Das Vorurteil ist ebenso alt wie beständig: Die Abgeordneten des Bundestags bekommen viel Geld und tun dafür wenig. Als Beweis dieser These gelten Bilder des spärlich gefüllten Plenarsaals. Allenfalls 50 Parlamentarier seien anwesend gewesen, berichtet ein User entsetzt im "Politikforum" über seine Beobachtungen während einer Debatte. Die lapidare Antwort eines anderen: "Die 50 in der Sitzung sind genau die Zahl, die man tatsächlich braucht. Der Rest ist nur mit sich und seiner Parteikarriere beschäftigt."
Doch das dürfte schwierig werden: Mehr als 800 Gesetzentwürfe passieren durchschittlich während einer Legislaturperiode den Bundestag. Sie werden beraten, geändert, diskutiert und schließlich verworfen oder beschlossen. Dazu kommen gut 10.000 Bundestagsdrucksachen, die es zu lesen gilt - mit 50 Abgeordneten wäre das wohl kaum zu schaffen. Während also der Plenarsaal die - zugegebenermaßen oft eher minimalistisch besetzte - Bühne des deutschen Parlaments ist, findet die Hauptarbeit der Abgeordneten hinter den Kulissen in den Ausschüssen statt. Sie sind, so besagt es Paragraph 62 der Geschäftsordnung des Bundestags, "vorbereitende Beschlussorgane" und haben die "Pflicht, dem Bundestag bestimmte Beschlüsse zu empfehlen".
22 ständige Ausschüsse hat der 16. Bundestag eingesetzt, am 30. November 2005 haben sie sich konstituiert. Von diesen Ausschüssen sind durch das Grundgesetz nur vier vorgeschrieben: Nach den Artikeln 45, 45a und 45c ist der Bundestag gezwungen, jeweils einen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union, für Auswärtiges, für Verteidigung und einen Petitionsausschuss einzurichten.
Grundsätzlich spiegelt die Einrichtung der Ausschüsse die Organisation der Bundesregierung - damit wird den Hauptaufgaben des Bundestags Rechnung getragen, Gesetze zu erlassen und die Arbeit der Regierung zu kontrollieren. In der Regel steht einem Fachministerium ein Fachausschuss im Bundestag gegenüber. Gleich beibehalten kann der Bundestag seine Ausschüsse nicht: Der Grundsatz der Diskontinuität besagt, dass nach einer Wahl der alte Bundestag nicht fortbesteht und alle Gremien und Organe neu gebildet werden müssen. Kleinere Abweichungen vom Regierungsmodell sind dabei möglich - so ist für die Angelegenheiten des Bundesinnenministeriums nicht nur der Innenausschuss, sondern auch der Sportausschuss zuständig. Ändert sich der Zuschnitt eines Ministeriums, schlägt sich das in der Organisation der Ausschüsse nieder: In der 16. Wahlperiode gibt es einen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und einen für Arbeit und Soziales - in der vergangenen Wahlerperiode war es noch ein Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit.
Ist dieses Verfahren der Ausschusseinsetzung noch verhältnismäßig unkompliziert, wird es bei ihrer Besetzung schwieriger: Welche Fraktion in welchem Ausschuss den Vorsitz erhält, wird durch eine mathematische Methode, das Verfahren nach Sainte-Lague/Schepers, bestimmt. Dafür wird die Gesamtzahl der Abgeordneten durch die Mitgliederzahl jeder Fraktion geteilt und zunächst mit 0,5, dann mit 1,5 und dann mit 2,5 usw. multipliziert. Dabei entstehen Rangmaßzahlen, die eine Zugriffsreihenfolge ergeben. Die Fraktion mit der jeweils niedrigsten Rangmaßzahl hat dann den Zugriff auf einen Ausschussvorsitz. Nach dem gleichen Verfahren wird auch das Stärkeverhältnis der Fraktionen in den Ausschüssen berechnet.
Weit diffiziler als die Berechnung der puren Ansprüche ist allerdings die personelle Zuordnung der Ausschussmitglieder. Welcher Abgeordnete in welchem Gremium arbeiten wird, entscheidet die jeweilige Fraktionsführung - und muss dabei darauf achten, den Wünschen und Kompetenzen der Ausschussmitglieder gerecht zu werden. Das Spannungspotenzial ist dabei hoch: So mancher Neu-Abgeordnete, der sich selbst für einen begnadeten Finanzexperten hält und in den besonders einflussreichen Haushaltsausschuss strebt, muss sich seine ersten parlamentarischen Sporen erst einmal im Petitionsausschuss verdienen und sich dort um die ganz konkreten Anliegen der Bürger kümmern.
Wie groß die Ausschüsse sind, hängt von ihrem Arbeitspensum ab - und bestimmt auch über ihre Beliebtheit. Besonders begehrt sind traditionell die Plätze im Haushaltsausschuss und im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Eine Sonderstellung, die ihm einen gewissen Nimbus verleiht, haben der Verteidigungsausschuss und der Ausschuss für Auswärtiges: An ihren vertraulichen Sitzungen dürfen nur Ausschussmitglieder teilnehmen, andere Parlamentarier sind nicht zugelassen. Zudem ist der Verteidigungsausschuss der einzige Ausschuss, der sich selbst jederzeit als Untersuchungsausschuss einsetzen kann.
Doch auch wenn der feingeistige Künstlertyp im Verteidigungsausschuss gelandet ist oder sich ein leidenschaftlicher Jurist nicht im Rechts-, sondern im Sportausschuss wiederfindet: Von den Abgeordneten wird erwartet, dass sie sich schnell und gründlich in die Materie einarbeiten. Schließlich werden sie in den vier Jahren einer Legislatur Entscheidungen treffen, die die Lebensumstände vieler Bürger verändern können.
Jedes einzelne Bundesgesetz, das in Deutschland erlassen wird, muss vorher im Bundestag beraten werden. Die Gesetzentwürfe kommen zu einem Großteil von der Bundesregierung, wesentlich weniger Entwürfe werden von den Fraktionen oder vom Bundesrat eingebracht. Vor der Debatte im Plenum überweist der Bundestag nach der ersten Lesung Gesetzentwürfe, Anträge und Unterrichtungen ihres Fachbereichs an die Ausschüsse, zu deren "baldiger Erledigung" sie verpflichtet sind. Weil die zu beratenden Themen oft nicht nur in einem Ausschuss behandelt werden, sondern es Überschneidungen gibt, übernimmt ein hauptsächlich zuständiger Ausschuss die Federführung, während die anderen mitberatend tätig sind und Stellungnahmen abgeben.
Bei ihrer Meinungsbildung sind die Ausschussmitglieder nicht auf sich allein gestellt: Um sich in fachlich schwierige oder politisch brisante Themen einzuarbeiten, können sie sich in - oft öffentlichen - Anhörungen von externen Sachverständigen beraten lassen und Stellungnahmen wichtiger Verbände oder Organisationen einholen. Erst nachdem das Thema umfassend diskutiert worden ist, wird im Ausschuss abgestimmt und eine Beschlussvorlage für den Bundestag formuliert, über die in zweiter und dritter Lesung debattiert und abgestimmt wird.
Dann, wenn im Plenum die Debatten stattfinden, wird die Arbeit der Abgeordneten via Fernsehübertragung auch für ein größeres Publikum sichtbar - und ganz so falsch ist der Begriff von der Bühne sicher nicht: Im Mittelpunkt der Debatten steht meist nicht, worauf sich die Abgeordneten der verschiedenen Fraktionen in den Ausschüssen einigen konnten, sondern das, worüber es Streit gab. Ritualisiertes Theater nennen das die einen, Verdeutlichung der unterschiedlichen Standpunkte der Parteien die anderen. Fakt ist: Während schauspielerische Begabung in den Ausschussberatungen eher zweitrangig ist, weil es dort keine Kameras gibt, ist sie im Plenum unverzichtbar.
Auch darüber, wie unvoreingenommen die Abgeordneten an die Themen herangehen und ob sie wirklich bereit sind, sich von anderen Meinungen überzeugen zu lassen, gehen die Meinungen auseinander. In jedem Ausschuss gibt es so genannte Obleute und Berichterstatter, die zum einen die Hauptansprechpartner für die Fraktionsführung sind und zum anderen den Kurs der Fraktionen in den jeweiligen Fachfragen mitbestimmen.
Sie beraten in Arbeitsgruppen, zu denen die Ausschussmitglieder einer Fraktion gehören, den Kurs, den die Fraktion in den Ausschussberatungen verfolgen wird. Und der wird oft schon lange im Vorfeld in den Koalitionsrunden festgelegt - für die Ausschussmitglieder bleibt dann oft nur das Feilen an Formulierungen und das formale Bearbeiten der Vorlagen, aber keine inhaltliche Gestaltungsmöglichkeit.
Ohnehin verlagert sich vieles, was eigentlich in die Ausschüsse gehört, an andere Orte. Der Bundestag kann selbst über die Einsetzung von Enquete-Kommissionen und Untersuchungsausschüssen entscheiden, die entweder Material zu komplexen politischen Themen sammeln und Bericht erstatten oder bestimmte Vorfälle untersuchen. Parallel dazu kann - und sie hat es in der vergangenen Legislatur ausgiebig getan - die Bundesregierung nach Belieben Kommissionen und Räte einberufen, in denen Sachverhalte behandelt werden, die eigentlich in den Bundestag gehören. Auch die Tatsache, dass viele Vorhaben nicht mehr im Plenum, sondern in diversen Talkshows verkündet werden, läuft der Idee zuwider, dass der Bundestag der Ort der politischen Gestaltung ist - und nährt das Vorurteil, der Bundestag arbeite nicht richtig.
Nicht von ungefähr kommen daher immer wieder Forderungen, die Ausschusssitzungen öffentlich abzuhalten. Auf wieviel Interesse diese Sitzungen stoßen können, bewies der Untersuchungsausschuss zur Visa-Affäre, der in der vergangenen Legislatur Heerscharen von Journalisten in den Bundestag und politisch Interessierte vor die Fernsehgeräte lockte. Dass das allerdings bei der Beratung diverser Änderungen der Verpackungsordnung ähnlich wäre, darf bezweifelt werden - dann kann selbst der interessierteste Bürger damit leben, dass die Abgeordneten ihre Hauptarbeit hinter den Kulissen verrichten. Doch dabei darf man sich von vermeintlich langweiligen Tagungspunkten nicht täuschen lassen: Hinter dem drögen Titel Verpackungsordnung steckt das hochpolitische Thema Dosenpfand.