Reden des
Bundestagspräsidenten
Reden 2004
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, aus Anlass des 125. Geburtstages von Marie Juchacz am 15. März 2004 im Deutschen Bundestag
Es gilt das gesprochene
Wort
Am 19. Januar 1919 fanden die ersten allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen in Deutschland statt. Ein Novum in vielerlei Hinsicht: Zum ersten Mal sind Frauen zu Reichstagswahlen zugelassen. Und zum ersten Mal wird nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Stärkste Fraktion in der verfassungsgebenden Nationalversammlung wird die SPD. Sie muss, um eine Regierung bilden zu können, mit dem Zentrum und den Liberalen zusammenarbeiten.
Marie Juchacz, über deren Leben ja schon einiges gesagt worden ist, gehört als Abgeordnete der SPD zu den Parlamentarierinnen der ersten Stunde - neben Elisabeth Kirschmann-Roehl, ihrer Schwester, und Louise Schröder, neben der Liberalen Marie-Elisabeth Lüders und weiteren 37 Frauen. Knapp zehn Prozent aller Abgeordneten waren Frauen.
Am 19. Februar 1919 ergreift Marie Juchacz in der elften Sitzung der verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar das Wort - als erste Frau in der deutschen Parlamentsgeschichte. Ein historischer Moment, er liegt - soll ich sagen: schon oder erst - 85 Jahre zurück! Selbstbewusst erklärt Marie Juchacz, dass die Frauen der Regierung für die nun erfolgte Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen keineswegs Dank schuldig seien. "Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist." Und weiter sagt sie: "Unsere Pflicht (…) ist es, hier auszusprechen, was für immer in den Annalen der Geschichte festgehalten werden wird, dass es die erste sozialdemokratische Regierung gewesen ist, die ein Ende gemacht hat mit der politischen Unmündigkeit der deutschen Frau."
Dass die erste Rede einer deutschen Abgeordneten eine historische Zäsur darstellt, wird damals auch öffentlich wahrgenommen. Im "Vorwärts" kann man lesen: "Mit der Rednerin Marie Juchacz tritt uns ein neuer, ganz anderer Typ entgegen. Vorbei ist die Zeit, in der Vorkämpferinnen einer Frauenbewegung glaubten, sie müssten durch Annahme männlicher Allüren ihre Gleichwertigkeit mit den Männern beweisen. (…) Marie Juchacz ist die Frau, die ihre errungenen Rechte mit würdiger Selbstverständlichkeit wahrnimmt."
In der Nationalversammlung wird Marie Juchacz unter anderem Mitglied im wichtigen "Ausschuss zur Vorbereitung des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs" - ich erwähne das und betone das: Sie hat sich nicht auf so genannte frauenspezifische Themen abdrängen lassen, im Gegenteil, sie leistet hier Pionierarbeit. Sie setzt sich natürlich für die rechtliche Gleichstellung der Frauen, für die Abschaffung der Todesstrafe und für die Änderung der Rechtsstellung unehelicher Kinder ein. Diese Themen, für die sie als eine der Ersten streitet, entwickeln sich zu parlamentarischen Dauerbrennern, an ihnen lässt sich die mühselige Entwicklung der Demokratie ablesen: Sie beschäftigen auf Jahrzehnte die Gesetzgebung - zunächst die Parlamente der Weimarer Republik, später dann den Deutschen Bundestag.
Weitere Schwerpunkte der 14 Jahre währenden Tätigkeit der Abgeordneten Juchacz sind das Jugendhilferecht, das Arbeitsschutzgesetz für Kinder und Jugendliche, die Einführung der Fristenlösung, der Ausbau der Mutterschaftsfürsorge, die Neuregelung des veralteten Armenpflegerechts, die Erwerbslosenfürsorge, die öffentliche Wohlfahrtspflege.
Innere Triebkraft ihres politischen Engagements ist die katastrophale soziale Lage im damaligen Nachkriegsdeutschland. Allein in Berlin sind mindestens drei Viertel der Bevölkerung in besorgniserregender Weise unterernährt. Die Wohnungsnot ist riesig. Für viele Menschen ist der letzte Zufluchtsort das städtische Asyl für Obdachlose. Männer, die aus dem Krieg heimkehren, müssen in das normale Leben zurückfinden, doch Arbeit finden sie kaum.
Noch im Jahre 1919 schlägt Marie Juchacz dem SPD-Parteivorstand die Gründung eines eigenen, sozialdemokratischen Wohlfahrtsverbandes vor. Im Dezember 1919 gibt die Parteiführung grünes Licht: Sie beauftragt Marie Juchacz mit der Organisation und Leitung eines "Hauptausschusses Arbeiter-Wohlfahrt". Die AWO ist in ihrem ersten Jahrzehnt eine Unterorganisation der Partei, kein selbstständiger Mitgliederverband. Als Teil der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung setzt sich die AWO für eine Wohlfahrtspolitik ein, die auf den modernen Sozialstaat zielt. Die Beseitigung der Massennot ist eine nahe liegende Aufgabe, aber Marie Juchacz denkt nicht nur in tagespolitischer Perspektive. Sie sieht in der ehrenamtlichen Arbeit zugleich auch ein hervorragendes Mittel, um staatsbürgerliche Gesinnung und Mitverantwortung zu wecken, Solidarität zu lernen und zu leben.
Doch sie weiß auch: In Zeiten des Umbruchs ist das gute Herz allein noch kein Garant für gute Sozialarbeit. Auch hier ist Fachwissen unerlässlich. Und so organisiert der AWO-Hauptausschuss Schulungskurse und Beratungsangebote, vermittelt Referenten, gewährt Zuschüsse. Die systematisch vorangetriebene Schulungs- und Fortbildungsarbeit führt zu einer überraschend breiten Übernahme von Ehrenämtern: Freiwillige der AWO arbeiten in der Säuglings- und Mütterfürsorge, in der Jugend- und Erwachsenengerichtshilfe, in der Altenbetreuung. Zigtausende Freiwillige helfen Menschen in sozialen Notlagen. Schon bald - im Rückblick erscheint mir das rasend schnell - wird die AWO als Spitzenwohlfahrtsverband des Reiches anerkannt.
Man darf wohl, ohne der Übertreibung geziehen zu werden, behaupten: Die Aktivisten der Arbeiterwohlfahrt in der Weimarer Republik haben Grundsteine für Einstellungen und Entwicklungen gelegt, die wir heute gerne als selbstverständlich bezeichnen: solidarisches Verhalten, bürgerschaftliches Engagement, freiwillige soziale Arbeit.
Marie Juchacz war für die AWO wohl ein Glücksfall, denn aufgrund ihrer Mitgliedschaften im Parteivorstand und im Parlament kann sie an den richtigen Stellen die Interessen der Wohlfahrtspflege vertreten, also gute sozialorientierte Lobbyarbeit im besten Sinne des Wortes leisten. Auf der Zehnjahresfeier der Arbeiterwohlfahrt 1930 in Berlin erklärt sie: "Für die Arbeiterwohlfahrt haben die zehn Jahre genügt, um eine lebendige, starke, moderne Wohlfahrtsorganisation aufzubauen, eine Wohlfahrtsorganisation, die viele Frauenkräfte erweckt und entwickelt hat. Wir sind stolz auf unseren Erfolg. Wir sind aber nicht zufrieden damit. Vorwärts und aufwärts muss die Entwicklung des sozialen Staates gehen. Wir wollen unseren Teil dabei leisten, nach bester Kraft."
Doch seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 zeichnet sich neues Unheil ab. Betriebsschließungen, Lohnsenkungen, Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit stürzen Millionen in Not und Verzweiflung. Radikale Parteien gehen auf Mitgliederfang, bieten scheinheilig Zuflucht, suggerieren Alternativen. Die Arbeiterwohlfahrt versuchte mit ihren Mitteln gegenzusteuern, doch dies wird immer schwerer. In den letzten drei Jahren der Weimarer Republik schritt die Aushöhlung des parlamentarisch-demokratischen Systems voran. Wir wissen es, Hitler wurde immer stärker.
Ihre letzte Rede im Plenum des Reichstags hält Marie Juchacz am 26. Februar 1932. Es ist die Zeit der Präsidialregierungen, in der das Parlament bereits weitgehend entmachtet ist. Eigentlich soll über den Termin einer Reichspräsidentenwahl diskutiert werden, aber Thema ist die aktuelle Politik. Marie Juchacz spricht an diesem Tag, wie sie sagt, "für die Frauen des werktätigen Volkes und (…) für die Mehrheit der deutschen Frauen überhaupt". Sie hält eine kämpferische, aufrüttelnde Rede gegen den Nationalsozialismus: "Dieser Politik, der nationalsozialistischen Politik, mit allen Kräften entgegenzutreten, zwingt uns unsere Liebe zu unserem Volke und unserem Lande. Es ist genug des Elends, es ist genug des Bluts! Mit Abscheu und Entsetzen wenden wir Frauen uns ab von jenen Bildern der Verrohung und Verwilderung, die sich uns heute täglich darbieten und an denen es leider auch in diesem Hause nicht fehlt." Die Abgeordnete Juchacz warnt vor einem neuen "völkervernichtenden Krieg" und appelliert an die Frauen: "Die Frauen müssen bei dieser Wahl, die für das Schicksal des deutschen Volkes entscheidend sein kann auf viele Jahre hinaus, den Kampf aufnehmen für Frieden und Freiheit, für Frauenrecht und Frauenwürde, gegen den Todfeind: den Faschismus."
Wahrlich couragierte Worte! Der weitere Gang der Geschichte ist bekannt: Am 23. März 1933 stimmt das ohnehin geschwächte Parlament Hitlers Ermächtigungsgesetz zu und besiegelt damit seine endgültige Entmachtung. 94 Abgeordnete der SPD haben dem Ermächtigungsgesetz mutig widersprochen, unter ihnen Marie Juchacz. Aber die anrollende Lawine können sie allein nicht aufhalten. Der entscheidende Fehler, der den Nationalsozialisten den Weg zur Macht ebnete, wurde lange vor dem 23. März 1933 gemacht: Die Weimarer Republik ging zugrunde, weil sie zu spät und von zu wenigen und vor allem von zu wenigen aktiven Demokraten verteidigt worden ist. Wir wissen es.
Marie Juchacz gehört als Mitglied des SPD-Parteivorstandes, als aktive Demokratin und Parlamentarierin zu denjenigen, die vor den Bedrohungen der Nationalsozialisten fliehen müssen. Sie geht zunächst in das Saargebiet, dann nach Frankreich, später in die USA. Ihr Exil dauert 16 Jahre. 1949 kehrt die inzwischen 70-Jährige dann nach Deutschland zurück, wird Ehrenvorsitzende der als unabhängige Organisation neu gegründeten Arbeiterwohlfahrt und nimmt an wichtigen Ereignissen und Tagungen teil. Nur wenige Jahre später, am 28. Januar 1956, endet ihr Leben.
Meine Damen und Herren, Marie Juchacz hat das Verdienst, mit der Gründung und Profilierung der Arbeiterwohlfahrt eine nachhaltige Entwicklung, eine wirklich nachhaltige Entwicklung im Bereich der freien Wohlfahrtspflege eingeleitet zu haben: ihre Einordnung in das Gesamtkonzept einer sozialen Politik. Sie hat die Wohlfahrt in der deutschen Arbeiterbewegung und in der demokratischen Politik verankert. Wohlfahrtsarbeit sollte, wie sie einmal sagte, "nicht mehr ein Vorrecht der höheren Töchter sein, sondern allgemein die Arbeit ernsthafter Frauen und Männer aus allen Schichten". Und wer sich für ehrenamtliche Arbeit engagiert, hat Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung, auf Qualifizierung, auf Erwerb von Fachwissen.
Die Lebensleistung von Marie Juchacz ist nicht wirklich teilbar in parlamentarische Arbeit, Parteiarbeit, Wohlfahrtsarbeit, Frauenarbeit. In ihrem Selbstverständnis gehörte dies alles zusammen. Diese Arbeitsbereiche bedingten, durchdrangen, bereicherten einander und dienten letztlich einem großen Ziel: der Schaffung einer sozial gerechten und demokratischen Gesellschaft. Das war Marie Juchacz's politische Vision, dafür kämpfte sie.
Meine Damen und Herren, diese Veranstaltung hier im Reichstagsgebäude findet am Eingang zum Marie-Juchacz-Saal statt. Dass wir diesen Namen für einen unserer Versammlungssäle gewählt haben, soll zeigen, dass die Erinnerung an Marie Juchacz uns eine Verpflichtung ist - Wilhelm Schmidt hat daran erinnert. Dieser Name weist aber, so hoffe ich, durchaus über Parteigrenzen, über institutionelle Grenzen und Ländergrenzen hinaus. Ich bin froh, dass sich die Arbeiterwohlfahrt 85 Jahre nach ihrer Gründung weiterhin dem Erbe dieser großen Demokratin und Sozialpolitikerin verbunden fühlt. Und natürlich wünsche ich mir, dass junge Menschen durch ihr Vorbild angeregt werden, sich ebenfalls für Demokratie und Solidarität zu engagieren. Denn, der Satz ist ja richtig, Solidarität ist eine knappe Ressource. Wir müssen immer wieder neu sorgen, dass sie nachwächst. Und das gleiche gilt für das Engagement für die Demokratie.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Am 19. Januar 1919 fanden die ersten allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen in Deutschland statt. Ein Novum in vielerlei Hinsicht: Zum ersten Mal sind Frauen zu Reichstagswahlen zugelassen. Und zum ersten Mal wird nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Stärkste Fraktion in der verfassungsgebenden Nationalversammlung wird die SPD. Sie muss, um eine Regierung bilden zu können, mit dem Zentrum und den Liberalen zusammenarbeiten.
Marie Juchacz, über deren Leben ja schon einiges gesagt worden ist, gehört als Abgeordnete der SPD zu den Parlamentarierinnen der ersten Stunde - neben Elisabeth Kirschmann-Roehl, ihrer Schwester, und Louise Schröder, neben der Liberalen Marie-Elisabeth Lüders und weiteren 37 Frauen. Knapp zehn Prozent aller Abgeordneten waren Frauen.
Am 19. Februar 1919 ergreift Marie Juchacz in der elften Sitzung der verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar das Wort - als erste Frau in der deutschen Parlamentsgeschichte. Ein historischer Moment, er liegt - soll ich sagen: schon oder erst - 85 Jahre zurück! Selbstbewusst erklärt Marie Juchacz, dass die Frauen der Regierung für die nun erfolgte Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen keineswegs Dank schuldig seien. "Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist." Und weiter sagt sie: "Unsere Pflicht (…) ist es, hier auszusprechen, was für immer in den Annalen der Geschichte festgehalten werden wird, dass es die erste sozialdemokratische Regierung gewesen ist, die ein Ende gemacht hat mit der politischen Unmündigkeit der deutschen Frau."
Dass die erste Rede einer deutschen Abgeordneten eine historische Zäsur darstellt, wird damals auch öffentlich wahrgenommen. Im "Vorwärts" kann man lesen: "Mit der Rednerin Marie Juchacz tritt uns ein neuer, ganz anderer Typ entgegen. Vorbei ist die Zeit, in der Vorkämpferinnen einer Frauenbewegung glaubten, sie müssten durch Annahme männlicher Allüren ihre Gleichwertigkeit mit den Männern beweisen. (…) Marie Juchacz ist die Frau, die ihre errungenen Rechte mit würdiger Selbstverständlichkeit wahrnimmt."
In der Nationalversammlung wird Marie Juchacz unter anderem Mitglied im wichtigen "Ausschuss zur Vorbereitung des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs" - ich erwähne das und betone das: Sie hat sich nicht auf so genannte frauenspezifische Themen abdrängen lassen, im Gegenteil, sie leistet hier Pionierarbeit. Sie setzt sich natürlich für die rechtliche Gleichstellung der Frauen, für die Abschaffung der Todesstrafe und für die Änderung der Rechtsstellung unehelicher Kinder ein. Diese Themen, für die sie als eine der Ersten streitet, entwickeln sich zu parlamentarischen Dauerbrennern, an ihnen lässt sich die mühselige Entwicklung der Demokratie ablesen: Sie beschäftigen auf Jahrzehnte die Gesetzgebung - zunächst die Parlamente der Weimarer Republik, später dann den Deutschen Bundestag.
Weitere Schwerpunkte der 14 Jahre währenden Tätigkeit der Abgeordneten Juchacz sind das Jugendhilferecht, das Arbeitsschutzgesetz für Kinder und Jugendliche, die Einführung der Fristenlösung, der Ausbau der Mutterschaftsfürsorge, die Neuregelung des veralteten Armenpflegerechts, die Erwerbslosenfürsorge, die öffentliche Wohlfahrtspflege.
Innere Triebkraft ihres politischen Engagements ist die katastrophale soziale Lage im damaligen Nachkriegsdeutschland. Allein in Berlin sind mindestens drei Viertel der Bevölkerung in besorgniserregender Weise unterernährt. Die Wohnungsnot ist riesig. Für viele Menschen ist der letzte Zufluchtsort das städtische Asyl für Obdachlose. Männer, die aus dem Krieg heimkehren, müssen in das normale Leben zurückfinden, doch Arbeit finden sie kaum.
Noch im Jahre 1919 schlägt Marie Juchacz dem SPD-Parteivorstand die Gründung eines eigenen, sozialdemokratischen Wohlfahrtsverbandes vor. Im Dezember 1919 gibt die Parteiführung grünes Licht: Sie beauftragt Marie Juchacz mit der Organisation und Leitung eines "Hauptausschusses Arbeiter-Wohlfahrt". Die AWO ist in ihrem ersten Jahrzehnt eine Unterorganisation der Partei, kein selbstständiger Mitgliederverband. Als Teil der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung setzt sich die AWO für eine Wohlfahrtspolitik ein, die auf den modernen Sozialstaat zielt. Die Beseitigung der Massennot ist eine nahe liegende Aufgabe, aber Marie Juchacz denkt nicht nur in tagespolitischer Perspektive. Sie sieht in der ehrenamtlichen Arbeit zugleich auch ein hervorragendes Mittel, um staatsbürgerliche Gesinnung und Mitverantwortung zu wecken, Solidarität zu lernen und zu leben.
Doch sie weiß auch: In Zeiten des Umbruchs ist das gute Herz allein noch kein Garant für gute Sozialarbeit. Auch hier ist Fachwissen unerlässlich. Und so organisiert der AWO-Hauptausschuss Schulungskurse und Beratungsangebote, vermittelt Referenten, gewährt Zuschüsse. Die systematisch vorangetriebene Schulungs- und Fortbildungsarbeit führt zu einer überraschend breiten Übernahme von Ehrenämtern: Freiwillige der AWO arbeiten in der Säuglings- und Mütterfürsorge, in der Jugend- und Erwachsenengerichtshilfe, in der Altenbetreuung. Zigtausende Freiwillige helfen Menschen in sozialen Notlagen. Schon bald - im Rückblick erscheint mir das rasend schnell - wird die AWO als Spitzenwohlfahrtsverband des Reiches anerkannt.
Man darf wohl, ohne der Übertreibung geziehen zu werden, behaupten: Die Aktivisten der Arbeiterwohlfahrt in der Weimarer Republik haben Grundsteine für Einstellungen und Entwicklungen gelegt, die wir heute gerne als selbstverständlich bezeichnen: solidarisches Verhalten, bürgerschaftliches Engagement, freiwillige soziale Arbeit.
Marie Juchacz war für die AWO wohl ein Glücksfall, denn aufgrund ihrer Mitgliedschaften im Parteivorstand und im Parlament kann sie an den richtigen Stellen die Interessen der Wohlfahrtspflege vertreten, also gute sozialorientierte Lobbyarbeit im besten Sinne des Wortes leisten. Auf der Zehnjahresfeier der Arbeiterwohlfahrt 1930 in Berlin erklärt sie: "Für die Arbeiterwohlfahrt haben die zehn Jahre genügt, um eine lebendige, starke, moderne Wohlfahrtsorganisation aufzubauen, eine Wohlfahrtsorganisation, die viele Frauenkräfte erweckt und entwickelt hat. Wir sind stolz auf unseren Erfolg. Wir sind aber nicht zufrieden damit. Vorwärts und aufwärts muss die Entwicklung des sozialen Staates gehen. Wir wollen unseren Teil dabei leisten, nach bester Kraft."
Doch seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 zeichnet sich neues Unheil ab. Betriebsschließungen, Lohnsenkungen, Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit stürzen Millionen in Not und Verzweiflung. Radikale Parteien gehen auf Mitgliederfang, bieten scheinheilig Zuflucht, suggerieren Alternativen. Die Arbeiterwohlfahrt versuchte mit ihren Mitteln gegenzusteuern, doch dies wird immer schwerer. In den letzten drei Jahren der Weimarer Republik schritt die Aushöhlung des parlamentarisch-demokratischen Systems voran. Wir wissen es, Hitler wurde immer stärker.
Ihre letzte Rede im Plenum des Reichstags hält Marie Juchacz am 26. Februar 1932. Es ist die Zeit der Präsidialregierungen, in der das Parlament bereits weitgehend entmachtet ist. Eigentlich soll über den Termin einer Reichspräsidentenwahl diskutiert werden, aber Thema ist die aktuelle Politik. Marie Juchacz spricht an diesem Tag, wie sie sagt, "für die Frauen des werktätigen Volkes und (…) für die Mehrheit der deutschen Frauen überhaupt". Sie hält eine kämpferische, aufrüttelnde Rede gegen den Nationalsozialismus: "Dieser Politik, der nationalsozialistischen Politik, mit allen Kräften entgegenzutreten, zwingt uns unsere Liebe zu unserem Volke und unserem Lande. Es ist genug des Elends, es ist genug des Bluts! Mit Abscheu und Entsetzen wenden wir Frauen uns ab von jenen Bildern der Verrohung und Verwilderung, die sich uns heute täglich darbieten und an denen es leider auch in diesem Hause nicht fehlt." Die Abgeordnete Juchacz warnt vor einem neuen "völkervernichtenden Krieg" und appelliert an die Frauen: "Die Frauen müssen bei dieser Wahl, die für das Schicksal des deutschen Volkes entscheidend sein kann auf viele Jahre hinaus, den Kampf aufnehmen für Frieden und Freiheit, für Frauenrecht und Frauenwürde, gegen den Todfeind: den Faschismus."
Wahrlich couragierte Worte! Der weitere Gang der Geschichte ist bekannt: Am 23. März 1933 stimmt das ohnehin geschwächte Parlament Hitlers Ermächtigungsgesetz zu und besiegelt damit seine endgültige Entmachtung. 94 Abgeordnete der SPD haben dem Ermächtigungsgesetz mutig widersprochen, unter ihnen Marie Juchacz. Aber die anrollende Lawine können sie allein nicht aufhalten. Der entscheidende Fehler, der den Nationalsozialisten den Weg zur Macht ebnete, wurde lange vor dem 23. März 1933 gemacht: Die Weimarer Republik ging zugrunde, weil sie zu spät und von zu wenigen und vor allem von zu wenigen aktiven Demokraten verteidigt worden ist. Wir wissen es.
Marie Juchacz gehört als Mitglied des SPD-Parteivorstandes, als aktive Demokratin und Parlamentarierin zu denjenigen, die vor den Bedrohungen der Nationalsozialisten fliehen müssen. Sie geht zunächst in das Saargebiet, dann nach Frankreich, später in die USA. Ihr Exil dauert 16 Jahre. 1949 kehrt die inzwischen 70-Jährige dann nach Deutschland zurück, wird Ehrenvorsitzende der als unabhängige Organisation neu gegründeten Arbeiterwohlfahrt und nimmt an wichtigen Ereignissen und Tagungen teil. Nur wenige Jahre später, am 28. Januar 1956, endet ihr Leben.
Meine Damen und Herren, Marie Juchacz hat das Verdienst, mit der Gründung und Profilierung der Arbeiterwohlfahrt eine nachhaltige Entwicklung, eine wirklich nachhaltige Entwicklung im Bereich der freien Wohlfahrtspflege eingeleitet zu haben: ihre Einordnung in das Gesamtkonzept einer sozialen Politik. Sie hat die Wohlfahrt in der deutschen Arbeiterbewegung und in der demokratischen Politik verankert. Wohlfahrtsarbeit sollte, wie sie einmal sagte, "nicht mehr ein Vorrecht der höheren Töchter sein, sondern allgemein die Arbeit ernsthafter Frauen und Männer aus allen Schichten". Und wer sich für ehrenamtliche Arbeit engagiert, hat Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung, auf Qualifizierung, auf Erwerb von Fachwissen.
Die Lebensleistung von Marie Juchacz ist nicht wirklich teilbar in parlamentarische Arbeit, Parteiarbeit, Wohlfahrtsarbeit, Frauenarbeit. In ihrem Selbstverständnis gehörte dies alles zusammen. Diese Arbeitsbereiche bedingten, durchdrangen, bereicherten einander und dienten letztlich einem großen Ziel: der Schaffung einer sozial gerechten und demokratischen Gesellschaft. Das war Marie Juchacz's politische Vision, dafür kämpfte sie.
Meine Damen und Herren, diese Veranstaltung hier im Reichstagsgebäude findet am Eingang zum Marie-Juchacz-Saal statt. Dass wir diesen Namen für einen unserer Versammlungssäle gewählt haben, soll zeigen, dass die Erinnerung an Marie Juchacz uns eine Verpflichtung ist - Wilhelm Schmidt hat daran erinnert. Dieser Name weist aber, so hoffe ich, durchaus über Parteigrenzen, über institutionelle Grenzen und Ländergrenzen hinaus. Ich bin froh, dass sich die Arbeiterwohlfahrt 85 Jahre nach ihrer Gründung weiterhin dem Erbe dieser großen Demokratin und Sozialpolitikerin verbunden fühlt. Und natürlich wünsche ich mir, dass junge Menschen durch ihr Vorbild angeregt werden, sich ebenfalls für Demokratie und Solidarität zu engagieren. Denn, der Satz ist ja richtig, Solidarität ist eine knappe Ressource. Wir müssen immer wieder neu sorgen, dass sie nachwächst. Und das gleiche gilt für das Engagement für die Demokratie.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Quelle:
http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2004/010