einem Niedriglohnsektor par excellence in einen Null-Lohnsektor umgebaut. Um sinnvolle Beschäftigungsperspektiven geht es dabei nicht, schon eher um "schwarze Pädagogik": Erwerbslose sollen in diesen Zwangsmaßnahmen lernen, dass sie sich alle Vorstellungen von einem "Traumjob" ein für alle Mal abschminken können. Ihre Perspektive ist der ganz normale Niedriglohnsektor.
Die Debatte um Niedriglöhne ist deshalb auch eine Debatte darüber, was den Arbeitenden zugemutet werden darf. Oder - wie es die französische Autorin Viviane Forrestier einmal gesagt hat - um die Frage, wo und wie dem "Terror der Ökonomie" Grenzen gesetzt werden können.
Dirk Hauer arbeitet als Publizist in Hamburg.