Nach dem "Nein" der Franzosen und Holländer zur EU-Verfassung zogen die Staats- und Regierungschefs auf dem Frühjahrsgipfel in Brüssel die Notbremse: Bis 2007 wurde der Ratifizierungsprozess erst einmal auf Eis gelegt. Kurz vor der Entscheidung kam der Präsident des Europäischen Parlaments auf Einladung des Deutschen Bundestages nach Berlin. Im Interview mit "Das Parlament"sprach Josep Borrell über die Krise der Gemeinschaft, seine parlamentarische Arbeit und seine Vision eines vereinten Europas.
Das Parlament: EU-Kommissar Verheugen hat jüngst in einem Interview gesagt, er habe das Gefühl, der "Boden unter unseren Füßen" schwanke. Geht es Ihnen ähnlich ?
Josep Borrell: Es ist klar, dass wir uns im Moment in einer Identitätskrise befinden. Wir haben zwar kein Erdbeben, in dem Sinne, dass die Häuser einstürzen, aber es ist eben auch nicht "business as usual". Das Leben geht weiter. Ohnehin wäre die Verfassung ja nicht vor 2009 in Kraft getreten. Aber wir müssen uns auch eingestehen, wir haben Fehler gemacht, für die wir jetzt bezahlen müssen.
Das Parlament: Mehrere Länder, die Konservativen im Europäischen Parlament und jetzt sogar Kommissionspräsident Barroso haben sich für eine Pause bei der Ratifizierung ausgesprochen. Hat die Verfassung überhaupt noch eine Chance?
Josep Borrell: Man muss genau zwischen dem Einlegen einer Pause und dem Aufgeben einer Idee unterscheiden. Das sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. Bis jetzt habe ich noch von keinem einzigen Staatschef gehört, der sich für ein Ende des Verfassungsprozesses ausgesprochen hätte. Ich denke, wir müssen abwarten, was auf dem Gipfel entschieden wird. Niemand hat bisher behauptet, dass der Ratifizierungsprozess definitiv tot ist.
Das Parlament: Wäre das denn überhaupt möglich ?
Josep Borrell: Theoretisch schon, aber nur, wenn eine Regierung, egal welche, dem Rat ankündigen würde, es werde die Ratifizierung aussetzen. Zu jedem Zeitpunkt kann ein Land im Einklang mit dem internationalen Recht erklären, dass es seine Meinung geändert hat und dann offiziell mitteilen, dass es den Vertrag nicht unterzeichnen werde. Es gibt aber noch eine zweite Möglichkeit, die der Europäische Rat bei der Verabschiedung der Verfassung beschlossen hat: Wenn sich sechs oder mehr Staaten gegen die Verfassung entscheiden, wäre der Ratifizierungsprozess beendet und der Europäische Rat müsste zusammenkommen und überlegen, wie es weitergeht.
Das Parlament: In Spanien haben die Menschen hingegen mit großer Mehrheit der Verfassung zugestimmt. Wie erklären Sie sich diesen, großen Rückhalt ihrer Landsleute, während ausgerechnet zwei der Gründerstaaten der Verfassung eine Absage erteilt haben?
Josep Borrell: In diesen Ländern herrschen unterschiedliche Voraussetzungen. Meiner Meinung nach, hat man in Frankreich und in den Niederlanden nicht gegen die Verfassungstexte als solche, sondern gewissermaßen gegen den Kontext gestimmt. Und dieser Kontext, sprich das politische Umfeld, ist in all diesen Ländern ganz verschieden. In Spanien haben wir eine neue Regierung und die Stimmung im Land ist positiv. Die großen Parteien waren alle für die Verfassung. Die Sozialisten waren sich, anders als etwa in Frankreich, untereinander einig. Generell haben wir in Spanien weniger Bedenken gegen eine Erweiterung.
Das Parlament: Wäre es nicht einfacher gewesen, alle Länder am gleichen Tag über die Verfassung abstimmen zu lassen?
Josep Borrell: Ich hatte sogar ein europaweites Referendum in allen Mitgliedsstaaten vorgeschlagen. Aber das wurde abgelehnt. Dann hatte ich im Konvent vorgeschlagen, die Referenden zeitnah innerhalb weniger Tage durchzuführen. Und auch das wollte man nicht.
Das Parlament: Mit welcher Begründung?
Josep Borrell: Es scheint da einen "Souveränitätsreflex" zu geben. Und dieser Reflex heißt "Ich bin Ich - und ich entscheide auch für mich selbst." Ich entscheide, was gemacht wird und wie es gemacht wird. Die Idee eines paneuropäischen Referendums oder mehrerer gemeinsamer Referenden hinterlässt offenbar bei einigen den Eindruck, dass dies den Beginn einer kollektiven, europäischen Souveränität bedeuten würde, die sie für noch nicht ausgereift halten.
Das Parlament: Aber ist ein einheitliches Referendum nicht auch verfassungsrechtlich in einigen Staaten problematisch?
Josep Borrell: Ja natürlich, denn auch bei Ihnen in Deutschland ist ein solches Referendum in der Verfassung nicht vorgesehen. Aber nichtsdestotrotz hätten die Referenden und die Ratifizierungen durch die nationalen Parlamente möglichst in einem festen Zeitrahmen stattfinden sollen.
Das Parlament: In anderen Bereichen war ein solches gemeinsames Vorgehen ja auch möglich. Wir haben den Euro, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, und die EU ist vor allem im letzten Jahr sehr viel größer geworden. Sind wir da manchmal zu schnell?
Josep Borrell: Viele Leute denken das zumindest. Manche Franzosen, und insbesondere auch die Holländer, fürchten eine Europäische Union, deren Grenzen nicht klar bestimmt sind. Gerade die Frage eines möglichen Beitritts der Türkei ist umstritten und daher wollten einige wohl eine Art "präventives Nein" aussprechen. Dabei stand die Frage der Türkei formal überhaupt nicht zur Debatte. Der Text der Verfassung hatte weder etwas mit der Türkei noch mit der bisher erfolgten Erweiterung zu tun.
Das Parlament: Viele Menschen haben offensichtlich Angst vor einem erweiterten Europa. Aber ist das nicht die Basis für Stabiliät und Frieden auf unserem Kontinent?
Josep Borrell: Wissen Sie, Europa ist eine Erfolgsgeschichte. Zwischen unseren Völkern herrscht Frieden - das war das ursprüngliche Ziel eines vereinten Europas. Am Anfang stand die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftraums. Heute haben wir sogar den Euro. Und nicht nur damit haben wir vielmehr erreicht, als wir uns damals überhaupt vorstellen konnten.
Das Parlament: Die Väter Europas hätten sich sicherlich nicht träumen lassen, dass im Jahr 2005 insgesamt 732 Abgeordnete aus 25 Ländern gemeinsame Politik machen. Worin unterscheidet sich die Arbeit im Europäischen Parlament von der auf nationaler Ebene, die Sie selbst gut kennen?
Josep Borrell: Der Arbeit in beiden Häusern liegt eine ganz andere "Logik" zugrunde. In einem nationalen Parlament gibt es eine Regierung und Parlamentarier, die diese Regierung unterstützen. Dem gegenüber steht eine Opposition, die mit der Regierung im politischen Wettstreit steht. In Europa haben wir hingegen keine Regierung, denn die Kommission ist eben keine richtige Regierung. Es gibt keine Mehrheit und keine Opposition im klassischen Sinne. Die Themen sind oftmals viel komplexer und die Politik ist in stärkerem Maße auf einen Konsens ausgerichtet.
Das Parlament: Für die meisten Menschen ist Europa heute eher ein Wirtschaftsfaktor. Die Idee eines Europas als Garant für Frieden ist vielen nicht mehr bewusst. Wie kann man jungen Menschen diesen Gedanken vermitteln, wenn sie selbst noch nie einen Krieg erlebt haben ?
Josep Borrell: Auch ich gehöre zur Nachkriegsgeneration, die zwar nicht den Krieg selber, aber die Folgen des Krieges gespürt hat. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Generation, die Europa aufgebaut hat, eben gerade die Kriegsgeneration war. Und diese Menschen wussten, dass sie nie wieder einen Krieg erleben wollten. Für die jungen Leute ist Krieg in Europa nur noch Geschichte und sie sehen dies als eine Selbstverständlichkeit an. Aber gerade das ist eben nicht sicher. Das müssen wir ihnen immer wieder klar machen.
Das Parlament: Wenn Sie den Blick von der Vergangenheit in die Zukunft wenden: was wäre Ihrer Vorstellung nach das beste aber auch das schlechteste Szenario für ein Europa im Jahr 2015?
Josep Borrell: Ich würde es bedauern, wenn Europa eine reine Freihandelszone ohne politische Union wäre. Denn das hieße auch darauf zu verzichten, ein globaler Akteur zu sein. Wir haben ein großes Interesse, nach außen geschlossen aufzutreten, um auch gegenüber Großmächten wie China und den USA unsere europäischen Werte zu verteidigen. Das setzt jedoch voraus, dass unsere Wirtschaftskraft weiter gestärkt wird. Solange Europa aber nicht gleichzeitig seine sozialen Probleme löst, wird es sehr schwierig sein, neuen Elan für Europa zu wecken. Gerade jetzt sollten wir daran denken: Es gibt ihn noch den europäischen Traum - nur im Moment ist die Angst stärker.
Das Interview führten Johanna Metz und Annette Sach