Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 19 / 08.05.2006
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Kai Röger

Die Devise heißt: Dabei sein ist alles

"Public Viewing" ist angesagt: Um die Spiele zu sehen, gehen die Fans in die Szenebar

In einer ehemaligen Brauerei in Berlin Prenzlauer Berg starren rund 80 Augenpaare mit bangem Entsetzen auf die Großbildleinwand. Eigentlich ist hier niemandem zum Lachen zumute. Die deutsche Nationalmannschaft hat sich 45 Minuten von den Italienern vorführen lassen und es sieht nicht so aus, als würde sich das in der zweiten Halbzeit ändern. Gerade wird Michael Ballack von seinem Gegenspieler rüde

getackelt. "Foul an Deutschland", empört sich der alternative Live-Kommentar. Das hat gesessen. "Am Ball: Lukas Podolski, der ehemalige Fußballspieler." Gelächter - wieder ein Treffer. Die Stimmung wird immer ausgelassener, während die deutsche Elf zwei Spiele vor der WM jeglichen Ehrgeiz vermissen lässt. Als Italien schließlich 4:1 gewinnt, greifen die beiden Kommentatoren noch einmal "tief in die Mottenkiste der Geschichte", um Tröstendes in vergleichbaren Niederlagen zu finden. Seit nunmehr vier Jahren treffen sich Fußballinteressierte in Berlin zu Veranstaltungen des Weltmeisterstudios Mitte, das regelmäßig Spiele auf eine Großbildleinwand überträgt und mit eigenem Kommentar versieht. Wenn Sven-Ole Knuth, "die Stimme des Volkes" mitten unter den Zuschauern in der Kneipe steht und mit Mikro "humorvoll, kompetent und immer rückhaltlos für Deutschland" die Spiele kommentiert, ist gute Stimmung garantiert.

Fußball, insbesondere zusammen Fußball zu schauen ist zum Event geworden. Das Live-Kommentieren des Weltmeisterstudios Mitte ist nur ein Beispiel dafür. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen der Familienpatriarch mit Bier und Schnittchen in der Hand die Kurzzusammenfassungen in der Sportschau verfolgte. Heute schaut man Fußball in Szenebars, ganz entspannt auf Großbildleinwand und zwar live, am Besten noch als Konferenzschaltung, um ja kein Tor und vor allem keinen Torjubel zu verpassen. Passend dazu wird der erbitterte Kampf um den Ball, genau wie das Davor und Danach, als massentaugliche Show inszeniert, inklusive Homestorys und kleinen Skandälchen. Die Spieler auf dem Platz sind zu Hauptdarstellern geworden, die einer über das Spiel hinausreichenden Dramaturgie folgen. Nur hin und wieder, wenn das emotionsgeladene Gesicht eines bekannten Stars in Großaufnahme zu sehen ist, schneidet die Bildregie noch ein paar Einstellungen aus der Fankurve hintendran. Dann sieht man ihn wieder, den klassischen Fan mit Kutte, Schal und Fahne. Von ihm wird immer noch erwartet, dass er für authentische Stadionatmosphäre sorgt, die das Heimspiel erst zum Heimspiel macht. Doch die Fans sind zu einer Randerscheinung im Fußballshowgeschäft geworden. Eingepfercht hinter hohen Sicherheitszäunen sind sie lediglich Schwenkfutter für die Kameras. Fanclubs und "Ultras" sind heute in der Minderheit, denn König Fußball ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Der Zeitgeist gibt dem Kind einen neuen Namen: Man schaut nicht mehr einfach nur zusammen Fußball, sondern trifft sich beim "Public Viewing".

Dabei traf man sich in Deutschland schon zur WM 1954 in Wohnzimmern, Kneipen und sogar vor Schaufenstern der Rundfunkgeschäfte, um die ersten Live-Übertragungen zu sehen. Doch damals stand allein das Spiel im Vordergrund, die Stimmung war patriotisch und das Drumherum nüchtern. Erst in den 70er-Jahren eroberte der Fußball mit Poesie und pseudo-politischen Diskursen das Feuilleton. Der Wettstreit zweier Mannschaften um den Ball wurde nicht mehr nur sportlich verstanden. Fußball gewann eine politisch-gesellschaftliche Ebene.

Mit den privaten Fernsehanstalten veränderte sich die Bundesligaberichterstattung. 1989 startete RTL mit "Anpfiff - die totale Fußballshow" ein neues Format. 1992 folgte der endgültige Stilwechsel mit "ran" auf Sat1. Die Kommentatoren dribbelten mit den Worten, gaben sich verbale Steilvorlagen unterstützt von atemberaubenden Kameraeinstellungen und irrsinnigen Statistiken. Fußball war nicht mehr nur das Spiel, es ging um Spieler, Spielerfrauen, um Geld und Macht. Das System Fußball wurde lebendiger, scheinbar menschlicher. "Die Kommentare der Sportschau hatten damals keinen Glamour und klangen wie bei einer Beerdigung", erinnert sich Sven-Ole Knuth, der selbst einmal TV-Sportkommentator werden will. "Die Privaten mussten die hohen Übertragungskosten wieder einspielen, indem sie neue Zuschauer gewannen. Die Berichterstattung war nicht mehr so verschnarcht, sondern emotionaler und irgendwie auch besser." Die "Fußballshow" gewann innerhalb kürzester Zeit ein Millionenpublikum.

Dann folgte - allerdings vollkommen unbeabsichtigt - der vielleicht wichtigste Beitrag zum Erfolg des "Public Viewing": Um ihren Pay-TV-Kanal Premiere erfolgreich über das Zugpferd Bundesliga zu vermarkten, setzte die Kirchgruppe ihre bis dato beliebte "ran"-Fußballshow auf die unattraktive Sendezeit 20.15 Uhr. Statt sich aber selbst - wie erhofft - einen Premieredecoder anzuschaffen, trafen sich die Fans bei "Premiere"-ausgestatteten Freunden und in Kneipen zum gemeinsamen Fußballgucken. Eine Gemeinschaft definierte sich und gab dem Sportereignis eine weitere quasi-politische Metaebene: Die Live-Übertragung zusammen zu sehen demonstrierte auf einmal Haltung und Kritik an der allgemeinen Kommerzialisierung. Und obwohl Sat1 kurz später wieder einen Rückzieher machte, war der individualistisch denkende und konsumkritische Fußballfan geboren. "Man konnte in der Zeitung lesen, dass man sich fürs Fußballschauen nicht mehr schämen muss", merkte damals auch Hendrik Mächler. Zusammen mit Helge Christiansen gründete er 2001 "aus einer Notlage heraus" das Internetportal "sportkneipe.de", auf dem Adressen und Kurzbeschreibungen von Lokalen gesammelt werden, die ihren Gästen Live-Übertragungen anbieten. Inzwischen sind deutschlandweit an die 12.000 Übertragungsorte auf der Homepage gelistet.

Bei der WM 2002 in Japan und Südkorea kam ein weiterer Faktor hinzu, der dem "Public Viewing" eine noch größere Anhängerschaft beschied. Durch die Zeitverschiebung fielen die meisten Live-Übertragungen auf den Vormittag. In Büros und Fabriken wurde die Arbeit während der Spiele niedergelegt, Tippzettel machten die Runde. Auch das sonst nicht fußball-affine Publikum nahm jetzt an den Spielübertragungen teil, einfach weil es Spaß machte. Die WM wurde so zu den Spielen des Drumherums. Es gab sogar die ersten Fußball-Kochveranstaltungen, bei denen die Partien auch als kulinarisches Duell ausgetragen wurden: linke Tellerhälfte Sushi, rechte Cevapcici - Japan gewinnt gegen Kroatien.

Bei der EM 2004 hielt es dann niemanden mehr zu Hause. "Wenn ich schon schaue, dann schau ich mit anderen", war das weitverbreitete Diktum. An lauen Sommerabenden litten und jubelten gemeinsam vor riesigen Leinwänden Italiener, Spanier, Tschechen, Iren - und ganz viele Frauen. Fast die Hälfte aller Zuschauer waren auf einmal weiblich. Dabei sein und Spaß haben war plötzlich wichtiger als das Endergebnis. Den absoluten Höhepunkt dieser Entwicklung wird die WM 2006 in Deutschland bilden: Unzählige Kneipen, Sportheime und mehr oder weniger improvisierte "WM-Camps", aber auch Kommunen und die evangelische Kirche planen "Public Viewing"-Events. Der Kreativität beim Entwickeln neuer Formate scheint keine Grenzen gesetzt. Man darf also gespannt sein. Es zeichnet sich allerdings ab - und das nicht erst seit dem Spiel gegen Italien - dass unsere neue Gelassenheit möglicherweise die optimale Einstellung für die kommende WM ist: Dann tut das Endergebnis auch nicht so weh.

Kai Röger ist Autor beim Berliner Stadtmagazin "zitty".


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