Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 - 26 / 20.06.2005
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Alexander Kluy

Beklemmende deutsche Geschichte

Roman Graefes Buch über Prozesse gegen DDR-Grenzschützen

Ich war sprachlos, ich sagte wirklich nichts, schüttelte nur immer den Kopf, dachte, das ist doch unmöglich. Man kann doch einen solchen Konflikt nicht mit Steinen und Stacheldraht lösen. Es ist unfassbar, die Primitivität dieses Einfalls. Einfach eine Grenze ausheben, zumachen, dichtmachen und dann schießen auf das, was läuft." Noch 20 Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer rang der Publizist Horst Krüger mit Worten, um seine ersten Eindrücke an der steinernen Grenze in Berlin adäquat wiederzugeben.

Der 1968 geborene Journalist Roman Graefe, der im Januar 1989 nach mehreren Versuchen aus der DDR ausreisen durfte, stellt dieses Zitat seinem Buch als Motto voran. Leitmotivisch durchzieht darin Krügers Entsetzen und Erschrecken auch diese Publikation. Graefe erzählt das Schicksal von erschossenen Mauerflüchtlingen, von Peter Fechter 1962 bis zu Chris Gueffroy, der dem Schießbefehl der DDR-Grenztruppen im Januar 1989 als letzter zum Opfer fiel, und von den Gerichtsverhandlungen gegen die Verantwortlichen in den 90er-Jahren.

Graefe legt ein Buch vor, das nichts weniger als Gerechtigkeit will. Er fordert diese mal vehement, mal grimmig von der Justiz ein und muss zur Kenntnis nehmen, wie eine angemessene Sühne - und das soll ja eine Verurteilung zu einer Haftstrafe sein - an den Realitäten der Rechtsprechung zu zerschellen droht.

Als ausdauernder Berichterstatter nahm Graefe an zahlreichen Gerichtsverhandlungen gegen hochrangige DDR-Funktionäre, frühere Minister und Grenzschützen teil; diese Prozesse dauerten teilweise mehrere Jahre. Er rapportiert ausführlich eine erschreckende ideologische Hartnäckigkeit und Blindheit der Beteiligten. Kaum einer der angeklagten früheren Soldaten, Offiziere oder Politiker zeigte Einsicht. Fast alle beriefen sich auf Pflichterfüllung und Dienstvorschriften oder schlicht auf Unkenntnis, je nach Gemengelage oder Stellung innerhalb der bürokratisch-sozialistischen Hierarchie.

Als säße man im Gerichtssaal, so lebendig werden bei Graefe die auftretenden Zeugen, Staatsanwälte, Verteidiger und Richter. Geradezu abschreckend geraten ihm die Porträts unbeirrter alter Kämpfer und vormals führender Funktionäre der SED. Mitfühlend und präzise schildert er die Emotionen von Eltern und Verwandten, die noch Jahrzehnte später den Tod ihrer Angehörigen oder Freunde an der Grenze nicht verwunden haben und nun erleben, wie die Täter von einst meist zu geringen Strafen auf Bewährung verurteilt werden.

Dieses Buch ist anstrengend, ernüchternd, frustrierend und aufwühlend. Es ist ein beklemmendes Stück deutscher Geschichte. Einem Kapitel stellt Grafe eine Bemerkung Wolf Biermanns voran: "Die Täter, egal, ob sie Leichenberge hinterließen oder nur zerstörte Leben, verteidigen sich kalt und hart. Keiner schämt, keiner beknirscht sich. Keiner will irgend etwas an irgendwem wiedergutmachen."

Aus der Geschichte tatsächlich lernen - mit diesem wichtigen, notwendigen Werk kann der oft angemahnte Anspruch erfüllt werden.


Roman Graefe

Deutsche Gerechtigkeit.

Prozesse gegen DDR-Grenzschützen und ihre Befehlsgeber.

Siedler Verlag, München 2004; 352 S., 24,90 Euro


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