Präsident Wladimir Putin stärkt weiter seine autokratische Macht. Russlands Justiz ist nicht unabhängig, der Kreml baut seinen Einfluss in den Medien aus, der Geheimdienst betreibt eigene Gefängnisse, und die Haftbedingungen sind oft unvertretbar: Ein Bericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarates geht mit der politischen Lage in Russland hart ins Gericht. Die kontroverse Debatte über die vom Bundestagsabgeordneten Rudolf Bindig und seinem britschen Kollegen David Atkinson vorgelegte Resolution steht diese Woche im Mittelpunkt der Sitzung des Straßburger Europarates.
Da staunt selbst der Moskau-Kenner Rudolf Bindig. Für die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat der SPD-Politiker schon mehrere Expertisen über Russland und speziell auch das tschetschenische Kriegsgebiet erstellt - Analysen, die für den Kreml nicht unbedingt schmeichelhaft waren. Eine solche Geschäftigkeit wie vor der Debatte des jetzigen Berichts diese Woche im paneuropäischen Abgeordnetenhaus hat der Leiter der Bundestags-Delegation in Straßburg bei russischen Ministerien, Parlamentarierbüros und Redaktionsstuben indes noch nicht erlebt: Die Nachfrage in Moskau nach dem 90-seitigen Papier ist enorm. Darin üben Bindig und der Brite David Atkinson massive Kritik an Präsident Wladimir Putins autokratischem Herrschaftssystem und am schonenden Vorgehen gegen die Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen im Kaukasus. Zudem kritsieren sie die Einschränkung der Pressefreiheit oder auch die fehlende Unabhängigkeit der Justiz. Binding, Mitglied im Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages, ist sich sicher: "So gründlich wie in diesem Bericht hat noch kein internationales Gremium die russische Innenpolitik aufgearbeitet."
Politisches und mediales Interesse dürfte der brisanten Diskussion über die Situation in dem Riesenreich gewiss sein - das Highlight dieser Tagung des Europarats-Parlaments. Und wie der Zufall so will, stützen auch noch brandaktuelle Ereignisse Bindigs und Atkinsons Vorwürfe gegen die Moskauer Politik und provozieren zusätzliche Aufmerksamkeit für den Straßburger Auftritt der beiden Deputierten.
International hohe Wellen der Empörung schlägt die Verurteilung von Ex-Ölmagnat Michail Chodorkowski und von dessen Partner Platon Lebedew zu jeweils neun Jahren Lagerhaft, offiziell wegen Betrugs und Steuerhinterziehung durch den Jukos-Konzern. Für Bürgerrechtsgruppen und viele westliche Politiker verstieß dieser Prozess jedoch eklatant gegen rechtsstaatliche Normen. Aus Sicht der Kritiker hat der Kreml aus politischen Motiven die Fäden gezogen. Die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die das Jukos-Verfahren für den Europarat beobachtete, meint dazu: "Die Feinde des Rechtsstaats und der unabhängigen Justiz haben gesiegt." Bei dem Urteil gegen Chodorkowski handele es sich um einen "unerbittlichen Racheakt gegen einen Mann, der sich offen gegen die Politik von Russlands Präsident Putin gestellt hat". Die Forderung der Abgeordneten nach fundamentalen Änderungen des russischen Justizsystems liegt voll auf Bindigs und Atkinsons Linie.
Aufs Neue bestätigt sehen können sich die Europarats-Parlamentarier auch in ihrer Sorge über die fortschreitende Demontage der Medienfreiheit. So wurde jetzt publik, dass der mehrheitlich vom Kreml kontrollierte Gasprom-Konzern die Tageszeitung "Iswestija" kaufen will, in der gelegentlich auch Unbotmäßiges über die Regierung zu lesen war. Die Zeitung hatte zum Beispiel kritisch über das Vorgehen der Sicherheitskräfte beim Geiseldrama von Beslan berichtet, was den damaligen Chefredakteur Raf Schakirow nach einer Intervention aus dem Machtzirkel um Putin den Job kostete.
Die Übernahme der "Iswestija" durch Gasprom kommentiert Oleg Panfilow vom Moskauer Zentrum für Journalismus in Extremsituationen so: "Jetzt werden auch die wenigen Zeitungen noch gezähmt, die einer Minderheit echte Informationen bieten." Die meisten Russen würden nur Fernsehen schauen, "und das wird ohnehin vom Kreml zensiert". Gasprom besitzt mittlerweile eine ganze Kette von TV-Stationen, darunter den ehedem aufmüpfigen Kanal NTW, der sich nun kaum noch vom konformen Staatsfernsehen unterscheidet.
Auch der Menschenrechtsgerichtshof setzte dieser Tage ein Zeichen und verurteilte Russland wegen unmenschlicher Behandlung eines Strafgefangenen (AZ: 66460/01). Der Mann hatte mehrere Monate mit bis zu 50 anderen Häftlingen in einer 42 Quadratmeter großen schmutzigen Zelle verbringen müssen, in der sich die Toiletten mitten im Zimmer befanden und dessen mit Metallplatten verschlossene Fenster kaum Sonnenlicht und Frischluft ermöglichten. Der in Straßburg erfolgreiche Kläger litt während der Haft an Fieber und an Hautkrankheiten, nach der Entlassung stellte ein Arzt erhebliche Gesundheitsschäden fest. Dieser Fall stammt aus dem Jahr 1999. "Aber auch heute noch", resümiert Bindig seine Recherchen, "sind die Haftbedingungen häufig inakzeptabel." Der SPD-Politiker und Atkinson bemängeln zudem, dass der Geheimdienst FSB bis heute ein eigenes Gefängnissystem unterhält. Auch die Todesstrafe hat Moskau noch nicht formell abgeschafft. Der Bericht verkennt nicht, dass es in den vergangenen drei Jahren in Russland auch gewisse Fortschritte gab: Eine neue Strafprozessordnung trat in Kraft, ein Zivildienstgesetz wurde verabschiedet und die Zahl der Strafgefangenen verringerte sich von 140.000 auf 80.000. Doch die Kritik überwiegt.
Ins Visier nehmen Bindig und Atkinson nicht zuletzt den Ausbau der autokratischen Herrschaft Putins: Das demokratisch-rechtsstaatliche System der Gewaltenteilung gerät zusehends aus den Fugen, oppositionelle Kräfte werden an den Rand gedrängt. Zur Verfestigung der Macht gehört, dass inzwischen der Präsident bei der Einsetzung der Provinzgouverneure das entscheidende Wort hat. Die Rechercheure des Europarats stießen nun auf eine wenig beachtete Konsequenz dieser von Putin durchgesetzen Neuerung: Die Gouverneure benennen die Hälfte der Mitglieder des Föderationsrats, des Oberhauses - womit der Präsident Einfluss auf dessen Zusammensetzung nimmt. "Diese Situation ist unvereinbar mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung", prangert der Bericht an.
Pluralistische und unparteiische Medien besonders im Rundfunkwesen seien unverzichtbar für freie und faire Wahlen, betonen Bindig und Atkinson. 2007 finden Parlaments- und 2008 Präsidentschaftswahlen statt. Der Resolutionsentwurf, der eine Mehrheit im Europarats-Parlament finden dürfte, verlangt deshalb, jeden Staatseinfluss in audiovisuellen Medien zu unterlassen.
Ob sich die Machthaber in Moskau von der fundierten Kritik Straßburgs beeindrucken lassen, muss sich freilich erst noch erweisen. Bindig und Atkinson plädieren schon mal dafür, das Monitoring-Verfahren gegenüber Russland fortzusetzen: Bei solchen Kontrollen überprüft das paneuropäische Abgeordnetenhaus, ob ein Mitgliedsstaat den demokratisch-rechtsstaatlichen Standards des Staatenbunds gerecht wird. "Der Beweis substantieller Fortschritte", konstatiert der Bericht, müsse erst noch erbracht werden.
Infos im Internet: www.coe.int