Reden des
Bundestagspräsidenten
Reden 2004
Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zum Thema "Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Basis unserer Ethik" am 14. März 2004 in der Frauenkirche Dresden
Anrede,
"Was hält unsere Gesellschaft zusammen?" Schon diese Frage ist ein Befund über den Zustand unserer Gesellschaft - ich füge hinzu: ein beunruhigender Befund. Denn sie verrät eine tiefe Unsicherheit darüber, welche Regeln, Übereinkünfte und welche Werte für uns wichtig sind, denen wir uns gemeinsam verpflichtet fühlen können und sollen.
Seit Jahren, seit Jahrzehnten schon beobachten wir einen Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung, der zunehmenden Individualisierung, der Erosion des sozialen Zusammenhalts. Die Kraft der traditionellen Ideen - der Traditionen überhaupt - die Kraft der Institutionen schwindet, was nicht zuletzt auch äußerlich daran zu erkennen ist, dass den Kirchen, den Gewerkschaften und Parteien gleichermaßen die Mitglieder abhanden kommen.
Glaubt man einer neueren Studie, dann stehen gerade demokratische Gesellschaften in der Gefahr, Bindungslosigkeit, Desintegration und Anomie zu verfallen - also "Gesellschaften ohne Halt" zu werden. Wenn es auch - hoffentlich - nicht sobald dazu kommt: Ein Wandel der Lebensbedingungen, der Lebenseinstellungen, der Werte ist unübersehbar.
Die Gründe dafür sind schnell zu sehen: Die wirtschaftliche Globalisierung, die ja sowohl Beschleunigung wie Entgrenzung aller ökonomischen, aber auch kommunikativen, aller sozialen und ideellen Verhältnisse meint, also alle damit verbundenen Veränderungen setzen gewachsene gesellschaftliche Strukturen und alte Sicherheiten, auch ideelle und moralische Sicherheiten, unter Druck.
Die Konkurrenz um Arbeitsplätze und die Sorgen um die materiellen Lebensbedingungen erzeugen bei vielen Menschen Ängste und Unsicherheiten, aber auch ein Verständnis von Eigenverantwortung, das de facto auf Entsolidarisierung hinausläuft. Das Problem ist ja nicht, dass der ökonomische Erfolg eine wichtige Richtschnur der Gesellschaft ist, sondern die wachsende Entkoppelung von Leistung und Erfolg. An die Stelle der Erzählung "Vom Glück des Tüchtigen" tritt mehr und mehr die Botschaft vom "Überleben des Fittesten", statt des Mottos "Leistung lohnt sich" gilt nun die Spielregel "der Gewinner kriegt alles". Das macht immer mehr Angst vor Versagen, der Mut zur Bewährung zahlt sich mit der Zeit nicht mehr aus, wenn nur die Sieger die Prämie kassieren. Das alles kann nicht ohne Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Wertekonsens bleiben.
Auf die geistige Verfassung der Gesellschaft muss sich doch wohl auch auswirken, dass die Börse zur Leitinstitution und das Risiko zum Leitbild der neuen Ökonomie wurden. Wenn das Wagnis, der Einsatz mit ungewissem Ausgang zur Grundsituation unserer Zeit gehört, dann wird erst jetzt offensichtlich, wovon der Soziologe Ulrich Beck gesprochen hat, nämlich von der "Risikogesellschaft". Mitte der achtziger Jahre hat er das Buch geschrieben. Jetzt erst wird es massenhaft Realität.
Zum Leitbild Risiko passend betritt der unternehmerische Mensch die Bühne, der Mensch, der seine, wie es heißt, "Chancen" nutzt. Zu diesem Menschenbild gehört offensichtlich ein Freiheitsstreben, das vor allem darauf gerichtet ist, sich aus Fesseln zu lösen. Dazu passt die Rede von der "Entfesselung" des Individuums, vom Kampf der Modernisierer gegen die Traditionalisten, die Lust am Überschreiten der Grenzen, auch ethischer Grenzen, der angeblich notwendige Tabubruch. Tabulosigkeit, Enttabuisierung, das ist doch - wenn ich es richtig sehe - der massenmediale Volkssport: Das ist ein Phänomen, das sich in vielen Bereichen beobachten lässt und das auch den Alltag in unseren Gesellschaften immer stärker beherrscht. Unter den Gesetzen wirtschaftlicher und medialer Verwertbarkeit scheint keinerlei Tabu mehr zu gelten, ja häufig funktionieren nicht einmal mehr elementarste Regeln des menschlichen Zusammenlebens, wie zum Beispiel das Gewalttabu. Wir erinnern uns an Erfurt, an das Massaker eines Schülers an den Lehrern und Mitschülern seines Gymnasiums. Der Schrecken sitzt immer noch tief, weil wir bei solchem Anlass ahnen, dass "etwas aus den Fugen ist", vor dem uns kein Sicherheitsdienst, keine Videoüberwachung, kein Lauschangriff schützen. Auch kein "Krieg gegen Gewalt", den, so paradox es ist, gewiss irgendeiner irgendwann erklären wird.
Die mentale Grundsituation unserer Zeit, ihre geistigen Grundströmungen, reflektieren immer auch das, was in der Ökonomie, dem sogenannten "Reich der Notwendigkeit" Realität ist: eine unerhört beschleunigte ökonomisch-technologische Entwicklung, die bisherige Reichweiten, Standards und Normen permanent sprengt und die wir in der Reflexion, wie in der moralischen Verarbeitung ihrer Grenzen offenbar nicht einholen können. Wir erleben wieder etwas, von dem Günter Anders schon vor langer Zeit gesprochen hat, die Antiquiertheit des Menschen. Die sozialen und kulturellen Wirkungen sind uns trotzdem greifbar nahe gerückt: die Zerstörung gewachsener Traditionen und Gewissheiten, aber auch ganz handfester Sicherheiten, wie eine berufliche Laufbahn oder eine kalkulierte Altersversorgung. Haben das die Theoretiker einer sogenannten "Zweiten Moderne" nicht nur alles schon längst gesehen, sondern auch so gemeint? Anthony Giddens, dem neben Ulrich Beck wohl bei uns bekanntesten Soziologen der Nach-Postmoderne, hat in dieser Entwicklung einen "Akt der Befreiung" gesehen: Das Ende von Tradition sei das Ende eines "Systems von Zwangshandeln", "von Verhaltenszwängen"; jenseits davon eröffne sich"die Möglichkeit, authentische Formen menschlichen Lebens zu entwickeln, die nur noch wenig mit den formelhaften Wahrheiten der Tradition gemein haben", so Anthony Giddens in seinem Buch "Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft" 1996.
Das ist ernst gemeint und ernst zu nehmen: Ist es - wie in der industriellen Revolution - auch in der gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen Revolution unvermeidlich und in der Logik der Sache, dass sie wie jede andere Revolution die Herauslösung des Menschen aus seinen sozialen Bindungen erfordert und erzwingt, aus den Traditionen, wie den sozialen Sicherungen? Kommt dies wirklich lediglich ihrer Produktivität, der Entfaltung ihrer kreativen Ideen, ihrer unternehmerischen Kräfte zu gute, als ob es dabei um ein Szenario ginge, das McKinsey oder Roland Berger auf Bestellung entworfen hätten? Ich frage mich: Wieso rechnet niemand mit Nebenwirkungen, vielleicht sogar mit einem unkalkulierbaren Widerstand, der immer in Fällen solcher radikalen "Modernisierungsschübe" in der Geschichte eingetreten ist?
Zweifel sind also angebracht. Die Geschichte der sogenannten "Ersten Moderne", des Zeitalters der Industriegesellschaft, lehrt uns eindringlich, welche Folgen aus sozialen Verwerfungen entstehen, welche politischen Reaktionen, Exzesse der Gewalt und Unterdrückung ausgelöst werden können, wenn Völker, Klassen oder Gemeinschaften politisch wie moralisch entwurzelt und der Verführung von Demagogen anheim fallen. Es gehört diese Erfahrung zu unserer deutschen Geschichte.
Wenn ich Zweifel gegenüber einem allzu forschen Zeitgeist hege, bedeutet das nicht, dass wir uns auf die andere Seite schlagen sollten oder könnten - etwa unter dem Motto: Blasen wir das Unternehmen ab, der ökonomische, der technische, der kulturelle oder der demografische Wandel finden ohne uns statt! Verantwortlich redet und handelt nicht, wer die Illusion weckt, alles könne bleiben wie es war, der Zug der Zeit zöge einfach vorüber! Gerade weil dies nicht der Fall sein wird, ist es unsere Verantwortung zu klären, was auf dem Spiel steht:
Was hält die Gesellschaft zusammen, woraus speist sich ihre ethische Basis und Orientierung - wenn nicht aus den Traditionen, den Überlieferungen, die bisher die Geschichte deuteten? Die Tradition, das ist eine Form des Umgangs mit einem kollektiven Gedächtnis, eine Art Gefäß, aus dem jeder Mensch schöpft, wenn er sich in der Umwelt, in seiner Welt verständlich machen will, in der dieselbe gilt, aber auch um selbst zu verstehen, um urteilsfähig und dadurch frei zu sein. Wenn dieses Gefäß zerbricht, dann bedeutet das immer auch ein beträchtliches Stück Identitätsverlust.
Wer verstünde das nicht besser als Menschen, die wie die meisten von Ihnen und ich selbst in den letzten 60 Jahren gerade im Osten Deutschlands dramatische Erfahrungen mit dem Wandel der Zeiten machen mussten und durch die Kirche, den christlichen Glauben, durch die immer wieder zu erneuernde Überlieferung des Evangeliums Orientierung, Halt und Festigkeit fanden? Ist nicht dieses Gotteshaus selbst, dieses über die Jahrzehnte bewahrte Urbild von Zerstörung in dieser Stadt, jetzt das Zeichen des Wiederaufbaus, ein Beweis dafür, dass eine Gemeinde, eine Stadt oder ein Land Orte des Gedächtnisses brauchen, Orte der Erinnerung, Orte der Ungleichzeitigkeit, vielleicht auch nur "des langem Atems"?
Wir leben nach verbreiteter Meinung in einer kurzatmigen, schnelllebigen, vergesslichen Zeit. Immer wieder beklagen wir diesen Umstand, ich gelegentlich auch. Aber übersehen wir dabei nicht jene massive Gegenbewegung, die es auch gibt, die Gegenbewegung der Erinnerungskulturen, der Vergangenheitspolitiken, der Museums-Events als Massenveranstaltungen, der auf dem Buchmarkt als Bestseller verkauften Biografien. Die Suche nach Herkunft, nach individueller und kollektiver Bewältigung von Geschichte und von Lebensläufen nimmt also durchaus zu. Auch das sollten wir sehen. Denken wir nur - um nur zwei ganz harmlose heitere Beispiele zu nennen - an die erfolgreichen Filme "Goodbye Lenin" oder an "Das Wunder von Bern". Die waren ja nicht nur erfolgreich, glaube ich, weil sie gut gemachte Filme sind und auf eine bestimmte Weise heiter, sondern weil sie offensichtlich auch ein tiefer liegendes Bedürfnis angesprochen und befriedigt haben, das also vorhanden ist.
Auch Politik, sie hören und sehen es doch gelegentlich, auch Politik und politische Verantwortung wird heute nicht etwa weniger als früher damit begründet, man müsse sich vor der Geschichte legitimieren, beweisen, ihrer Herausforderung gewachsen sein.
Also: Was hält unsere Gesellschaft zusammen - wenn nicht weiterhin die gemeinsamen Erzählungen, wie man das in der neueren Philosophie gelegentlich nennt, die Mythen und die Erblasten der Vergangenheit, die Schuld, aber auch das Erinnern an glückliches Gelingen?
Eine "Basis unserer Ethik" ist offensichtlich auch weiterhin die religiöse Überlieferung, die biblische, jüdisch-christliche Tradition. Sie ermöglicht, wie der Theologe Johann Baptist Metz sagt, über die "Bindung der Vernunft an die Erinnerung" die Bearbeitung der großen ethischen Herausforderungen, die mit Modernisierungen und Rationalisierungen verbunden sind. "An den Grenzen der Moderne", so schreibt er, müsse es Institutionen geben, die sich von Erinnerungen in Anspruch nehmen lassen, in denen Leid, Unrecht und Ungerechtigkeit zur Sprache kommen und produktiv bewältigt werden können. (Metz, Religion und Politik an den Grenzen der Moderne, 1997, S. 174-92).
Dabei geht es keineswegs nur um die Erinnerung von Leid und Schuld und deren Bewältigung. Wie im Kirchenjahr, so kann im säkularen Bereich der Ritus sich wiederholender "Erinnerung an die Träume und Erinnerung an die Opfer", so hat es Fulbert Steffensky einmal sehr schön zusammengefasst, Zusammenhalt stiften. Die Erinnerung kann auch Widerstand organisieren, Widerstand gegen erzwungenes Vergessen, das Menschen ihrer Rechte oder ihrer Würde enteignet. Kollektive Erinnerung ist nötig, um der Manipulation oder der politischen Vereinnahmung zu wehren. Um zu verstehen, was Menschenwürde, Gerechtigkeit oder Solidarität bedeuten und um diese Begriffe vor Entleerung oder Relativierung zu schützen, müssen wir die alten Geschichten kennen, aus denen das Verständnis genau dafür überhaupt erwachsen ist.
Angesichts seines zuweilen geradezu überbordenden Relativismus, das ist ja das, was uns auch beschäftigt und bedrängt, hat die Vergewisserung über die ethischen Begründungen unseres gesellschaftlichen, politischen, individuellen Handelns neue Aktualität bekommen. "Elementare Krisen erfordern elementare Versicherungen", so hat Johann Baptist Metz dieses Bedürfnis beschrieben. Vor diesem Hintergrund ist es wohl kein Zufall, dass sich vor kurzem zwei so unterschiedliche Diskutanten wie Jürgen Habermas, der Philosoph eines aufgeklärten kommunikativen Handelns, und Joseph Kardinal Ratzinger, der Präfekt der Glaubenskongregation, früher hätte man vielleicht Großinquisitor zu ihm gesagt, die beiden so gegensätzlichen Männer öffentlich mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob der demokratische Staat ein Begründungsdefizit habe, also die Frage nach seinem Fundament. Dabei kam interessanterweise auch der Philosoph, der gelegentlich von sich sagte, ich bin religiös unmusikalisch, zu dem Ergebnis, dass im christlichen Glauben etwas intakt geblieben sei, was die Gesellschaft verloren habe, nämlich "hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge". Ich füge hinzu: und für deren positive Kehrseiten auch. Denn ich habe als Christ immer gefunden, in der Bibel stehen unendlich viele Geschichten von gelingendem Leben und daher weiß ich, was misslingendes Leben ist.
Schon vor Jahren hat John Rawls, der berühmte amerikanische Rechts- und Moralphilosoph, auf die Notwendigkeit eines fundamentalen Konsenses gerade für pluralistische Gesellschaften hingewiesen, ohne den diese nicht lebensfähig sind. Diesen Konsens stellt offensichtlich nicht der Markt her. Aber auch die Demokratie kann das nicht aus sich heraus. Pluralistische Ordnungen sind wie die Austauschbeziehungen, die auf dem Markt gelten, zunächst nur an formale Regeln gebunden, die sich den Kategorien von gut und böse, gerecht und ungerecht entziehen. Nicht die Demokratie oder der Markt, sondern die Marktteilnehmer oder Wähler, sprich Bürger, bringen ethische Bindungen, Normen und Orientierungen ins Spiel, allerdings eben aus Quellen, über die der Markt oder die Demokratie nicht selbst verfügen. Der frühere Verfassungsrichter Böckenförde hat das Dilemma des demokratischen Staates präzise in diesem einen Satz, der nun immer wieder zitiert wird, beschrieben: "Der freiheitlich säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann". Woher kommt es dann, was die Gesellschaft zusammen hält?
Ich will vier Antworten auf diese Frage geben.
Meine erste Antwort steht auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem gerade Gesagten: Kein gesellschaftlicher Zusammenhalt ohne Bekenntnis zum demokratischen Staat, ohne Respekt vor seinen Institutionen, ohne Interesse und im besten Fall sogar Leidenschaft für die öffentlichen Angelegenheiten.
Der Akzent liegt bei mir auf Bekenntnis, Respekt, Interesse und Leidenschaft: Weil der demokratische Staat von sich aus wertneutral ist, also angewiesen ist auf ethische und normative Vorgaben, ob durch die Verfassung, durch den Gesetzgeber oder den Richter - deshalb kommt es auf die individuelle und kollektive Teilhabe und Teilnahme der Staatsbürger und Staatsbürgerinnen an, auf ihr Interesse, ihre Initiative, ihre Ideen, wenn das staatliche Handeln verantwortlich und ethisch begründet sein soll. Im Unterschied zu Diktatur, Oligarchie oder Monarchie muss der demokratische Staat sogar dafür sorgen, dass die Quellen der Initiative und der Partizipation, aber auch die Sinnressourcen und gemeinsamen Wertüberzeugungen nicht "austrocknen". Weil der demokratische Staat über diese Quellen nicht selbst verfügt, ist er auf die Freiheit angewiesen, das heißt auf die Freisetzung von Engagement, Leidenschaft und Interesse, auf diejenigen, die sich der Meinungsfreiheit wie der Organisationsfreiheit bedienen, der freien Öffentlichkeit, um dem staatlichen Handeln Legitimität und Zustimmung zu verleihen.
Die zutreffende Behauptung, dass die Demokratie die einzige Staatsform ist, die Freiheit dauerhaft ermöglichen kann, die kann man deshalb auch umdrehen: Freiheit kann nur in einer Staatsform gedeihen, die demokratisch ist. Freiheit setzt also auch eine Bereitschaft zur Selbstbindung des Individuums an Regeln voraus, die Bereitschaft der Teilnahme und Anteilnahme am Ganzen, am Anderen, am Kompromiss. Wenn dies fehlt, wenn man sich nur von einem gewissermaßen "negativen" Freiheitsbegriff im Sinne des Freiseins von etwas leiten lässt und die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen radikal betont, ist der Schritt hin zur Beliebigkeit, Verantwortungslosigkeit, Rücksichtslosigkeit nicht weit.
Vor manchen Gefahren sind wir hoffentlich und endgültig durch die deutsche Geschichte nachdrücklich gewarnt. Die Weimarer Republik ging auch daran zugrunde, dass es zu wenig Demokraten gab. Deshalb gilt das öffentliche und politische Augenmerk zu Recht auch dem vorhandenen Potential autoritärer, nationalistischer, demokratiefeindlicher Haltungen, die es ja auch bei einem Teil unserer Bevölkerung gibt. Es ist in allen Demokratien vorhanden - und es nimmt zu, wenn wirtschaftlicher Strukturwandel soziale Verwerfungen erzeugt.
Leider fördert die Globalisierung bei vielen Menschen genau diesen Vertrauensverlust gegenüber demokratischen Ordnungen. Was wir erleben und was die Menschen mehr oder minder bewusst oder eben mehr oder minder diffus empfinden, ist doch eine gewachsene Diskrepanz zwischen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer, technologischer Entwicklungen und Prozesse einerseits und andererseits der Langsamkeit und Begrenztheit demokratischer, politischer Prozesse und Entscheidungen. Ich habe dafür immer ein Beispiel, das Sie alle kennen. Sie erinnern sich, es gibt jetzt Nachwirkungen dieses Vorgangs vor Gericht, die Fusion von Mannesmann und Vodafone. Erinnern Sie sich noch, vor unseren Augen fand nur eine Anzeigenschlacht in den großen Zeitungen statt. Die war schon sehr teuer. Aber innerhalb von - ich weiß nicht mehr - zwei, drei Monaten, war die Titanenschlacht des Management - irgendwo auf der Hinterbühne unseren Blicken verborgen - entschieden und über das Schicksal von mehreren zehntausend Arbeitnehmern und das heißt, mehreren hunderttausend Menschen und über eine Bilanzsumme - ich weiß nicht von wieviel zigmilliarden Euro - entschieden. Und wenn wir damit vergleichen, wie schwer wir uns tun, mit Steuerreform, Gesundheitsreform, Rentenreform, wie sehr wie uns quälen, das meine ich mit dieser Diskrepanz, die mehr oder minder bewusst empfunden wird und die zur Ungeduld, zur Enttäuschung, zur Abwehr, zur Häme, ja zu immer tiefer gehender Skepsis gegenüber der Demokratie, ihren Institutionen und ihrem handelnden Personal führt. Die vermeintliche Ohnmacht der Politik gegenüber wirtschaftlichen Entscheidungen und einem Standortwettbewerb der Unternehmen um die geringsten Gemeinkosten, sie schwächt die staatliche Handlungsfähigkeit, Finanzknappheit führt dann im Weiteren auch zur Zurücknahme öffentlicher Leistungen und Investitionen. Zunehmend weniger Menschen bringen vor diesem Hintergrund Hoffnung in die politische Gestaltungskraft auf.
Wenn das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Problemlösungsfähigkeit der Politik wegbricht, und das ist etwas anderes als die, wie ich finde, demokratische Tugend der Skepsis gegenüber Politikern da oben. Skepsis ist immer sinnvoll. Wenn das Vertrauen wegbricht, wenn keine Alternativen mehr sichtbar gemacht werden, dann verschwindet das notwendige Engagement, dann verstärkt sich der Trend zur Personalisierung und Skandalisierung von Politik, eine Tendenz, bei der am Ende den Politikern wie den demokratischen Institutionen gegenüber nur noch mit Geringschätzung oder gar Häme begegnet wird. Dort finden wir uns inzwischen immer öfter wieder - und ich frage mich schon, wie bei soviel diffuser und zum Teil sogar organisierter Verachtung - man lese nur einmal die Zeitung mit den großen Buchstaben -, den Bürgern noch ein lebendiges Bewusstsein von der Kostbarkeit, weil Verletzbarkeit der Demokratie bleiben soll.
Meine zweite Antwort auf die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält, heißt Gerechtigkeit. Eine der - wenn ich mir eine persönliche Bemerkung erlauben darf - mich mein ganzes Leben am meisten begleitenden, weil am meisten beeindruckenden Stelle aus dem alten Testament findet sich beim Propheten Micha 6,8: "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr bei dir sucht: Nichts anderes als Gerechtigkeit tun, Freundlichkeit lieben und behutsam mitgehen mit deinem Gott." Dass menschenwürdiges Leben und dass friedliche Zusammenleben in einer Gemeinschaft Gerechtigkeit voraussetzt, ist ein Gedanke biblischen Alters.
Etwas historisch Neues zur Lösung der Gerechtigkeitsfrage trat erst - ich mache nur einen ganz kurzen geschichtlichen Exkurs - nach der Zerstörung der alten ständischen Ordnungen im Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen und Industrialisierung auf den Plan. Nach dem Wegfall der bis dahin dominierenden Formen herrschaftlicher Fürsorge und Abhängigkeit, konnte Solidarität nur durch das Zusammenstehen der Schwachen wachsen. Organisierte Solidarität, wie sie in der Arbeiterbewegung sich entwickelte, mündete seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die frühe Sozialgesetzgebung. Liberale oder Konservative - wie Bismarck in Deutschland - kamen aus rationalem politischen Kalkül oder aus Sorge um die Autorität des Staates zu der Auffassung, dass ein Mindestmaß an sozialer Sicherung zur Abwehr jener politischen Kraft nötig sei, die dann später die weitere Ausgestaltung des Sozialstaats prägte, die Sozialdemokratie.
Die ethische Begründung sozialstaatlicher Regelungen - nämlich den unverschuldet in Not Geratenen zu helfen - sie gilt gewiss ungeachtet veränderter sozialer und politischer Bedingungen. Aber der moderne Sozialstaat unterscheidet sich inzwischen von der nach Bedürftigkeit und ohne jeden Rechtsanspruch gewährten Mildtätigkeit traditioneller Armenhilfe meilenweit. Die modernen sozialstaatlichen Regelungen nehmen anstelle von nachsorgenden immer mehr vorsorgenden Charakter an. Neben der sozialen Absicherung gegen unverschuldete Lebensrisiken trat die Versicherung gegen gesamtwirtschaftliche Risiken wie Arbeitslosigkeit - und zwar nicht nur passiv, sondern im wachsendem Maße aktiv, etwa durch den Ausbau des Aus- und Weiterbildungssystems oder durch eine aktive Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik.
Tatsächlich ist der Unterschied zwischen traditioneller Bedürftigenhilfe und den Handlungsfeldern des modernen Sozialstaats auch der Anlass zur Klage über einen nicht mehr bezahlbaren und nicht mehr allein die Bedürftigsten begünstigenden Aufwand. Den Sozialstaat auf den Aspekt der Hilfeleistung für die Bedürftigsten wieder zurück zu drehen, würde aber bedeuten, die Rationalität und die Funktionen des modernen Sozialstaats insgesamt in Frage zu stellen.
Ich halte den Sozialstaat, so reformbedürftig er ist, für die größte europäische Kulturleistung. Er unterscheidet unseren Kontinent mehr als alles andere von den anderen Kontinenten, er trägt die Werte, die die "europäische Lebensform" ausmachen. Die soziale Einhegung der freien Marktwirtschaft hat wesentlich zum Erfolg der europäischen Demokratien beigetragen. Seine aktuelle Krise gefährdet deshalb die Grundlagen unserer Gesellschaft.
Soziale Gerechtigkeit ist für die Stabilität einer Demokratie eine wesentliche Bedingung, weil davon abhängt, ob diese von allen und insbesondere den schlechter gestellten Bürgerinnen und Bürgern als im Großen und Ganzen, als für ihr Leben dienlich und sinnvoll angesehen wird. Wenn das Gerechtigkeitsempfinden durch die Politik oder die wirtschaftlichen Verhältnisse systematisch verletzt wird, kann nicht erwartet werden, dass die demokratischen Regeln gestützt werden.
Insofern ist Gerechtigkeit eine wesentliche Legitimationsgrundlage des demokratischen Staates und des Zusammenhalts. Die politische Gemeinschaft einer Demokratie wird bei allen kulturellen Differenzen erst durch eine Übereinstimmung in Fragen der Gerechtigkeit gestiftet, das heißt durch eine wechselseitige Anerkennung von Rechten, die es den Menschen ermöglicht, neben ihrer Rolle als konkurrierender Marktteilnehmer die Rolle des kooperierenden Bürgers einzunehmen und den Standpunkt des Eigeninteresses hinter sich zu lassen.
Lange Zeit, meine Damen und Herren, war die Gerechtigkeitsfrage vor allem eine Frage der gerechten Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum durch Arbeit. Inzwischen wird diese "alte" Gerechtigkeitsfrage überlagert von der Frage der Teilhabe an Arbeit. Die Massenarbeitslosigkeit ist insofern das größte Gerechtigkeitsproblem. Übrigens auch deshalb, weil durch sie alle anderen Systeme der sozialen Sicherung, die am Arbeitseinkommen festgemacht sind, ebenfalls Not leiden. Nun sind wir mitten in einer Phase des Streites über Sozialstaatsreformen und deren Verwirklichung. Wenn man so will, ist es ein Paradigmenwechsel. Weniger für die Ostdeutschen, die haben das in bestimmter Weise schon hinter sich, sondern für die Westdeutschen. Ich erinnere mich, dass ich früher gelegentlich mit neidvollem Staunen nach dem Westen geschaut habe und die Beobachtung gemacht habe, dass die sozialen Konflikte in der alten Bundesrepublik unter anderem deshalb so friedlich gelöst werden konnten, weil am Schluß immer irgendwie Zuwächse zu verteilen waren. Vielleicht nicht immer ganz gerecht, aber es waren Zuwächse zu verteilen. Was passiert mit einer Gesellschaft und in einer Zeit, in der wir jetzt sind, wo Zuwächse nicht zu verteilen sind, weil es sie nicht gibt? Das ist ein fundamentaler Wechsel. Auch deshalb ist die Laune so schlecht und die Stimmung so mies im Lande. Dass ist etwas, was ein Gutteil der Menschen in Deutschland nicht gewohnt ist.
Man könnte das erläutern am Beispiel der Arbeitslosenversicherung, am Beispiel des Gesundheitswesens und so weiter und so fort. Ich will mich nicht allzu sehr mit den aktuellen Fragen beschäftigen: Aber, wie buchstabieren wir - und das war meine These - Gerechtigkeit, die so fundamental ist für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, wenn diese Gerechtigkeit nicht mehr exekutiert werden kann durch Verteilung von Zuwächsen, sondern durch das Verteilen von Risiken, von Chancen, von Verzicht. Also müssen wir die Kriterien für Gerechtigkeitspolitik umstellen und sie formulieren im Sinne einer fairen Verteilung von Rechten und Pflichten, von Chancen und Lasten.
Ich komme zur dritten Antwort. Trotz der inzwischen - wie ich allen Meinungsumfragen entnehme - verbreiteten Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen, gilt praktisch das St.-Florians-Prinzip: Veränderungen ja, aber bitte nur bei den anderen! Deshalb heißt meine dritte Antwort Solidarität. Solidarität ist die Bereitschaft, über Rechtsverpflichtungen hinaus füreinander einzustehen. Ohne Solidarität mit den Schwächeren, aber auch ohne Solidarität als Instrument der Schwachen im Kampf um ihr Recht, gibt es keine menschliche Gesellschaft. Solidarität ist gewiss die erste Legitimationsgrundlage des Sozialstaats. Im modernen Sozialstaat haben Elemente der Klassensolidarität - das Wort gehört zu seiner Geschichte - überlebt, sind viele sozialstaatliche Regelungen noch auf die Arbeitnehmerschaft beschränkt bzw. an abhängige Arbeitsverhältnisse gekoppelt. Für die inklusive, der modernen Demokratie entsprechende Ausgestaltung der Solidarität, die keine religiösen, sozialen, geographischen, ethnischen oder kulturellen Grenzen kennt, ist deshalb die moderne staatliche Organisation eine wichtige Erweiterung. Wenn die Praxis der Solidarität sozialstaatlich nicht abgesichert würde, bliebe das Maß der Hilfe davon abhängig, ob man Mitglied stärkerer oder schwächerer Gemeinschaften, oder ob man gar Außenseiter ist. Das hieße faktisch eine Brutalisierung der Gesellschaft.
Solidarische Verantwortung - verweist in seinem wörtlichen Ursprung aus dem Lateinischen solido (im Ganzen) und solidus (ganz, völlig, vollständig) auf noch etwas anderes: nämlich, dass es bei Solidarität um auch das Ganze, um das Gemeinwesen, um das Gemeinwohl geht. Als Wert, der sich an der Gemeinschaftlichkeit und an der Menschenwürde orientiert, geht die Solidarität über das hinaus, was einmal die "Sittlichkeit" der bürgerlichen Gesellschaft war. Der gesellschaftliche Zusammenhalt kann nur gelingen, wenn die Bürger bereit sind, sich für gemeinsame Interessen einzusetzen und auch die Lasten der Solidarität - auch der staatlich organisierten Solidarität - zu tragen. Jürgen Habermas hat einmal von der Solidarität als einer knappen Ressource gesprochen. Das ist richtig, weil ihre sozialökonomischen Grundlagen, z. B. ein gleiches soziales Schicksal, was wir früher Klassenexistenz genannt haben, weil genau das sich verändert hat: der Individualismus ist offensichtlich kein Solidarität erzeugendes gemeinsames Schicksal. Um so wichtiger werden die ideell-moralischen und die religiösen Grundlagen von Solidarität: Das Bewusstsein vom Wert der Nächstenliebe und der Geschwisterlichkeit.
Und damit bin ich bei meiner vierten Antwort: Menschenwürde, der zentrale Begriff unseres gesellschaftlichen Miteinanders. Die Achtung der Menschenwürde und aller daraus abgeleiteten Grundrechte sind gewissermaßen das "säkulare Glaubensbekenntnis" unserer Gesellschaft. Doch die säkularisierte Welt ist sich ihrer ehtischen Grundlagen nicht mehr ganz sicher, weil sie den christlichen Ursprung nicht mehr teilen oder nachvollziehen kann. Wer sich heute auf die Menschenwürde beruft, gilt vielen als pathetisch, altmodisch, konservativ. Das ist insofern berechtigt, als sich der Gedanke der Menschenwürde auf ein 2000 Jahre altes Fundament christlich-jüdischer Kulturgeschichte berufen kann.
In dem Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar", der wichtigste Satz unserer Verfassung, begegnen wir einem Menschenbild, das im Schöpfungsglauben vorgegeben ist, in der Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen. Sie setzt aller Macht des Menschen über den Menschen Grenzen. Dem demokratischen Staat ist damit aufgetragen, die Freiheit des Individuums zu schützen. Das begründet übrigens auch sozialstaatliche Institutionen. Weil der moderne Sozialstaat sich nicht über moralische Hilfspflichten definiert, sondern über individuelle Rechtsansprüche, ist die einzelne Person auch in Phasen existentieller Abhängigkeit vor der Rolle des bloßen Empfängers von Leistungen bewahrt und bleibt die Würde des Einzelnen gewahrt.
Individuelle Freiheit und Rechte, die eine autonome Lebensgestaltung ermöglichen, sind das Kernstück einer liberalen Demokratie, weil sie eine Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen innerhalb einer politischen Gemeinschaft Raum geben. Im Unterschied zu religiösen, ethnischen, lokalen oder kulturellen Gemeinschaften, die durch Übereinstimmungen der Lebensformen gestiftet werden, ist der, wie wir sagen, säkulare Staat für diese Unterschiede "blind" oder etwas schwächer gesagt "neutral" und wird der Status des Sozialbürgers unabhängig von der Zugehörigkeit zu diesen Gemeinschaften allein durch die Staatsbürgerschaft gewährt.
Die Würde des Menschen und die Freiheit des Individuums sind allerdings nicht nur durch die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft gekennzeichnet. Die Debatte um die Chancen und Risiken der Gentechnik hat wie keine andere bewusst gemacht, dass sich unsere modernen, offenen, dynamischen Gesellschaften immer wieder darum bemühen müssen, einen ethischen Grundkonsens zu formulieren und zu schützen. Wissenschaftlicher Erkenntnisdrang und wirtschaftlicher Verwertungsdruck haben schon in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt, dass ethische Grenzen überschritten worden sind. Doch die Vorstellung, Menschen nach Maß zu klonen, erscheint den meisten eher erschreckend als erhebend. Offenbar gibt es in unserem Land und wohl auch noch im größeren Teil Europas ein verbreitetes moralisches Empfinden dafür, dass damit eine Grenze überschritten würde, vor der wir Menschen Halt machen sollten.
Die Menschenwürde gebietet uns, menschliches Leben nicht zum bloßen Mittel zu degradieren. Bisher hat mir noch niemand plausibel begründen können, warum menschliches Leben nicht von Anfang an - also mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle - Anspruch darauf haben sollte, dass seine Würde geachtet und geschützt wird. Von Anfang an ist der Mensch ein "Wer" und nicht nur ein "Was". Deshalb bin ich froh darüber, dass in Deutschland ein breiter Konsens darüber besteht, die Forschungsinteressen in der Bioforschung nicht höher zu bewerten als die Würde und das Lebensrecht menschlicher Embryonen. Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin für ein forschungsoffenes Klima in Deutschland und Europa. Ich bin auch dafür, die Chancen des medizinischen Fortschritts zu nutzen. Aber jede Forschung muss sich auf diesen ersten und wichtigsten Satz unseres Grundgesetzes verpflichten lassen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar".
Die Gentechnik-Debatte war insofern eine rühmliche Ausnahme, als hier die Gesellschaft - auch der Deutsche Bundestag - ernsthaft darum gerungen hat und ringt, was die Menschenwürde gebietet. In anderen Fragen geht die gesellschaftliche Debatte leider immer häufiger, immer schneller, immer leichtfertiger über religiös begründete ethische Einwände hinweg.
Ich nehme dafür ein ganz anderes Beispiel, ein von vielleicht geringerem Gewicht als die medizin-ethische Fragestellung. Das Beispiel heißt, sie werden überrascht sein, der verkaufsoffene Sonntag. Bei der Frage, ob wir die Ladenöffnungszeiten nun vollends liberalisieren oder ob der Sonntag geschützt bleiben soll, geht es um eine elementare Grundfrage, die die meisten nicht wahrnehmen: Sind wir tatsächlich bereit, den Menschen auf seine beiden marktgemäßen Rollen zu reduzieren - nämlich auf seine Rollen als Produzent und als Konsument. Das sind die beiden Funktionen, in denen der Mensch auf dem Markt vorkommt. Oder verteidigen wir andere Dimensionen des Menschseins: das Menschenbild der Freiheit, des Schöpfers Ebenbild, nämlich der Mensch, der in seinem Streben innehält, das Gute lobt und feiert. Widerstehen wir einem Menschenbild, das den Menschen vorrangig an seiner Leistungsfähigkeit als Arbeitskraft und als Kaufenden bemißt, oder halten wir andere Dimensionen des Menschseins gegenwärtig, darum geht es beim Sonntag. Da geht es nicht um kirchliches Sondergut, aber um ein Bewusstsein dieser Dimensionen der Menschen, des Menschseins, das wir pflegen am Sonntag.
Meine Damen und Herren, unser Staat ist säkular, aber er ist deshalb keineswegs wertneutral. Die Politik hat ein lebendiges Interesse, sie muss es haben, an Institutionen der Wertevermittlung. Damit sind nicht nur die Kirchen gemeint, die gelegentlich - besonders anlässlich außerordentlicher Schicksalsschläge - gefragt sind, sondern vor allem auch jene großen Bildungsinstitutionen, die wir uns leisten, die Schulen und die Universitäten.
Leider liegt unsere Bildungsdebatte - wenn ich es richtig sehe - bisher in einem Trend, bei dem ökonomische Gesichtspunkte mehr und mehr soziale und ethische Gesichtspunkte verdrängt haben. Die Eigenschaften, die auf dem Markt Erfolg versprechen, reichen aber nicht aus, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern und um dem Einzelnen zu ermöglichen, menschenwürdig zu leben.
Wenn aber Lebenssinn, wenn Orientierung, wenn demokratische Werte nicht überzeugend vermittelt werden, dann haben es verquere Ideologien leicht, fruchtbaren Boden zu finden. In den Köpfen - so meine ich - in den Köpfen junger Menschen muss deshalb mehr sein als die Fähigkeit, sich im Konkurrenzkampf durchzusetzen. Eine einseitige Ausrichtung von Schule auf den Arbeitsmarkt und die Vernachlässigung der anderen Dimensionen von Bildung und vor allem Erziehung halte ich für eine Engführung, die letztlich den demokratischen Wertekonsens gefährdet.
Wenn es auch in Zukunft demokratisch zugehen soll, brauchen wir Erziehung zur verantworteten Freiheit. Die Fähigkeit, Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, soziale Demokratie und rechtsstaatliche Prinzipien als kostbares Angebot für Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erkennen, das sind Schlüsselqualifikationen für die Bürger einer demokratischen Gesellschaft, nicht nur naturwissenschaftliche Kenntnisse, technische Fertigkeiten, die Beherrschung des Internet und von Fremdsprachen und ein gewisses Grundverständnis von dem, was da irrsinnigerweise an der Börse vor sich geht. In diesem Sinne sollte Schule nicht nur Sachkompetenz vermitteln - das sind wahrlich alles wichtige Kenntnisse -, sondern die Schule sollte auch Sinnkompetenz vermitteln, Orientierungswissen, um es noch nüchterner auszusprechen, nicht nur Faktenwissen. Natürlich ist es eine Aufgabe für alle Fächer. Ich kann mir zum Beispiel - um nur eins zu nennen - nicht vorstellen, dass im Biologieunterricht Aufbau und Struktur der DNA erläutert werden, ohne auf die ethischen Fragen der Gentechnologie einzugehen. Es macht an dieser Stelle keinen Sinn, nur Fakten zu vermitteln.
Nicht nur als Christenmensch bin ich der Ansicht, dass unsere Gesellschaft die Kraft und den Mut zur Werteerziehung aufbringen muss. Das Diskutieren und Nachdenken über ethische Fragen braucht mehr Zeit, als in den Lehrplänen der meisten Fächer vorgesehen ist. Auch die Kirchen allein wären heute überfordert, sollten sie das Defizit an Sinn, an Orientierung etwa im Religionsunterricht ausgleichen, zumal sie ja nur einen Teil der jungen Leute erreichen.
Man muss, meine Damen und Herren, das christliche Fundament unseres Wertekonsenses doch nicht teilen, um zu sehen, dass Gebote wie die Erhaltung der Schöpfung, Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität auch in einer säkularen Gesellschaft nicht von gestern sind. Sie sind notwendig, weil eine demokratische Gesellschaft etwas anderes ist als ein Nebeneinander von Individuen, weil Pluralismus etwas anders ist als Gleichgültigkeit, weil Freiheit etwas anderes ist als Beliebigkeit. Das gilt mit Blick auf die eigene Gesellschaft, das gilt aber ebenso mit Blick auf eine friedliche Weltordnung. Ich mache einen kleinen "Exkurs" in die Weltpolitik, weil ich meine, dass die vier Prinzipien - Demokratie, Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenwürde - auch im Umgang der Staaten miteinander die leitenden Orientierungen und Werte sein sollten.
Die Bedrohung durch den internationalen Terror - die uns in diesen Tagen wieder bewegt - der Irakkrieg und seine Folgen haben gezeigt, dass sich Frieden nicht allein mit der Macht wirtschaftlicher und militärischer Überlegenheit sichern lässt, auch nicht durch die einzig verbliebene Supermacht und deren Stärke. Keine politische Ordnung ist von Dauer, die nicht von einer Mehrheit der Betroffenen als legitim und fair empfunden wird. Ebenso wenig reicht es nach den bisherigen Erfahrungen aus, die Welt lediglich nach den Regeln der ökonomischen Globalisierung - also auf der Grundlagen einer liberalen Wettbewerbsordnung mit Freihandel, freiem Kapitalverkehr und freiem Zugang zu Wissen und Informationen - zu organisieren.
Eine "positive" Friedenspolitik und eine "positive" Globalisierungsstrategie können nur auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Normen entwickelt werden. Entsprechend hat unsere europäische Grundwertetradition längst Einzug in das Völkerrecht gehalten, Menschenwürde und Menschenrechte stellen einen verbindlichen Rahmen. Schwieriger ist es, weltweit Gerechtigkeit zu schaffen. So sind wichtige Grundrechte wie soziale Sicherung, Bildung oder eine gesunde Umwelt zwar innerhalb vieler Staaten anerkannt, verpflichten aber zu keinen Leistungen zwischen den Staaten, denken Sie mal an die Rolle der USA im Zusammenhang mit dem Protokoll von Kyoto und ähnliches. Ein Gerechtigkeits-Dialog über die Grenzen verschiedener Kulturen hinweg ist deshalb schwierig, weil die Vorstellungen von Gerechtigkeit noch weiter auseinander gehen, als sie das innerhalb von Staaten und Kulturen schon tun.
Ich will dennoch in drei Stichworten skizzieren, was eine gerechte, von allen akzeptierte Weltordnung ausmachen könnte: ein an den Grundbedürfnissen orientierter Ausgleich von Gütern, Chancengleichheit bei Arbeit und Bildung und der gleiche Zugang zu natürlichen Ressourcen und öffentlichen Gütern. Wenn sie das bedenken, leben wir in einer Weltordnung der Ungerechtigkeit. Der globale Markt muss deshalb einen Rahmen politischer Koordination und Steuerung bekommen, der den unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten der Volkswirtschaften, der Erhaltung der Umwelt und der Sicherung der Grundbedürfnisse aller Menschen Rechnung trägt. Das ist bisher noch nicht der Fall, und das wird erst möglich sein, wenn an die Stelle des Vorrangs nationaler Interessen der Vorrang eines wohlverstandenen gemeinsamen globalen Interesses tritt - des Interesses an einer nachhaltigen Sicherung des Friedens und der Lebenschancen in allen Teilen der Welt. Wenn wir das nicht begreifen und - wie mühselig es auch ist - Schritt für Schritt umsetzen, wird uns das Problem des Terrorismus nie wieder verlassen.
Ein Weg dazu ist, die eigenen Kapazitäten in der jeweiligen Weltregion zu fördern und so Lösungswege zu zeigen. Eine Übertragung des westlichen Konsum- und Produktionsmodells widerspräche übrigens nicht nur der ökologischen Vernunft - sie würde unseren Globus zugrunde richten - sondern auch der ökonomischen Weitsicht. Ein Entwicklungsmodell, das den Reichtum der in den verschiedenen Kulturen vererbten Erfahrungen nicht fördert, raubt den Menschen dort nicht nur die Fähigkeit zur selbstständigen Lösung ihrer Probleme, sondern vor allem die eigene Würde. Um noch einmal auf das Thema zu sprechen zu kommen, das uns aktuell emotional stark beschäftigt: Die kollektive Erfahrung von Erniedrigung ist eine der wichtigsten Quellen von Gewalt geworden.
Ich halte es übrigens keineswegs für naiv, die Einhaltung von Grundwerte in der Weltpolitik zu fordern. Ich bin überzeugt, dass dies letztlich in unserem eigenen Interesse liegt. Denn ohne fairen Ausgleich zwischen den Weltregionen, ohne ständigen Dialog zwischen den Weltkulturen - die Religionen ganz wesentlich eingeschlossen - ohne gute Entwicklungschancen für die sehr verschiedenen Wirtschaftskulturen wird es keine politische Stabilität geben. Auf längere Sicht führt - das meine ich wirklich - der realistischere Weg zu einer stabilen Weltordnung über Freiheit und Menschenrechte, Recht und Gerechtigkeit, Solidarität und Kooperation als leitende Werte der Politik und als Normen, die die Zustimmung aller finden können. Es mag gegenwärtig realistischer sein, die Stabilität der Weltordnung auf der Macht und Überlegenheit der einzigen Supermacht zu gründen und sich mit dieser zu verbünden. Auf Dauer glaube ich nicht, dass das gehen wird, sondern dass wir uns auf solche Grundwerte und entsprechende Handlungsmaxime einigen.
Zum Schluss: Wertorientierungen sind so etwas wie die "Währung" mit der Verständigung innerhalb von und zwischen Gesellschaften gelingen kann. Im Sinne einer gerechten Weltordnung und im Sinne eines friedlichen Miteinanders muss unsere Gesellschaft also ein vitales Interesse daran haben, dass Menschen wieder lernen, Sinnfragen zu stellen, sich über Ziele zu verständigen, nach Werten und Tugenden zu fragen. Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft, wie der zwischen Gesellschaften lässt sich jedenfalls nicht über Geld und Macht, über Markt- und Rechtsbeziehungen herstellen. Bindende Kraft entfaltet erst eine Übereinstimmung an Grundwerten und Grundüberzeugungen. Diese zu erzeugen und aufrecht zu erhalten, ist aber nicht nur, nicht zuerst die Aufgabe von Politik.
Ethik und Ökonomie sind inkommensurabel ja inkompatibel - es sei denn, wir verwechseln Ethik mit jener Vernunft, die im sogenannten aufgeklärten Eigeninteresse am Werk ist, im wirtschaftlichen Kalkül des langfristigen Interesses, in der Nachhaltigkeit. Das wäre ja schon etwas. Weil Wirtschaft für sich nicht nach ethischen Grundsätzen funktioniert, müssen Gesellschaften ethische Grundsätze formulieren, vorgeben und durchhalten. Das ist nur möglich, wenn die Bürger selbst ausreichendes Interesse und lebendiges Engagement dafür aufbringen. John Rawls, der schon erwähnte berühmte amerikanische Philosoph, der kurz vor seinem Tode seine berühmte Gerechtigkeitstheorie "aktualisierte", hat die Verantwortung der Bürger für ihre eigenen Gerechtigkeitsgrundsätze betont. Dazu müssten sie von ihren eigenen kurzfristigen Interessen absehen und nach dem Vernünftigen fragen. Diese "Bürde des Urteilens" sei in pluralen Gesellschaften unbedingt gefordert, sie präge das Ideal des vernünftigen Bürgers.
Der Entwurf einer europäischen Verfassung wäre übrigens ein guter Anlass gewesen, eine Wertedebatte über Grenzen hinweg zu führen. Ich denke nicht zuletzt an den Gottesbezug in der Präambel, der an die 2000jährige christlich-jüdische Tradition unserer Werte erinnert hätte. Er wäre aus meiner Sicht wünschenswert, damit wir uns auch in der gemeinsamen europäischen Verfassung der historisch überlieferten Grundlagen - eben auch der religiösen Grundlagen - versichert hätten und versichern. Doch die politische Auseinandersetzung über den Katalog europäischer Grundwerte hat leider kaum öffentlichen Widerhall gefunden, nicht zuletzt mangels Berichterstattung in den Medien, mangels einer "europäischen Öffentlichkeit".
Ich bedauere sehr, dass nur wenige Medien ein Forum für grundsätzliche gesellschaftliche Debatten bieten - sei es über die Werte und Ziele unserer Gesellschaft, sei es über die Zukunft der europäischen Union. Im Fernsehen und leider auch in immer mehr Zeitungen verhindert das Bedürfnis nach Unterhaltung und das Schielen nach Quoten zunehmend eine Auseinandersetzung mit solcher Art "ernsthaften" Themen.
Deshalb ist es gut, dass es Orte gibt wie diesen: Orte, die zur Besinnung zu einem gesellschaftlichen Diskurs auffordern - nicht nur über "letzte" Fragen, sondern gerade auch über die "vorletzten", über ganz weltliche Fragen. Dass zu diesem Beitrag Kirchen und Christen gefragt sind, ist selbstverständlich. Die Ressourcen für Gewissheiten, für Orientierungen, für Verständigung werden in einer Welt der Privatisierung und Kommerzialisierung immer knapper. Christlichen Kirchen und die Christenmenschen sind gefragt als unverzichtbare
- darf ich das jetzt so grob nennen - "Dienstleister" in ethischen Fragen. Ihr demütig- selbstbewusstes Angebot an Sinn-Erinnerung und Sinn-Orientierung bleibt notwendiger denn je.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
"Was hält unsere Gesellschaft zusammen?" Schon diese Frage ist ein Befund über den Zustand unserer Gesellschaft - ich füge hinzu: ein beunruhigender Befund. Denn sie verrät eine tiefe Unsicherheit darüber, welche Regeln, Übereinkünfte und welche Werte für uns wichtig sind, denen wir uns gemeinsam verpflichtet fühlen können und sollen.
Seit Jahren, seit Jahrzehnten schon beobachten wir einen Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung, der zunehmenden Individualisierung, der Erosion des sozialen Zusammenhalts. Die Kraft der traditionellen Ideen - der Traditionen überhaupt - die Kraft der Institutionen schwindet, was nicht zuletzt auch äußerlich daran zu erkennen ist, dass den Kirchen, den Gewerkschaften und Parteien gleichermaßen die Mitglieder abhanden kommen.
Glaubt man einer neueren Studie, dann stehen gerade demokratische Gesellschaften in der Gefahr, Bindungslosigkeit, Desintegration und Anomie zu verfallen - also "Gesellschaften ohne Halt" zu werden. Wenn es auch - hoffentlich - nicht sobald dazu kommt: Ein Wandel der Lebensbedingungen, der Lebenseinstellungen, der Werte ist unübersehbar.
Die Gründe dafür sind schnell zu sehen: Die wirtschaftliche Globalisierung, die ja sowohl Beschleunigung wie Entgrenzung aller ökonomischen, aber auch kommunikativen, aller sozialen und ideellen Verhältnisse meint, also alle damit verbundenen Veränderungen setzen gewachsene gesellschaftliche Strukturen und alte Sicherheiten, auch ideelle und moralische Sicherheiten, unter Druck.
Die Konkurrenz um Arbeitsplätze und die Sorgen um die materiellen Lebensbedingungen erzeugen bei vielen Menschen Ängste und Unsicherheiten, aber auch ein Verständnis von Eigenverantwortung, das de facto auf Entsolidarisierung hinausläuft. Das Problem ist ja nicht, dass der ökonomische Erfolg eine wichtige Richtschnur der Gesellschaft ist, sondern die wachsende Entkoppelung von Leistung und Erfolg. An die Stelle der Erzählung "Vom Glück des Tüchtigen" tritt mehr und mehr die Botschaft vom "Überleben des Fittesten", statt des Mottos "Leistung lohnt sich" gilt nun die Spielregel "der Gewinner kriegt alles". Das macht immer mehr Angst vor Versagen, der Mut zur Bewährung zahlt sich mit der Zeit nicht mehr aus, wenn nur die Sieger die Prämie kassieren. Das alles kann nicht ohne Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Wertekonsens bleiben.
Auf die geistige Verfassung der Gesellschaft muss sich doch wohl auch auswirken, dass die Börse zur Leitinstitution und das Risiko zum Leitbild der neuen Ökonomie wurden. Wenn das Wagnis, der Einsatz mit ungewissem Ausgang zur Grundsituation unserer Zeit gehört, dann wird erst jetzt offensichtlich, wovon der Soziologe Ulrich Beck gesprochen hat, nämlich von der "Risikogesellschaft". Mitte der achtziger Jahre hat er das Buch geschrieben. Jetzt erst wird es massenhaft Realität.
Zum Leitbild Risiko passend betritt der unternehmerische Mensch die Bühne, der Mensch, der seine, wie es heißt, "Chancen" nutzt. Zu diesem Menschenbild gehört offensichtlich ein Freiheitsstreben, das vor allem darauf gerichtet ist, sich aus Fesseln zu lösen. Dazu passt die Rede von der "Entfesselung" des Individuums, vom Kampf der Modernisierer gegen die Traditionalisten, die Lust am Überschreiten der Grenzen, auch ethischer Grenzen, der angeblich notwendige Tabubruch. Tabulosigkeit, Enttabuisierung, das ist doch - wenn ich es richtig sehe - der massenmediale Volkssport: Das ist ein Phänomen, das sich in vielen Bereichen beobachten lässt und das auch den Alltag in unseren Gesellschaften immer stärker beherrscht. Unter den Gesetzen wirtschaftlicher und medialer Verwertbarkeit scheint keinerlei Tabu mehr zu gelten, ja häufig funktionieren nicht einmal mehr elementarste Regeln des menschlichen Zusammenlebens, wie zum Beispiel das Gewalttabu. Wir erinnern uns an Erfurt, an das Massaker eines Schülers an den Lehrern und Mitschülern seines Gymnasiums. Der Schrecken sitzt immer noch tief, weil wir bei solchem Anlass ahnen, dass "etwas aus den Fugen ist", vor dem uns kein Sicherheitsdienst, keine Videoüberwachung, kein Lauschangriff schützen. Auch kein "Krieg gegen Gewalt", den, so paradox es ist, gewiss irgendeiner irgendwann erklären wird.
Die mentale Grundsituation unserer Zeit, ihre geistigen Grundströmungen, reflektieren immer auch das, was in der Ökonomie, dem sogenannten "Reich der Notwendigkeit" Realität ist: eine unerhört beschleunigte ökonomisch-technologische Entwicklung, die bisherige Reichweiten, Standards und Normen permanent sprengt und die wir in der Reflexion, wie in der moralischen Verarbeitung ihrer Grenzen offenbar nicht einholen können. Wir erleben wieder etwas, von dem Günter Anders schon vor langer Zeit gesprochen hat, die Antiquiertheit des Menschen. Die sozialen und kulturellen Wirkungen sind uns trotzdem greifbar nahe gerückt: die Zerstörung gewachsener Traditionen und Gewissheiten, aber auch ganz handfester Sicherheiten, wie eine berufliche Laufbahn oder eine kalkulierte Altersversorgung. Haben das die Theoretiker einer sogenannten "Zweiten Moderne" nicht nur alles schon längst gesehen, sondern auch so gemeint? Anthony Giddens, dem neben Ulrich Beck wohl bei uns bekanntesten Soziologen der Nach-Postmoderne, hat in dieser Entwicklung einen "Akt der Befreiung" gesehen: Das Ende von Tradition sei das Ende eines "Systems von Zwangshandeln", "von Verhaltenszwängen"; jenseits davon eröffne sich"die Möglichkeit, authentische Formen menschlichen Lebens zu entwickeln, die nur noch wenig mit den formelhaften Wahrheiten der Tradition gemein haben", so Anthony Giddens in seinem Buch "Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft" 1996.
Das ist ernst gemeint und ernst zu nehmen: Ist es - wie in der industriellen Revolution - auch in der gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen Revolution unvermeidlich und in der Logik der Sache, dass sie wie jede andere Revolution die Herauslösung des Menschen aus seinen sozialen Bindungen erfordert und erzwingt, aus den Traditionen, wie den sozialen Sicherungen? Kommt dies wirklich lediglich ihrer Produktivität, der Entfaltung ihrer kreativen Ideen, ihrer unternehmerischen Kräfte zu gute, als ob es dabei um ein Szenario ginge, das McKinsey oder Roland Berger auf Bestellung entworfen hätten? Ich frage mich: Wieso rechnet niemand mit Nebenwirkungen, vielleicht sogar mit einem unkalkulierbaren Widerstand, der immer in Fällen solcher radikalen "Modernisierungsschübe" in der Geschichte eingetreten ist?
Zweifel sind also angebracht. Die Geschichte der sogenannten "Ersten Moderne", des Zeitalters der Industriegesellschaft, lehrt uns eindringlich, welche Folgen aus sozialen Verwerfungen entstehen, welche politischen Reaktionen, Exzesse der Gewalt und Unterdrückung ausgelöst werden können, wenn Völker, Klassen oder Gemeinschaften politisch wie moralisch entwurzelt und der Verführung von Demagogen anheim fallen. Es gehört diese Erfahrung zu unserer deutschen Geschichte.
Wenn ich Zweifel gegenüber einem allzu forschen Zeitgeist hege, bedeutet das nicht, dass wir uns auf die andere Seite schlagen sollten oder könnten - etwa unter dem Motto: Blasen wir das Unternehmen ab, der ökonomische, der technische, der kulturelle oder der demografische Wandel finden ohne uns statt! Verantwortlich redet und handelt nicht, wer die Illusion weckt, alles könne bleiben wie es war, der Zug der Zeit zöge einfach vorüber! Gerade weil dies nicht der Fall sein wird, ist es unsere Verantwortung zu klären, was auf dem Spiel steht:
Was hält die Gesellschaft zusammen, woraus speist sich ihre ethische Basis und Orientierung - wenn nicht aus den Traditionen, den Überlieferungen, die bisher die Geschichte deuteten? Die Tradition, das ist eine Form des Umgangs mit einem kollektiven Gedächtnis, eine Art Gefäß, aus dem jeder Mensch schöpft, wenn er sich in der Umwelt, in seiner Welt verständlich machen will, in der dieselbe gilt, aber auch um selbst zu verstehen, um urteilsfähig und dadurch frei zu sein. Wenn dieses Gefäß zerbricht, dann bedeutet das immer auch ein beträchtliches Stück Identitätsverlust.
Wer verstünde das nicht besser als Menschen, die wie die meisten von Ihnen und ich selbst in den letzten 60 Jahren gerade im Osten Deutschlands dramatische Erfahrungen mit dem Wandel der Zeiten machen mussten und durch die Kirche, den christlichen Glauben, durch die immer wieder zu erneuernde Überlieferung des Evangeliums Orientierung, Halt und Festigkeit fanden? Ist nicht dieses Gotteshaus selbst, dieses über die Jahrzehnte bewahrte Urbild von Zerstörung in dieser Stadt, jetzt das Zeichen des Wiederaufbaus, ein Beweis dafür, dass eine Gemeinde, eine Stadt oder ein Land Orte des Gedächtnisses brauchen, Orte der Erinnerung, Orte der Ungleichzeitigkeit, vielleicht auch nur "des langem Atems"?
Wir leben nach verbreiteter Meinung in einer kurzatmigen, schnelllebigen, vergesslichen Zeit. Immer wieder beklagen wir diesen Umstand, ich gelegentlich auch. Aber übersehen wir dabei nicht jene massive Gegenbewegung, die es auch gibt, die Gegenbewegung der Erinnerungskulturen, der Vergangenheitspolitiken, der Museums-Events als Massenveranstaltungen, der auf dem Buchmarkt als Bestseller verkauften Biografien. Die Suche nach Herkunft, nach individueller und kollektiver Bewältigung von Geschichte und von Lebensläufen nimmt also durchaus zu. Auch das sollten wir sehen. Denken wir nur - um nur zwei ganz harmlose heitere Beispiele zu nennen - an die erfolgreichen Filme "Goodbye Lenin" oder an "Das Wunder von Bern". Die waren ja nicht nur erfolgreich, glaube ich, weil sie gut gemachte Filme sind und auf eine bestimmte Weise heiter, sondern weil sie offensichtlich auch ein tiefer liegendes Bedürfnis angesprochen und befriedigt haben, das also vorhanden ist.
Auch Politik, sie hören und sehen es doch gelegentlich, auch Politik und politische Verantwortung wird heute nicht etwa weniger als früher damit begründet, man müsse sich vor der Geschichte legitimieren, beweisen, ihrer Herausforderung gewachsen sein.
Also: Was hält unsere Gesellschaft zusammen - wenn nicht weiterhin die gemeinsamen Erzählungen, wie man das in der neueren Philosophie gelegentlich nennt, die Mythen und die Erblasten der Vergangenheit, die Schuld, aber auch das Erinnern an glückliches Gelingen?
Eine "Basis unserer Ethik" ist offensichtlich auch weiterhin die religiöse Überlieferung, die biblische, jüdisch-christliche Tradition. Sie ermöglicht, wie der Theologe Johann Baptist Metz sagt, über die "Bindung der Vernunft an die Erinnerung" die Bearbeitung der großen ethischen Herausforderungen, die mit Modernisierungen und Rationalisierungen verbunden sind. "An den Grenzen der Moderne", so schreibt er, müsse es Institutionen geben, die sich von Erinnerungen in Anspruch nehmen lassen, in denen Leid, Unrecht und Ungerechtigkeit zur Sprache kommen und produktiv bewältigt werden können. (Metz, Religion und Politik an den Grenzen der Moderne, 1997, S. 174-92).
Dabei geht es keineswegs nur um die Erinnerung von Leid und Schuld und deren Bewältigung. Wie im Kirchenjahr, so kann im säkularen Bereich der Ritus sich wiederholender "Erinnerung an die Träume und Erinnerung an die Opfer", so hat es Fulbert Steffensky einmal sehr schön zusammengefasst, Zusammenhalt stiften. Die Erinnerung kann auch Widerstand organisieren, Widerstand gegen erzwungenes Vergessen, das Menschen ihrer Rechte oder ihrer Würde enteignet. Kollektive Erinnerung ist nötig, um der Manipulation oder der politischen Vereinnahmung zu wehren. Um zu verstehen, was Menschenwürde, Gerechtigkeit oder Solidarität bedeuten und um diese Begriffe vor Entleerung oder Relativierung zu schützen, müssen wir die alten Geschichten kennen, aus denen das Verständnis genau dafür überhaupt erwachsen ist.
Angesichts seines zuweilen geradezu überbordenden Relativismus, das ist ja das, was uns auch beschäftigt und bedrängt, hat die Vergewisserung über die ethischen Begründungen unseres gesellschaftlichen, politischen, individuellen Handelns neue Aktualität bekommen. "Elementare Krisen erfordern elementare Versicherungen", so hat Johann Baptist Metz dieses Bedürfnis beschrieben. Vor diesem Hintergrund ist es wohl kein Zufall, dass sich vor kurzem zwei so unterschiedliche Diskutanten wie Jürgen Habermas, der Philosoph eines aufgeklärten kommunikativen Handelns, und Joseph Kardinal Ratzinger, der Präfekt der Glaubenskongregation, früher hätte man vielleicht Großinquisitor zu ihm gesagt, die beiden so gegensätzlichen Männer öffentlich mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob der demokratische Staat ein Begründungsdefizit habe, also die Frage nach seinem Fundament. Dabei kam interessanterweise auch der Philosoph, der gelegentlich von sich sagte, ich bin religiös unmusikalisch, zu dem Ergebnis, dass im christlichen Glauben etwas intakt geblieben sei, was die Gesellschaft verloren habe, nämlich "hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge". Ich füge hinzu: und für deren positive Kehrseiten auch. Denn ich habe als Christ immer gefunden, in der Bibel stehen unendlich viele Geschichten von gelingendem Leben und daher weiß ich, was misslingendes Leben ist.
Schon vor Jahren hat John Rawls, der berühmte amerikanische Rechts- und Moralphilosoph, auf die Notwendigkeit eines fundamentalen Konsenses gerade für pluralistische Gesellschaften hingewiesen, ohne den diese nicht lebensfähig sind. Diesen Konsens stellt offensichtlich nicht der Markt her. Aber auch die Demokratie kann das nicht aus sich heraus. Pluralistische Ordnungen sind wie die Austauschbeziehungen, die auf dem Markt gelten, zunächst nur an formale Regeln gebunden, die sich den Kategorien von gut und böse, gerecht und ungerecht entziehen. Nicht die Demokratie oder der Markt, sondern die Marktteilnehmer oder Wähler, sprich Bürger, bringen ethische Bindungen, Normen und Orientierungen ins Spiel, allerdings eben aus Quellen, über die der Markt oder die Demokratie nicht selbst verfügen. Der frühere Verfassungsrichter Böckenförde hat das Dilemma des demokratischen Staates präzise in diesem einen Satz, der nun immer wieder zitiert wird, beschrieben: "Der freiheitlich säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann". Woher kommt es dann, was die Gesellschaft zusammen hält?
Ich will vier Antworten auf diese Frage geben.
Meine erste Antwort steht auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem gerade Gesagten: Kein gesellschaftlicher Zusammenhalt ohne Bekenntnis zum demokratischen Staat, ohne Respekt vor seinen Institutionen, ohne Interesse und im besten Fall sogar Leidenschaft für die öffentlichen Angelegenheiten.
Der Akzent liegt bei mir auf Bekenntnis, Respekt, Interesse und Leidenschaft: Weil der demokratische Staat von sich aus wertneutral ist, also angewiesen ist auf ethische und normative Vorgaben, ob durch die Verfassung, durch den Gesetzgeber oder den Richter - deshalb kommt es auf die individuelle und kollektive Teilhabe und Teilnahme der Staatsbürger und Staatsbürgerinnen an, auf ihr Interesse, ihre Initiative, ihre Ideen, wenn das staatliche Handeln verantwortlich und ethisch begründet sein soll. Im Unterschied zu Diktatur, Oligarchie oder Monarchie muss der demokratische Staat sogar dafür sorgen, dass die Quellen der Initiative und der Partizipation, aber auch die Sinnressourcen und gemeinsamen Wertüberzeugungen nicht "austrocknen". Weil der demokratische Staat über diese Quellen nicht selbst verfügt, ist er auf die Freiheit angewiesen, das heißt auf die Freisetzung von Engagement, Leidenschaft und Interesse, auf diejenigen, die sich der Meinungsfreiheit wie der Organisationsfreiheit bedienen, der freien Öffentlichkeit, um dem staatlichen Handeln Legitimität und Zustimmung zu verleihen.
Die zutreffende Behauptung, dass die Demokratie die einzige Staatsform ist, die Freiheit dauerhaft ermöglichen kann, die kann man deshalb auch umdrehen: Freiheit kann nur in einer Staatsform gedeihen, die demokratisch ist. Freiheit setzt also auch eine Bereitschaft zur Selbstbindung des Individuums an Regeln voraus, die Bereitschaft der Teilnahme und Anteilnahme am Ganzen, am Anderen, am Kompromiss. Wenn dies fehlt, wenn man sich nur von einem gewissermaßen "negativen" Freiheitsbegriff im Sinne des Freiseins von etwas leiten lässt und die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen radikal betont, ist der Schritt hin zur Beliebigkeit, Verantwortungslosigkeit, Rücksichtslosigkeit nicht weit.
Vor manchen Gefahren sind wir hoffentlich und endgültig durch die deutsche Geschichte nachdrücklich gewarnt. Die Weimarer Republik ging auch daran zugrunde, dass es zu wenig Demokraten gab. Deshalb gilt das öffentliche und politische Augenmerk zu Recht auch dem vorhandenen Potential autoritärer, nationalistischer, demokratiefeindlicher Haltungen, die es ja auch bei einem Teil unserer Bevölkerung gibt. Es ist in allen Demokratien vorhanden - und es nimmt zu, wenn wirtschaftlicher Strukturwandel soziale Verwerfungen erzeugt.
Leider fördert die Globalisierung bei vielen Menschen genau diesen Vertrauensverlust gegenüber demokratischen Ordnungen. Was wir erleben und was die Menschen mehr oder minder bewusst oder eben mehr oder minder diffus empfinden, ist doch eine gewachsene Diskrepanz zwischen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer, technologischer Entwicklungen und Prozesse einerseits und andererseits der Langsamkeit und Begrenztheit demokratischer, politischer Prozesse und Entscheidungen. Ich habe dafür immer ein Beispiel, das Sie alle kennen. Sie erinnern sich, es gibt jetzt Nachwirkungen dieses Vorgangs vor Gericht, die Fusion von Mannesmann und Vodafone. Erinnern Sie sich noch, vor unseren Augen fand nur eine Anzeigenschlacht in den großen Zeitungen statt. Die war schon sehr teuer. Aber innerhalb von - ich weiß nicht mehr - zwei, drei Monaten, war die Titanenschlacht des Management - irgendwo auf der Hinterbühne unseren Blicken verborgen - entschieden und über das Schicksal von mehreren zehntausend Arbeitnehmern und das heißt, mehreren hunderttausend Menschen und über eine Bilanzsumme - ich weiß nicht von wieviel zigmilliarden Euro - entschieden. Und wenn wir damit vergleichen, wie schwer wir uns tun, mit Steuerreform, Gesundheitsreform, Rentenreform, wie sehr wie uns quälen, das meine ich mit dieser Diskrepanz, die mehr oder minder bewusst empfunden wird und die zur Ungeduld, zur Enttäuschung, zur Abwehr, zur Häme, ja zu immer tiefer gehender Skepsis gegenüber der Demokratie, ihren Institutionen und ihrem handelnden Personal führt. Die vermeintliche Ohnmacht der Politik gegenüber wirtschaftlichen Entscheidungen und einem Standortwettbewerb der Unternehmen um die geringsten Gemeinkosten, sie schwächt die staatliche Handlungsfähigkeit, Finanzknappheit führt dann im Weiteren auch zur Zurücknahme öffentlicher Leistungen und Investitionen. Zunehmend weniger Menschen bringen vor diesem Hintergrund Hoffnung in die politische Gestaltungskraft auf.
Wenn das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Problemlösungsfähigkeit der Politik wegbricht, und das ist etwas anderes als die, wie ich finde, demokratische Tugend der Skepsis gegenüber Politikern da oben. Skepsis ist immer sinnvoll. Wenn das Vertrauen wegbricht, wenn keine Alternativen mehr sichtbar gemacht werden, dann verschwindet das notwendige Engagement, dann verstärkt sich der Trend zur Personalisierung und Skandalisierung von Politik, eine Tendenz, bei der am Ende den Politikern wie den demokratischen Institutionen gegenüber nur noch mit Geringschätzung oder gar Häme begegnet wird. Dort finden wir uns inzwischen immer öfter wieder - und ich frage mich schon, wie bei soviel diffuser und zum Teil sogar organisierter Verachtung - man lese nur einmal die Zeitung mit den großen Buchstaben -, den Bürgern noch ein lebendiges Bewusstsein von der Kostbarkeit, weil Verletzbarkeit der Demokratie bleiben soll.
Meine zweite Antwort auf die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält, heißt Gerechtigkeit. Eine der - wenn ich mir eine persönliche Bemerkung erlauben darf - mich mein ganzes Leben am meisten begleitenden, weil am meisten beeindruckenden Stelle aus dem alten Testament findet sich beim Propheten Micha 6,8: "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr bei dir sucht: Nichts anderes als Gerechtigkeit tun, Freundlichkeit lieben und behutsam mitgehen mit deinem Gott." Dass menschenwürdiges Leben und dass friedliche Zusammenleben in einer Gemeinschaft Gerechtigkeit voraussetzt, ist ein Gedanke biblischen Alters.
Etwas historisch Neues zur Lösung der Gerechtigkeitsfrage trat erst - ich mache nur einen ganz kurzen geschichtlichen Exkurs - nach der Zerstörung der alten ständischen Ordnungen im Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen und Industrialisierung auf den Plan. Nach dem Wegfall der bis dahin dominierenden Formen herrschaftlicher Fürsorge und Abhängigkeit, konnte Solidarität nur durch das Zusammenstehen der Schwachen wachsen. Organisierte Solidarität, wie sie in der Arbeiterbewegung sich entwickelte, mündete seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die frühe Sozialgesetzgebung. Liberale oder Konservative - wie Bismarck in Deutschland - kamen aus rationalem politischen Kalkül oder aus Sorge um die Autorität des Staates zu der Auffassung, dass ein Mindestmaß an sozialer Sicherung zur Abwehr jener politischen Kraft nötig sei, die dann später die weitere Ausgestaltung des Sozialstaats prägte, die Sozialdemokratie.
Die ethische Begründung sozialstaatlicher Regelungen - nämlich den unverschuldet in Not Geratenen zu helfen - sie gilt gewiss ungeachtet veränderter sozialer und politischer Bedingungen. Aber der moderne Sozialstaat unterscheidet sich inzwischen von der nach Bedürftigkeit und ohne jeden Rechtsanspruch gewährten Mildtätigkeit traditioneller Armenhilfe meilenweit. Die modernen sozialstaatlichen Regelungen nehmen anstelle von nachsorgenden immer mehr vorsorgenden Charakter an. Neben der sozialen Absicherung gegen unverschuldete Lebensrisiken trat die Versicherung gegen gesamtwirtschaftliche Risiken wie Arbeitslosigkeit - und zwar nicht nur passiv, sondern im wachsendem Maße aktiv, etwa durch den Ausbau des Aus- und Weiterbildungssystems oder durch eine aktive Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik.
Tatsächlich ist der Unterschied zwischen traditioneller Bedürftigenhilfe und den Handlungsfeldern des modernen Sozialstaats auch der Anlass zur Klage über einen nicht mehr bezahlbaren und nicht mehr allein die Bedürftigsten begünstigenden Aufwand. Den Sozialstaat auf den Aspekt der Hilfeleistung für die Bedürftigsten wieder zurück zu drehen, würde aber bedeuten, die Rationalität und die Funktionen des modernen Sozialstaats insgesamt in Frage zu stellen.
Ich halte den Sozialstaat, so reformbedürftig er ist, für die größte europäische Kulturleistung. Er unterscheidet unseren Kontinent mehr als alles andere von den anderen Kontinenten, er trägt die Werte, die die "europäische Lebensform" ausmachen. Die soziale Einhegung der freien Marktwirtschaft hat wesentlich zum Erfolg der europäischen Demokratien beigetragen. Seine aktuelle Krise gefährdet deshalb die Grundlagen unserer Gesellschaft.
Soziale Gerechtigkeit ist für die Stabilität einer Demokratie eine wesentliche Bedingung, weil davon abhängt, ob diese von allen und insbesondere den schlechter gestellten Bürgerinnen und Bürgern als im Großen und Ganzen, als für ihr Leben dienlich und sinnvoll angesehen wird. Wenn das Gerechtigkeitsempfinden durch die Politik oder die wirtschaftlichen Verhältnisse systematisch verletzt wird, kann nicht erwartet werden, dass die demokratischen Regeln gestützt werden.
Insofern ist Gerechtigkeit eine wesentliche Legitimationsgrundlage des demokratischen Staates und des Zusammenhalts. Die politische Gemeinschaft einer Demokratie wird bei allen kulturellen Differenzen erst durch eine Übereinstimmung in Fragen der Gerechtigkeit gestiftet, das heißt durch eine wechselseitige Anerkennung von Rechten, die es den Menschen ermöglicht, neben ihrer Rolle als konkurrierender Marktteilnehmer die Rolle des kooperierenden Bürgers einzunehmen und den Standpunkt des Eigeninteresses hinter sich zu lassen.
Lange Zeit, meine Damen und Herren, war die Gerechtigkeitsfrage vor allem eine Frage der gerechten Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum durch Arbeit. Inzwischen wird diese "alte" Gerechtigkeitsfrage überlagert von der Frage der Teilhabe an Arbeit. Die Massenarbeitslosigkeit ist insofern das größte Gerechtigkeitsproblem. Übrigens auch deshalb, weil durch sie alle anderen Systeme der sozialen Sicherung, die am Arbeitseinkommen festgemacht sind, ebenfalls Not leiden. Nun sind wir mitten in einer Phase des Streites über Sozialstaatsreformen und deren Verwirklichung. Wenn man so will, ist es ein Paradigmenwechsel. Weniger für die Ostdeutschen, die haben das in bestimmter Weise schon hinter sich, sondern für die Westdeutschen. Ich erinnere mich, dass ich früher gelegentlich mit neidvollem Staunen nach dem Westen geschaut habe und die Beobachtung gemacht habe, dass die sozialen Konflikte in der alten Bundesrepublik unter anderem deshalb so friedlich gelöst werden konnten, weil am Schluß immer irgendwie Zuwächse zu verteilen waren. Vielleicht nicht immer ganz gerecht, aber es waren Zuwächse zu verteilen. Was passiert mit einer Gesellschaft und in einer Zeit, in der wir jetzt sind, wo Zuwächse nicht zu verteilen sind, weil es sie nicht gibt? Das ist ein fundamentaler Wechsel. Auch deshalb ist die Laune so schlecht und die Stimmung so mies im Lande. Dass ist etwas, was ein Gutteil der Menschen in Deutschland nicht gewohnt ist.
Man könnte das erläutern am Beispiel der Arbeitslosenversicherung, am Beispiel des Gesundheitswesens und so weiter und so fort. Ich will mich nicht allzu sehr mit den aktuellen Fragen beschäftigen: Aber, wie buchstabieren wir - und das war meine These - Gerechtigkeit, die so fundamental ist für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, wenn diese Gerechtigkeit nicht mehr exekutiert werden kann durch Verteilung von Zuwächsen, sondern durch das Verteilen von Risiken, von Chancen, von Verzicht. Also müssen wir die Kriterien für Gerechtigkeitspolitik umstellen und sie formulieren im Sinne einer fairen Verteilung von Rechten und Pflichten, von Chancen und Lasten.
Ich komme zur dritten Antwort. Trotz der inzwischen - wie ich allen Meinungsumfragen entnehme - verbreiteten Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen, gilt praktisch das St.-Florians-Prinzip: Veränderungen ja, aber bitte nur bei den anderen! Deshalb heißt meine dritte Antwort Solidarität. Solidarität ist die Bereitschaft, über Rechtsverpflichtungen hinaus füreinander einzustehen. Ohne Solidarität mit den Schwächeren, aber auch ohne Solidarität als Instrument der Schwachen im Kampf um ihr Recht, gibt es keine menschliche Gesellschaft. Solidarität ist gewiss die erste Legitimationsgrundlage des Sozialstaats. Im modernen Sozialstaat haben Elemente der Klassensolidarität - das Wort gehört zu seiner Geschichte - überlebt, sind viele sozialstaatliche Regelungen noch auf die Arbeitnehmerschaft beschränkt bzw. an abhängige Arbeitsverhältnisse gekoppelt. Für die inklusive, der modernen Demokratie entsprechende Ausgestaltung der Solidarität, die keine religiösen, sozialen, geographischen, ethnischen oder kulturellen Grenzen kennt, ist deshalb die moderne staatliche Organisation eine wichtige Erweiterung. Wenn die Praxis der Solidarität sozialstaatlich nicht abgesichert würde, bliebe das Maß der Hilfe davon abhängig, ob man Mitglied stärkerer oder schwächerer Gemeinschaften, oder ob man gar Außenseiter ist. Das hieße faktisch eine Brutalisierung der Gesellschaft.
Solidarische Verantwortung - verweist in seinem wörtlichen Ursprung aus dem Lateinischen solido (im Ganzen) und solidus (ganz, völlig, vollständig) auf noch etwas anderes: nämlich, dass es bei Solidarität um auch das Ganze, um das Gemeinwesen, um das Gemeinwohl geht. Als Wert, der sich an der Gemeinschaftlichkeit und an der Menschenwürde orientiert, geht die Solidarität über das hinaus, was einmal die "Sittlichkeit" der bürgerlichen Gesellschaft war. Der gesellschaftliche Zusammenhalt kann nur gelingen, wenn die Bürger bereit sind, sich für gemeinsame Interessen einzusetzen und auch die Lasten der Solidarität - auch der staatlich organisierten Solidarität - zu tragen. Jürgen Habermas hat einmal von der Solidarität als einer knappen Ressource gesprochen. Das ist richtig, weil ihre sozialökonomischen Grundlagen, z. B. ein gleiches soziales Schicksal, was wir früher Klassenexistenz genannt haben, weil genau das sich verändert hat: der Individualismus ist offensichtlich kein Solidarität erzeugendes gemeinsames Schicksal. Um so wichtiger werden die ideell-moralischen und die religiösen Grundlagen von Solidarität: Das Bewusstsein vom Wert der Nächstenliebe und der Geschwisterlichkeit.
Und damit bin ich bei meiner vierten Antwort: Menschenwürde, der zentrale Begriff unseres gesellschaftlichen Miteinanders. Die Achtung der Menschenwürde und aller daraus abgeleiteten Grundrechte sind gewissermaßen das "säkulare Glaubensbekenntnis" unserer Gesellschaft. Doch die säkularisierte Welt ist sich ihrer ehtischen Grundlagen nicht mehr ganz sicher, weil sie den christlichen Ursprung nicht mehr teilen oder nachvollziehen kann. Wer sich heute auf die Menschenwürde beruft, gilt vielen als pathetisch, altmodisch, konservativ. Das ist insofern berechtigt, als sich der Gedanke der Menschenwürde auf ein 2000 Jahre altes Fundament christlich-jüdischer Kulturgeschichte berufen kann.
In dem Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar", der wichtigste Satz unserer Verfassung, begegnen wir einem Menschenbild, das im Schöpfungsglauben vorgegeben ist, in der Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen. Sie setzt aller Macht des Menschen über den Menschen Grenzen. Dem demokratischen Staat ist damit aufgetragen, die Freiheit des Individuums zu schützen. Das begründet übrigens auch sozialstaatliche Institutionen. Weil der moderne Sozialstaat sich nicht über moralische Hilfspflichten definiert, sondern über individuelle Rechtsansprüche, ist die einzelne Person auch in Phasen existentieller Abhängigkeit vor der Rolle des bloßen Empfängers von Leistungen bewahrt und bleibt die Würde des Einzelnen gewahrt.
Individuelle Freiheit und Rechte, die eine autonome Lebensgestaltung ermöglichen, sind das Kernstück einer liberalen Demokratie, weil sie eine Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen innerhalb einer politischen Gemeinschaft Raum geben. Im Unterschied zu religiösen, ethnischen, lokalen oder kulturellen Gemeinschaften, die durch Übereinstimmungen der Lebensformen gestiftet werden, ist der, wie wir sagen, säkulare Staat für diese Unterschiede "blind" oder etwas schwächer gesagt "neutral" und wird der Status des Sozialbürgers unabhängig von der Zugehörigkeit zu diesen Gemeinschaften allein durch die Staatsbürgerschaft gewährt.
Die Würde des Menschen und die Freiheit des Individuums sind allerdings nicht nur durch die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft gekennzeichnet. Die Debatte um die Chancen und Risiken der Gentechnik hat wie keine andere bewusst gemacht, dass sich unsere modernen, offenen, dynamischen Gesellschaften immer wieder darum bemühen müssen, einen ethischen Grundkonsens zu formulieren und zu schützen. Wissenschaftlicher Erkenntnisdrang und wirtschaftlicher Verwertungsdruck haben schon in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt, dass ethische Grenzen überschritten worden sind. Doch die Vorstellung, Menschen nach Maß zu klonen, erscheint den meisten eher erschreckend als erhebend. Offenbar gibt es in unserem Land und wohl auch noch im größeren Teil Europas ein verbreitetes moralisches Empfinden dafür, dass damit eine Grenze überschritten würde, vor der wir Menschen Halt machen sollten.
Die Menschenwürde gebietet uns, menschliches Leben nicht zum bloßen Mittel zu degradieren. Bisher hat mir noch niemand plausibel begründen können, warum menschliches Leben nicht von Anfang an - also mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle - Anspruch darauf haben sollte, dass seine Würde geachtet und geschützt wird. Von Anfang an ist der Mensch ein "Wer" und nicht nur ein "Was". Deshalb bin ich froh darüber, dass in Deutschland ein breiter Konsens darüber besteht, die Forschungsinteressen in der Bioforschung nicht höher zu bewerten als die Würde und das Lebensrecht menschlicher Embryonen. Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin für ein forschungsoffenes Klima in Deutschland und Europa. Ich bin auch dafür, die Chancen des medizinischen Fortschritts zu nutzen. Aber jede Forschung muss sich auf diesen ersten und wichtigsten Satz unseres Grundgesetzes verpflichten lassen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar".
Die Gentechnik-Debatte war insofern eine rühmliche Ausnahme, als hier die Gesellschaft - auch der Deutsche Bundestag - ernsthaft darum gerungen hat und ringt, was die Menschenwürde gebietet. In anderen Fragen geht die gesellschaftliche Debatte leider immer häufiger, immer schneller, immer leichtfertiger über religiös begründete ethische Einwände hinweg.
Ich nehme dafür ein ganz anderes Beispiel, ein von vielleicht geringerem Gewicht als die medizin-ethische Fragestellung. Das Beispiel heißt, sie werden überrascht sein, der verkaufsoffene Sonntag. Bei der Frage, ob wir die Ladenöffnungszeiten nun vollends liberalisieren oder ob der Sonntag geschützt bleiben soll, geht es um eine elementare Grundfrage, die die meisten nicht wahrnehmen: Sind wir tatsächlich bereit, den Menschen auf seine beiden marktgemäßen Rollen zu reduzieren - nämlich auf seine Rollen als Produzent und als Konsument. Das sind die beiden Funktionen, in denen der Mensch auf dem Markt vorkommt. Oder verteidigen wir andere Dimensionen des Menschseins: das Menschenbild der Freiheit, des Schöpfers Ebenbild, nämlich der Mensch, der in seinem Streben innehält, das Gute lobt und feiert. Widerstehen wir einem Menschenbild, das den Menschen vorrangig an seiner Leistungsfähigkeit als Arbeitskraft und als Kaufenden bemißt, oder halten wir andere Dimensionen des Menschseins gegenwärtig, darum geht es beim Sonntag. Da geht es nicht um kirchliches Sondergut, aber um ein Bewusstsein dieser Dimensionen der Menschen, des Menschseins, das wir pflegen am Sonntag.
Meine Damen und Herren, unser Staat ist säkular, aber er ist deshalb keineswegs wertneutral. Die Politik hat ein lebendiges Interesse, sie muss es haben, an Institutionen der Wertevermittlung. Damit sind nicht nur die Kirchen gemeint, die gelegentlich - besonders anlässlich außerordentlicher Schicksalsschläge - gefragt sind, sondern vor allem auch jene großen Bildungsinstitutionen, die wir uns leisten, die Schulen und die Universitäten.
Leider liegt unsere Bildungsdebatte - wenn ich es richtig sehe - bisher in einem Trend, bei dem ökonomische Gesichtspunkte mehr und mehr soziale und ethische Gesichtspunkte verdrängt haben. Die Eigenschaften, die auf dem Markt Erfolg versprechen, reichen aber nicht aus, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern und um dem Einzelnen zu ermöglichen, menschenwürdig zu leben.
Wenn aber Lebenssinn, wenn Orientierung, wenn demokratische Werte nicht überzeugend vermittelt werden, dann haben es verquere Ideologien leicht, fruchtbaren Boden zu finden. In den Köpfen - so meine ich - in den Köpfen junger Menschen muss deshalb mehr sein als die Fähigkeit, sich im Konkurrenzkampf durchzusetzen. Eine einseitige Ausrichtung von Schule auf den Arbeitsmarkt und die Vernachlässigung der anderen Dimensionen von Bildung und vor allem Erziehung halte ich für eine Engführung, die letztlich den demokratischen Wertekonsens gefährdet.
Wenn es auch in Zukunft demokratisch zugehen soll, brauchen wir Erziehung zur verantworteten Freiheit. Die Fähigkeit, Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, soziale Demokratie und rechtsstaatliche Prinzipien als kostbares Angebot für Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erkennen, das sind Schlüsselqualifikationen für die Bürger einer demokratischen Gesellschaft, nicht nur naturwissenschaftliche Kenntnisse, technische Fertigkeiten, die Beherrschung des Internet und von Fremdsprachen und ein gewisses Grundverständnis von dem, was da irrsinnigerweise an der Börse vor sich geht. In diesem Sinne sollte Schule nicht nur Sachkompetenz vermitteln - das sind wahrlich alles wichtige Kenntnisse -, sondern die Schule sollte auch Sinnkompetenz vermitteln, Orientierungswissen, um es noch nüchterner auszusprechen, nicht nur Faktenwissen. Natürlich ist es eine Aufgabe für alle Fächer. Ich kann mir zum Beispiel - um nur eins zu nennen - nicht vorstellen, dass im Biologieunterricht Aufbau und Struktur der DNA erläutert werden, ohne auf die ethischen Fragen der Gentechnologie einzugehen. Es macht an dieser Stelle keinen Sinn, nur Fakten zu vermitteln.
Nicht nur als Christenmensch bin ich der Ansicht, dass unsere Gesellschaft die Kraft und den Mut zur Werteerziehung aufbringen muss. Das Diskutieren und Nachdenken über ethische Fragen braucht mehr Zeit, als in den Lehrplänen der meisten Fächer vorgesehen ist. Auch die Kirchen allein wären heute überfordert, sollten sie das Defizit an Sinn, an Orientierung etwa im Religionsunterricht ausgleichen, zumal sie ja nur einen Teil der jungen Leute erreichen.
Man muss, meine Damen und Herren, das christliche Fundament unseres Wertekonsenses doch nicht teilen, um zu sehen, dass Gebote wie die Erhaltung der Schöpfung, Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität auch in einer säkularen Gesellschaft nicht von gestern sind. Sie sind notwendig, weil eine demokratische Gesellschaft etwas anderes ist als ein Nebeneinander von Individuen, weil Pluralismus etwas anders ist als Gleichgültigkeit, weil Freiheit etwas anderes ist als Beliebigkeit. Das gilt mit Blick auf die eigene Gesellschaft, das gilt aber ebenso mit Blick auf eine friedliche Weltordnung. Ich mache einen kleinen "Exkurs" in die Weltpolitik, weil ich meine, dass die vier Prinzipien - Demokratie, Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenwürde - auch im Umgang der Staaten miteinander die leitenden Orientierungen und Werte sein sollten.
Die Bedrohung durch den internationalen Terror - die uns in diesen Tagen wieder bewegt - der Irakkrieg und seine Folgen haben gezeigt, dass sich Frieden nicht allein mit der Macht wirtschaftlicher und militärischer Überlegenheit sichern lässt, auch nicht durch die einzig verbliebene Supermacht und deren Stärke. Keine politische Ordnung ist von Dauer, die nicht von einer Mehrheit der Betroffenen als legitim und fair empfunden wird. Ebenso wenig reicht es nach den bisherigen Erfahrungen aus, die Welt lediglich nach den Regeln der ökonomischen Globalisierung - also auf der Grundlagen einer liberalen Wettbewerbsordnung mit Freihandel, freiem Kapitalverkehr und freiem Zugang zu Wissen und Informationen - zu organisieren.
Eine "positive" Friedenspolitik und eine "positive" Globalisierungsstrategie können nur auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Normen entwickelt werden. Entsprechend hat unsere europäische Grundwertetradition längst Einzug in das Völkerrecht gehalten, Menschenwürde und Menschenrechte stellen einen verbindlichen Rahmen. Schwieriger ist es, weltweit Gerechtigkeit zu schaffen. So sind wichtige Grundrechte wie soziale Sicherung, Bildung oder eine gesunde Umwelt zwar innerhalb vieler Staaten anerkannt, verpflichten aber zu keinen Leistungen zwischen den Staaten, denken Sie mal an die Rolle der USA im Zusammenhang mit dem Protokoll von Kyoto und ähnliches. Ein Gerechtigkeits-Dialog über die Grenzen verschiedener Kulturen hinweg ist deshalb schwierig, weil die Vorstellungen von Gerechtigkeit noch weiter auseinander gehen, als sie das innerhalb von Staaten und Kulturen schon tun.
Ich will dennoch in drei Stichworten skizzieren, was eine gerechte, von allen akzeptierte Weltordnung ausmachen könnte: ein an den Grundbedürfnissen orientierter Ausgleich von Gütern, Chancengleichheit bei Arbeit und Bildung und der gleiche Zugang zu natürlichen Ressourcen und öffentlichen Gütern. Wenn sie das bedenken, leben wir in einer Weltordnung der Ungerechtigkeit. Der globale Markt muss deshalb einen Rahmen politischer Koordination und Steuerung bekommen, der den unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten der Volkswirtschaften, der Erhaltung der Umwelt und der Sicherung der Grundbedürfnisse aller Menschen Rechnung trägt. Das ist bisher noch nicht der Fall, und das wird erst möglich sein, wenn an die Stelle des Vorrangs nationaler Interessen der Vorrang eines wohlverstandenen gemeinsamen globalen Interesses tritt - des Interesses an einer nachhaltigen Sicherung des Friedens und der Lebenschancen in allen Teilen der Welt. Wenn wir das nicht begreifen und - wie mühselig es auch ist - Schritt für Schritt umsetzen, wird uns das Problem des Terrorismus nie wieder verlassen.
Ein Weg dazu ist, die eigenen Kapazitäten in der jeweiligen Weltregion zu fördern und so Lösungswege zu zeigen. Eine Übertragung des westlichen Konsum- und Produktionsmodells widerspräche übrigens nicht nur der ökologischen Vernunft - sie würde unseren Globus zugrunde richten - sondern auch der ökonomischen Weitsicht. Ein Entwicklungsmodell, das den Reichtum der in den verschiedenen Kulturen vererbten Erfahrungen nicht fördert, raubt den Menschen dort nicht nur die Fähigkeit zur selbstständigen Lösung ihrer Probleme, sondern vor allem die eigene Würde. Um noch einmal auf das Thema zu sprechen zu kommen, das uns aktuell emotional stark beschäftigt: Die kollektive Erfahrung von Erniedrigung ist eine der wichtigsten Quellen von Gewalt geworden.
Ich halte es übrigens keineswegs für naiv, die Einhaltung von Grundwerte in der Weltpolitik zu fordern. Ich bin überzeugt, dass dies letztlich in unserem eigenen Interesse liegt. Denn ohne fairen Ausgleich zwischen den Weltregionen, ohne ständigen Dialog zwischen den Weltkulturen - die Religionen ganz wesentlich eingeschlossen - ohne gute Entwicklungschancen für die sehr verschiedenen Wirtschaftskulturen wird es keine politische Stabilität geben. Auf längere Sicht führt - das meine ich wirklich - der realistischere Weg zu einer stabilen Weltordnung über Freiheit und Menschenrechte, Recht und Gerechtigkeit, Solidarität und Kooperation als leitende Werte der Politik und als Normen, die die Zustimmung aller finden können. Es mag gegenwärtig realistischer sein, die Stabilität der Weltordnung auf der Macht und Überlegenheit der einzigen Supermacht zu gründen und sich mit dieser zu verbünden. Auf Dauer glaube ich nicht, dass das gehen wird, sondern dass wir uns auf solche Grundwerte und entsprechende Handlungsmaxime einigen.
Zum Schluss: Wertorientierungen sind so etwas wie die "Währung" mit der Verständigung innerhalb von und zwischen Gesellschaften gelingen kann. Im Sinne einer gerechten Weltordnung und im Sinne eines friedlichen Miteinanders muss unsere Gesellschaft also ein vitales Interesse daran haben, dass Menschen wieder lernen, Sinnfragen zu stellen, sich über Ziele zu verständigen, nach Werten und Tugenden zu fragen. Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft, wie der zwischen Gesellschaften lässt sich jedenfalls nicht über Geld und Macht, über Markt- und Rechtsbeziehungen herstellen. Bindende Kraft entfaltet erst eine Übereinstimmung an Grundwerten und Grundüberzeugungen. Diese zu erzeugen und aufrecht zu erhalten, ist aber nicht nur, nicht zuerst die Aufgabe von Politik.
Ethik und Ökonomie sind inkommensurabel ja inkompatibel - es sei denn, wir verwechseln Ethik mit jener Vernunft, die im sogenannten aufgeklärten Eigeninteresse am Werk ist, im wirtschaftlichen Kalkül des langfristigen Interesses, in der Nachhaltigkeit. Das wäre ja schon etwas. Weil Wirtschaft für sich nicht nach ethischen Grundsätzen funktioniert, müssen Gesellschaften ethische Grundsätze formulieren, vorgeben und durchhalten. Das ist nur möglich, wenn die Bürger selbst ausreichendes Interesse und lebendiges Engagement dafür aufbringen. John Rawls, der schon erwähnte berühmte amerikanische Philosoph, der kurz vor seinem Tode seine berühmte Gerechtigkeitstheorie "aktualisierte", hat die Verantwortung der Bürger für ihre eigenen Gerechtigkeitsgrundsätze betont. Dazu müssten sie von ihren eigenen kurzfristigen Interessen absehen und nach dem Vernünftigen fragen. Diese "Bürde des Urteilens" sei in pluralen Gesellschaften unbedingt gefordert, sie präge das Ideal des vernünftigen Bürgers.
Der Entwurf einer europäischen Verfassung wäre übrigens ein guter Anlass gewesen, eine Wertedebatte über Grenzen hinweg zu führen. Ich denke nicht zuletzt an den Gottesbezug in der Präambel, der an die 2000jährige christlich-jüdische Tradition unserer Werte erinnert hätte. Er wäre aus meiner Sicht wünschenswert, damit wir uns auch in der gemeinsamen europäischen Verfassung der historisch überlieferten Grundlagen - eben auch der religiösen Grundlagen - versichert hätten und versichern. Doch die politische Auseinandersetzung über den Katalog europäischer Grundwerte hat leider kaum öffentlichen Widerhall gefunden, nicht zuletzt mangels Berichterstattung in den Medien, mangels einer "europäischen Öffentlichkeit".
Ich bedauere sehr, dass nur wenige Medien ein Forum für grundsätzliche gesellschaftliche Debatten bieten - sei es über die Werte und Ziele unserer Gesellschaft, sei es über die Zukunft der europäischen Union. Im Fernsehen und leider auch in immer mehr Zeitungen verhindert das Bedürfnis nach Unterhaltung und das Schielen nach Quoten zunehmend eine Auseinandersetzung mit solcher Art "ernsthaften" Themen.
Deshalb ist es gut, dass es Orte gibt wie diesen: Orte, die zur Besinnung zu einem gesellschaftlichen Diskurs auffordern - nicht nur über "letzte" Fragen, sondern gerade auch über die "vorletzten", über ganz weltliche Fragen. Dass zu diesem Beitrag Kirchen und Christen gefragt sind, ist selbstverständlich. Die Ressourcen für Gewissheiten, für Orientierungen, für Verständigung werden in einer Welt der Privatisierung und Kommerzialisierung immer knapper. Christlichen Kirchen und die Christenmenschen sind gefragt als unverzichtbare
- darf ich das jetzt so grob nennen - "Dienstleister" in ethischen Fragen. Ihr demütig- selbstbewusstes Angebot an Sinn-Erinnerung und Sinn-Orientierung bleibt notwendiger denn je.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Quelle:
http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2004/004a