Der erste optische Eindruck: Ein Jugendbuch aus der DDR. Eine übersichtliche Typografie, die Raum zum Nachdenken lässt. Die Illustrationen erinnern an die "Trommel" oder an "Atze" (Kinderzeitschriften der DDR), ohne sie nachzuahmen. Der mehrfach preisgekrönte Klaus Ensikat, bekannter Buchkünstler mit DDR-Biografie, hat das Buch witzig und charmant illustriert. Er verfremdet Aufmarschbilder aus der Zeitung und collagiert zwischen den Texten Parteiabzeichen und Friedenstaube, zeigt Lenin als Aufziehakrobaten und Honecker als Spielzeugpferdchenlenker. Der Grafiker bürstet die Geschichte ganz schön gegen den Strich. So zeigt schon das Titelbild Stalin, der auf dem Kopf liegend unter einem Haufen Knüllpapier das "Neue Deutschland" in Brand steckt.
Die Herausgeber haben Autoren gewählt, die sich nicht verbiegen lassen. Alle sind bis auf Claus Leggewie und Rüdiger Dammann DDR-geprägt. Sie sind Profis aus der Schreiberzunft mit Freude am Formulieren und Provozieren: Rüdiger Dammann, der das Buch mit Ulrich Plenzdorf herausgegeben hat, ist erfahrener Lektor und jetzt Redakteur der Zeitschrift "Kafka". Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler. Holde-Barbara Ulrich ist freie Autorin; sie leitete einst die Redaktion der einzigen illustrierten Frauenzeitschrift der DDR, der "für dich". Peter Ensikat hat einen Namen als Schauspieler, Regisseur und künstlerischer Leiter des Berliner Kabaretts "Die Distel". Ulrich Plenzdorf schließlich schrieb mit "Die neuen Leiden des jungen W." eines der erfolgreichsten deutschsprachigen Theaterstücke. Seine Helden rieben sich mächtig an der grauen DDR.
Die Autoren haben genügend Abstand zu dieser Zeit und auch zu sich selbst. Was sie an Erfahrungen liefern, ist in einer heute selten anzutreffenden Form aufbereitet. Schon im Inhaltsverzeichnis steht zu jedem der sechs Kapitel ein Kurztext, der sofort "in medias res" geht. Das verliert nicht dadurch an Wahrheit, dass sie schon hundertmal festgestellt wurde. Jedem Autor werden um die 30 Seiten zugestanden, seine Geschichte zu erzählen. Das reicht für einen farbigen Ausschnitt. Keiner zielt auf Ostalgie, denn alle Lebenswege gehen nach 1989 oder 1990 folgerichtig und unverbogen weiter bis in die Gegenwart.
Der ABV und Hugo Leichtsinn
Auf 177 erzählende Textseiten kommen 84 Seiten eingeblockte Sachtexte. Sie informieren unpolemisch zum Beispiel über den Zweiten Weltkrieg, Konrad Adenauer, Schießbefehl, Biermann-Ausbürgerung und PDS, aber auch über die Mangelware Papier oder "Hugo Leichtsinn", einen "in Kampagnen entlarvten fahrlässig handelnden Verkehrsteilnehmer". Später taucht der ABV wieder auf, der "Abschnittsbevollmächtigte", der besagten Hugo schließlich dingfest macht. Auch das perfide Geschäft des Häftlingsfreikaufs wird beleuchtet.
Die Sachtexte sind ein echter Gewinn. Einziger Mangel: Ein Register fehlt. So wird der Leser nur per Zufall fündig, wenn er gerade die entsprechende Lebensgeschichte verfolgt. Hierher passt der sehr informative Essay von Claus Leggewie über das Dilemma der deutschen Geschichte nach 1945. Leggewie, selbst Nachkriegskind, erinnert daran, dass die "antifaschistisch-demokratische" Entwicklung nach 1945 bei vielen Menschen Hoffnungen weckte, die später in tiefe Enttäuschung umschlug. Je länger die Teilung dann dauerte, desto selbstverständlicher wurde sie für die Menschen hüben und drüben.
Rüdiger Dammann stemmt sich gegen den "Drang nach Vergessen". Er outet sich als Westdeutscher, der "wie die meisten" wenig über 40 Jahre Leben und Arbeiten, Lachen und Weinen in der DDR weiß. Aus einem bunten Leben berichtet Holde-Barbara Ulrich. Sie hat sogar den Mut, über die "kribblige Freude" der Maidemonstrationen zu Beginn der 50er-Jahre zu schreiben. Trotz enger DDR und linientreuem Elternhaus kommen ihr spätestens im Studium Zweifel; sie hinterfragt Völkerfreundschaft und Gleichberechtigung, sie vermisst schmerzlich erlebte Erfahrung. Von der unkritischen Nachrichtenagentur der DDR ADN wechselt sie zur "für dich". Als die Zeitschrift durch Gruner und Jahr zum Hausfrauenblatt degradiert wird, verlässt sie die Redaktion. "Das Seichte in dieser Gesellschaft, die ausgebreitete Dummheit und Oberflächlichkeit" stoßen sie ab.
Erfahrungen aus der Redaktion der beliebten Fernsehsendung "Prisma" bringt Daniela Dahn mit. Sie spürt dem "faulen Ossi" nach und liefert herrliche Beispiele voller Ironie. In ihren Reportagen aus Industrie und Landwirtschaft erfuhr sie unverfälscht, was es für Folgen haben konnte, wenn Arbeiter den Slogan von der herrschenden Klasse wörtlich nahmen und demonstrierten - nicht etwa für mehr Geld, sondern für weniger Arbeit!
Über die absurde Wirklichkeit des mauergeteilten Berlin berichtet Alfred Roesler-Kleint. Seine Eltern waren 1955 aus Überzeugung nach Ostberlin übergesiedelt. 50 Jahre danach stellt er fest: "Ich habe ausgeträumt und bin in einer Wirklichkeit gelandet, die der sehr ähnlich ist, vor der mein Vater, der alte Gerechtigkeitsfanatiker, einst ostwärts Reißaus genommen hat." In der Zwischenzeit brachte die Mauer einen Menschenschlag hervor, der Misstrauen und Schikane zum Beruf machte. "Wir Ostler schämten uns dafür", sagt der Autor. Ein beklemmender Text.
Denunziant zum Freund
Eben dieser Menschenschlag hat Erich Loest bekanntlich übel mitgespielt; er hat das in mehreren dicken Romanen verarbeitet. Hier schreibt er auf wenigen Seiten sehr bewegend über seinen Freund Walter, der ihn denunzierte und sich dennoch immer als Freund fühlte. Die oft quälenden Erinnerungen zeigen eindrücklich das Doppelgesicht dieses Menschen und die Schwierigkeit, ein simples Urteil zu treffen. Peter Ensikat schließlich vergegenwärtigt vergnüglich eine kleine Chronik des Herbstes 89 aus dem Kabarett der Geschichte, die Eigendynamik des Wendeverlaufs samt Chaos und Absurdität.
Bis hierher lässt jeder Autor auf seine Weise Unmut, Unbehagen, Wut, Ratlosigkeit oder Trauer produktiv werden ohne zu resignieren. Das Nachwort von Ulrich Plenzdorf allerdings ist bitter. Nicht einmal nach 1945 habe er erlebt, dass "ein Teil des hinterbliebenen Volkes so vehement auf den anderen Teil einschlug", wie es nach 1990 geschah. Der "tote Hund DDR" werde immer noch mit Worten wie Unrechtsstaat, Minenfelder, SED-Regime geschlagen. Gerade Plenzdorf, dem gewiss niemand unterstellen würde, der DDR nachzutrauern, hat damit Recht. Dagegen lässt sich nur die Wahrheit von Biografien setzen, auch wenn der Hund die Zähne mehr als nur gefletscht hat.
Fazit: Der Querschnitt ist repräsentativ für einen Teil der Bevölkerung. Besonders die Leser im Osten wissen aber schon immer, dass der Alltag in der DDR nicht nur grau war. Hoffentlich lesen es auch jene, die das noch nicht wussten. Denn irgendwie soll es doch ein Jugendbuch sein. Der Zeigefinger fehlt. Und früher in der DDR war das Papier viel schlechter.
Ulrich Plenzdorf, Rüdiger Dammann (Hrsg.)
Ein Land, genannt die DDR.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2005; 204 S., 19,90 Euro