Bildwortmarke des Deutschen Bundestages . - Schriftzug und Bundestagsadler
English    | Français   
 |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ  |  Druckversion
 
Startseite > Blickpunkt Bundestag > Blickpunkt Bundestag - Jahresübersicht 1998 > Blickpunkt Bundestag - Juni 1998, Nr. 1/98, Seite 2, Inhalt >
Juni 01/1998
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

R. Süssmuth

Freiheit und Einheit

Das Erbe von 1848/49 in unserer parlamentarischen Demokratie von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth
Die auf Freiheit und Einheit gerichteten Bestrebungen von 1848/49 waren die entscheidende Weichenstellung auf Deutschlands Weg in die Moderne. Sie waren Teil einer europäischen Bewegung. Das Parlament in der Frankfurter Paulskirche trat am 18. Mai 1848 zusammen zu einem Zeitpunkt, als die Freiheitsbewegungen in vielen Staaten Europas bereits vor dem Scheitern standen. 150 Jahre später erinnern sich der Bund, die Länder und die Kommunen der damaligen Ereignisse auf vielen unterschiedlichen Veranstaltungen. Dadurch wird wieder bewußt: Auch unsere Demokratie bedarf der historisch geleiteten geistigen Orientierung und der inneren Verbundenheit mit der eigenen Freiheitstradition. Das gilt um so mehr, als sich bislang eher das damalige Scheitern der Revolution im kollektiven Bewußtsein verankert hatte, nicht aber der Freiheitskampf vieler Menschen, ihre Aufbrüche, ihre Visionen, ihr politisches Engagement. Es war deswegen wichtig, daß die Abgeordnetinnen und Abgeordneten des Deutschen Bundestages in diesem Jahr zum erstenmal die Freiheitsbewegung von 1848/49 im Parlament gewürdigt und ihre Auswirkungen für unsere Gegenwart diskutiert haben. Inzwischen haben Hunderttausende bei uns in den letzten Monaten die Ausstellungen, Vorträge und Veranstaltungen zu den Ereignissen von 1848/49 besucht. Auch das macht deutlich, welche Bedeutung in unserer Umbruchszeit die Suche nach politischer Orientierung erneut gewonnen hat, wie sehr die Vergewisserung nach dem "woher" gesucht wird, um Fragen nach dem "wohin" zu beantworten.
Historische Jubiläen sind nicht nur Anlässe der Erinnerung, sondern zugleich Prüfsteine des eigenen Selbstverständnisses. Das gilt gerade im Hinblick auf mangelnde Wertschätzung und aktive Verteidigung unserer Freiheit. Der Bezug auf die Ereignisse von 1848/49 ruft wieder jene wichtige Freiheitstradition in unser politisches Gedächtnis, die oft verschüttet war. Die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert ist ja weniger von politischen Kontinuitäten, sondern mehr durch Brüche gekennzeichnet. Lange dominierende obrigkeitsstaatliche Mentalitäten sind bis heute zu spüren. In Deutschland verfügen wir deshalb nur über eine schwach ausgebildete Freiheitstradition im Bewußtsein der Bürger. 1848/49 stand bislang nicht für politischen Umbruch, für den Beginn der parlamentarischen Demokratie in Deutschland wie beispielsweise 1789 für die Franzosen oder später die Freiheitskämpfe bei Polen und Ungarn. Aber auch wir verfügen über historische Wurzeln einer Freiheitstradition, bei der es in unserer Hand liegt, ob wir sie verkümmern lassen oder ob wir sie nutzen im Sinne einer die Bürger verbindenden demokratischen Identität und der Sicherung freiheitlichen Bewußtseins. Dabei geht es nicht um eine nachträgliche Harmonisierung der Geschichte. Gerade demokratische Identität, die die Legitimität freiheitlicher Ordnungen sichern hilft, bedarf einer Aneignung, die die Widersprüchlichkeit der historischen Entwicklungen bewußt aufnimmt. Erst aus der prüfenden Urteilsbildung heraus erwächst die Bindung an die eigene Freiheitstradition. Ohne diesen "Vernunftgebrauch" kann die freiheitliche Demokratie auch nicht jene "Gewohnheiten des Herzens" ausbilden, die die zivilen Haltungen in unserem freiheitlichen Gemeinwesen dauerhaft sichern helfen.
Die Erinnerung an Ursprung und Verlauf der deutschen Freiheitsbewegung mit ihren Forderungen nach Menschenrechten, Verfassung und Parlament bietet die Chance einer politischen Standortbestimmung, die über das politische Tagesgeschäft hinaus die Grundlagen unseres Gemeinwesens bewußt macht. Wer Schaden von unserer Demokratie abwenden und sie vor ihren Gegnern und Feinden, aber auch vor Gleichgültigkeit und Distanz verteidigen will, der weiß, daß die Werte und Normen einer freiheitlichen, parlamentarischen Demokratie immer wieder neu der geistigen Verankerung bedürfen. Das geschieht nicht von selbst. Wenn unsere parlamentarische Demokratie nicht Energien für die Ausbildung geistiger Orientierung verwendet, dann leistet sie einer gedanklichen Auszehrung Vorschub, die nicht nur in Krisenzeiten schwerwiegende Folgen haben kann. Denn bereits jetzt muß es uns Sorgen machen, daß eine immer größer werdende Zahl von Menschen die Leistungsfähigkeit der Demokratie, ja ihren Wert selbst bezweifelt. Je größer die Probleme sind, desto höher werden die Erwartungen an die Lösung der Arbeitslosigkeit, der Kriminalitätsbekämpfung, der inneren und sozialen Sicherheit. Aber in welcher anderen Staatsform könnten die Probleme menschenwürdiger und gewaltfreier gelöst werden als in der Demokratieß In keiner! Eine parlamentarische Demokratie ist jedoch keine Schönwetterdemokratie, ihre Prinzipien sind nicht formbar nach Opportunitäten oder der jeweiligen Wirtschaftslage, sondern gelten grundsätzlich. Nur dadurch verbürgen sie Freiheit auch in rauhen Zeiten, können sie die Sorge für soziale Gerechtigkeit " der gerechten Verteilung von Chancen, Belastungen und Entlastungen " als Pflicht der Stärkeren für die Schwächeren bewahren. Deswegen erfordert es gerade heute besonderer Anstrengungen, die geistigen Grundlagen unserer Demokratie deutlicher bewußt zu machen.
Das Zusammentreffen von demokratischem Aufbruch in allen Teilen der Bevölkerung und das erste nationale Parlament in der Frankfurter Paulskirche 1848/49 " das war die Geburtsstunde unserer heutigen parlamentarischen Demokratie. Es war der Kampf um "Freiheit und Einheit", der viele, viele Menschen in Deutschland (und in ganz Europa) begeisterte. Allerdings mußte nach dem Scheitern der Frankfurter Paulskirchenversammlung in den Jahrzehnten danach erst mühsam Stück für Stück jener Weg freiheitlicher Demokratie in einem föderal geeinten Deutschland freigelegt werden, den die "48er" damals gewiesen hatten. Die monarchische Obrigkeit im 19. Jahrhundert verunglimpfte den Kampf um die Freiheit und den Versuch der Überwindung deutscher Kleinstaaterei als "tolles Jahr", dem man Ordnung und Sicherheit einerseits, einen sich militarisierenden Nationalismus andererseits entgegensetzte. Die für uns heute so selbstverständlichen konstitutionellen Bindungen und politischen Teilhabemöglichkeiten waren Ergebnis mühseliger Lernprozesse und langwieriger Machtkämpfe. Die Erlangung deutscher Einheit und freiheitlicher Demokratie wurden lange Zeit für viele Deutsche zu zwei unterschiedlichen Zielen " das Deutsche Reich wurde 1870/71 mit Eisen und Schwert zusammengeschweißt, und die erste freie Demokratie fand erst später, nach dem 1. Weltkrieg, mit der Weimarer Republik ihre Gestalt. In der nationalsozialistischen Diktatur wurden Freiheit und Einheit schnell wieder verspielt. Deutschland blieb, nach dem 2. Weltkrieg, 40 Jahre geteilt und nur im Westen konnte sich eine parlamentarische Demokratie entwickeln. Als die Menschen in der DDR 1989 auf die Straße gingen und die SED-Diktatur in machtvollen, friedlichen Demonstrationen stürzten, knüpften sie unbewußt wieder an die Forderungen von 1848/49 an. Es zeigte sich, wie geschichtsmächtig die Ideen von Freiheit, Demokratie und Einheit auch 150 Jahre später waren. Heute leben wir in einer geeinten Republik, die sich zum erstenmal unvoreingenommen der eigenen Freiheitstraditionen erinnern un versichern kann. Der Deutsche Bundestag und die Bürgergesellschaft unseres Landes haben in besonderer Weise im Geschehen von 1848/49 ihre Wurzeln. Beide ruhen auf den großen Anstrengungen der Menschen damals um Bürgerrechte, Gewaltfreiheit, Gewaltenteilung und Einheit sowie der friedlichen Revolution von 1989. Deswegen kommt auch beiden die Aufgabe zu, immer wieder Anstöße zu geben für eine Erinnerungskultur der Freiheit. Diese bewahrt den mutigen, oft bis zum Einsatz des eigenen Lebens gehenden Kampf von Bürgerinnen und Bürgern für Menschenrechte und parlamentarische Demokratie, macht sie jeder Generation neu zugänglich. So kann sich " und das ist eine wichtige Zukunftsperspektive " eine für Ost- und Westdeutsche gemeinsame demokratische Kultur entwickeln, die sich auch in den jetzigen und künftigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen als tragfähig erweist. Denn nur mündige Bürger stehen in Krisenzeiten zu Menschenwürde und Menschenrechten, entwickeln Mut zur Veränderung, engagieren sich verantwortungsbewußt für das Gemeinwohl.
Revolutionäre Erhebungen sind nie einheitlich. Damals mischten sich in ihr das Streben nach nationaler Eigenständigkeit, freiheitlicher Verfassung und Volksvertretung mit sozialen Fragen und Emanzipationsbestrebungen des vierten Standes und der Frauen. Hungersnöte, wirtschaftliche Krisen und Forderungen nach Sicherung von Lohn und Brot vor dem Hintergrund des beginnenden Industriezeitalters trugen zum Ausbruch ebenso bei wie ein politisch erstarkendes Bürgertum, beeinflußt durch die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution. Liberale Bürgerliche oder Intellektuelle, Arbeiter oder Handwerker, Bauern oder auch Frauen " jede Gruppe hatte aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellung unterschied-
liche Motive und Ziele für die Teilnahme am Geschehen. Aber es gab neben allen Ambivalenzen immer auch gemeinsame Ziele, an die das heutige Nachdenken über Traditionslinien mitanknüpft. Denn die unterschiedlichen Gruppen waren verbunden im Bewußtsein, sich für eine neue, freie und gerechte politische Ordnung einzusetzen. Aber das galt nicht für alle, wenn man z. B. sieht, daß beispielsweise im Paulskirchenparlament nur Männer saßen, weil Frauen ausgegrenzt wurden. Dort war das liberale Bürgertum vertreten, während die Arbeiter- und Handwerkerschichten ihre Diskussionen auf den öffentlichen Plätzen führten und auf den Barrikaden zu finden waren.
Ziel der 1848er war die Begründung der Souveränität des Volkes, der (allerdings unterschiedlich interpretierten) Bürgerschaft. Politische Teilhabe sollte nicht länger auf die Fürsten beschränkt sein. Bei vielen, egal, ob sie Arbeiter, Bauern, Handwerker, Professoren oder Staatsdiener waren, erwachte ein Interesse an den politischen Angelegenheiten. Trotz aller wirtschaftlichen, sozialen und bildungsmäßigen Gegensätze war es eine erste, pluralistische Form praktisch gelebter Demokratie, die sich damals in wichtigen Regionen Deutschlands bildete. Straßen und Plätze wurden zu öffentlichen Versammlungsorten, viele neue Zeitungen " über 1.700 " dokumentierten das gewachsene politische Interesse und in den zahlreichen politischen Vereinen (über 2.500) waren rund 15 % der männlichen Bevölkerung organisiert, die so aktiv an der politischen Willensbildung teilnahmen. Aber auch viele Frauen engagierten sich in Vereinen, bei Demonstrationen, bei sozialen Diensten, verbreiteten die demokratischen Ideen und begannen trotz aller bestehenden Rechtlosigkeit und Abhängigkeiten, für ihre eigene Emanzipation zu kämpfen.
Dieses politische Engagement damals dokumentiert eine Lebendigkeit in Sachen Freiheit und Demokratie, von der ich mir wünsche, daß wir sie auch heute in breiten Teilen der Bevölkerung hätten. Für die Gestaltung einer aktiven Gesellschaft mit einer zivilen Bürgerkultur ist sie unverzichtbar. Ein solcher Aufbruchswille heute inmitten von gewaltigen technischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen würde auch in unserer parlamentarischen Demokratie notwendige Energien und eine solche Kreativität freisetzen, die nicht auf Besitzstandswahrung setzt, sondern neue Lösungen ausprobiert. 1848 ließen sich die Menschen von der Politik begeistern. Diese Freude an politischer Teilnahme wünsche ich mir heute wieder. Sie könnte mancher Unzufriedenheit mit der Politik, mit unserer Demokratie insgesamt, entgegenwirken. Denn wie anders als durch aktive Beteiligung lernt man realistisch die Möglichkeiten und Grenzen von Politik einschätzenß Wie anders aber auch kann man Politik, die einem unzureichend scheint, ändern als durch demokratisches Engagement, das darauf zielt, es besser zu machenß Die politischen Gestaltungsaufgaben, die Rolle der Politik gegenüber dem Kapital, der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung sind ja nicht geringer, sondern bedeutsamer und zukunftsentscheidender geworden.
Die frei gewählte deutsche Nationalversammlung von 1848 war möglich geworden aufgrund des Einsatzes vieler Menschen aus unterschiedlichen Schichten. Blutige Kämpfe mit vielen Opfern " rund 200.000 Menschen " gingen dem Frankfurter Paulskirchenparlament voraus und folgten ihm. Die erste deutsche Nationalversammlung setzte auf die Macht des Wortes, des Arguments, der Gewaltfreiheit. Der freiheitliche Parlamentarismus wurde vom Adel bekämpft, später mit militärischer Gewalt zerschlagen. Dennoch blieben und bleiben wichtige Leistungen. So nötigt die in den Ausschüssen und in der Vollversammlung geleistete parlamentarische Arbeit auch heute noch großen Respekt ab, weil die Abgeordneten ohne lange Vorerfahrung in kürzester Zeit ein funktionierendes Rede- und Arbeitsparlament etablieren konnten. Die oft leidenschaftlich geführten Debatten nahmen die großen Probleme der Zeit auf, das Parlament war ein wirkliches Forum der Nation, in der das Wort etwas galt und der Andersdenkende respektiert wurde. Geschaffen wurde eine Verfassung mit einer Verankerung der Bürger- und Menschenrechte, die in vielen Teilen heute unser Grundgesetz bestimmt. Allerdings fehlten die Frauen, es fehlte auch die heute in Art. 20 des Grundgesetzes verankerte Sozialstaatlichkeit.
Heute sehen wir neben der Größe aber auch die Grenzen der Nationalversammlung deutlicher. Dazu gehören sicher die Einseitigkeiten bei der Wahl (wahlberechtigt waren nur Männer und Besitzende), Defizite in der sozialen Zusammensetzung, manche nationalistische Ausrichtung, die Wankelmütigkeit bei den Entscheidungsfindungen, und nicht zuletzt, daß die Mehrheit der Abgeordneten den Ausgleich mit der Obrigkeit in einem monarchischen Konstitutionalismus suchte anstatt in der vollen republikanischen Volkssouveränität. Daß Bürgerbewegung und Parlament bei aller Unterschiedlichkeit der Formen politischen Engagements zusammengehörten, war zudem ein von vielen nicht begriffener Zusammenhang. Dies führte dazu, daß das eine gegen das andere ausgespielt werden konnte.
Mancher wirkt auch heute daran mit, diesen Fehler unter den Rahmenbedingungen der Bundesrepublik zu wiederholen. Deswegen gilt es deutlich zu sagen: Unsere repräsentative Demokratie mit ihren parlamentarischen Einrichtungen und die aktive Beteiligung von Bürgern in den unterschiedlichen Formen direkter Demokratie stehen sich nicht diametral gegenüber. Mißtrauen in das "Volk" ist genauso wenig angebracht wie Mißtrauen gegenüber dem Parlament. Vielmehr ergänzen sich beide Seiten in den vielfältigen Bahnen politischer Willensbildung, in Kritik und Gegenkritik, in den verschiedenen Wegen der Prüfung alternativer Lösungen. Entscheidend ist der gemeinsame Wille zum gemeinwohlorientierten Engagement. Dazu ist es notwendig, daß sich weder der Deutsche Bundestag in seiner Arbeit vom Volk entfernt noch sich die Bürger des Einsatzes für die Einrichtungen der Demokratie enthalten. Der Preis wäre sonst, wie damals, die Gefahr des Scheiterns.
Der Fehlschlag der Revolution 1848/49 bedeutete nicht das Ende der demokratischen Ideen; diese blieben bis in unsere Gegenwart hinein lebendig. Das gilt auch für wichtige Arbeitsergebnisse des Paulskirchenparlaments, wenn diese auch noch von den Grundsätzen heutiger ziviler, gesamtbürgerschaftlicher Demokratien entfernt waren. Drei Bereiche sind hier zu nennnen:
l Der Verfassungsentwurf, der als Einigungswerk für das ganze Deutschland gedacht war, wurde in der späteren Verfassungsarbeit immer wieder zu Rate gezogen, in der Reichsgründung, den Beratungen zur Weimarer Verfassung und auch im Parlamentarischen Rat.
l Auf den Katalog der unveräußerlichen individuellen und politischen Grundrechte, erstmalig in der Verfassung verankert, haben sich die beratenden Gremien zur Weimarer Verfassung ebenso gestützt wie der Parlamentarische Rat. Bis in konkrete Formulierungen hinein haben die damals formulierten Grundrechte Eingang in unser Grundgesetz gefunden. Dazu gehören (neben der Abschaffung von Adels- und Standesprivilegien) vor allem die Unverletzlichkeit der Person, Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Meinungsfreiheit, Pressefreiheit mitsamt der Abschaffung der Zensur, Versammlungs- und Vereinsfreiheit sowie eine bürgerlich-öffentliche Gerichtsbarkeit. Allerdings hat das Grundgesetz aufgrund der bitteren Erfahrungen mit der brutalen, menschenverachtenden Barbarei der nationalsozialistischen Diktatur im
Art. 1 den Geltungsbereich der Grundrechte nicht nur auf Deutsche bezogen, sondern auf alle Menschen ausgedehnt.
l Auch die Geschäftsordnung der Paulskirchenversammlung, die die Regeln des parlamentarischen Umgangs miteinander festlegte, hat nicht nur unsere verfahrensmäßigen Regularien im Deutschen Bundestag beeinflußt, sondern auch unsere Debattenkultur, die den Andersdenkenden als Gegner, niemals als Feind behandelt: in Rede und Gegenrede, im Zuhörenkönnen und Ernstnehmen des Redenden, im Setzen auf argumentative Auseinandersetzung, in der Achtung vor dem Wort des anderen, im Respekt vor anderen Erfahrungen, im friedlichen Austragen von Konflikten aufgrund unterschiedlicher Sichtweisen und parteipolitischer Einschätzungen unter Wahrung der Gemeinsamkeiten aller Demokraten.
Die Macht und die Durchsetzungskraft des Wortes, auf die wir gerade heute setzen, bedarf aber " auch das gehört zu den wichtigen, gegenwärtig oft übersehenen Erfahrungen von 1848/49 " der Garantien des Rechtsstaates und parlamentarisch kontrollierter Staatsgewalt. Damals waren die Parlamentarier in der Paulskirche ohne Stützung durch von allen Staaten anerkannte exekutive und militärische Macht, sie konnten nur auf ihre Überzeugungen und die Kraft des Wortes setzen. Die Gegenrevolution, die den Einsatz für Freiheit und republikanische Ordnung blutig mit Gewalt niederschlug, bedeutete deswegen auch das Ende des ersten gesamtdeutschen Parlaments. Deswegen dürfen wir es nicht gering achten, daß wir heute eine auf die Demokratie verpflichtete Bundeswehr haben, in der im Gegensatz zu damals die "Staatsbürger in Uniform" unsere Freiheit und unsere parlamentarischen Einrichtungen sichern helfen.
All das zeigt, wie sehr wir in unserer parlamentarischen Demokratie das politische Erbe des Paulskirchenparlaments aufgenommen haben. Es gilt, dieses in der Arbeit nicht nur des Parlaments fruchtbar zu machen, sondern auch im alltäglichen Umgang in unserer Demokratie. Doch unser Blick sollte, stärker noch als 1848/49, über das Nationale hinausgehen. Denn heute ist es unsere Aufgabe, sich auch für ein Europa einzusetzen, in dem eine jetzt möglich gewordene freiheitliche Kultur, ein demokratisches Europa, die gemeinsame Grundlage der Einheit ist. Es wäre ein tatsächliches "Europa der Bürger", in dem die Vielfalt der Kulturen sich in dem Bewußtsein der Zugehörigkeit neu entfalten kann. Ein zweiter "Völkerfrühling", grenzüberschreitend und die Nationen einigend " das ist die Perspektive für unsere gemeinsame Zukunft. Eine friedliche Gemeinschaft gleichberechtigter, freier Völker Europas wird all denjenigen Kräften eine Absage erteilen, die übersteigerten Nationalwahn, Rassismus, Ausländerhaß und Gewalt auf ihre Fahnen geschrieben haben.
Die Saat von Paulskirche und Bürgerbewegung ist aufgegangen, der mutige Einsatz hat sich gelohnt, Freiheit und Einheit sind Wirklichkeit geworden. 1848/49 ist zwar eine gescheiterte, aber keine vergebliche Revolution. Die Wahrung dieses Erbes bedeutet für alle Bürger die dauerhafte Verpflichtung, Freiheitsbewußtsein und Identifikation mit unserer Demokratie, ihren Werten und institutionellen Einrichtungen zu stärken. Wer die Freiheitsvernichtung und Zivilisationsbrüche im Deutschland des 20. Jahrhunderts im Auge behält, wer die Verführung durch den Rechts- und Linksextremismus gerade auch in der Gegenwart beachtet, der weiß, wie notwendig es ist, freiheitliches Bewußtsein zu stärken, die Normen der Zivilität und des fairen Umgangs miteinander zu festigen. Das gilt auch in Hinblick auf die Einrichtungen unserer parlamentarischen Demokratie. Gegenüber denjenigen, die in unserem Land schnell dabei sind, das Parlament zu mißachten und die Arbeit der Abgeordneten geringzuschätzen, kann nicht genug betont werden, wie sehr das Parlament mit seinen geregelten Verfahren, seinen Willensbildungsprozessen, seiner Debattenkultur und seinen Entscheidungen Ausdruck gelebter, praktizierter Freiheit ist. Doch es bedarf zugleich der Bürger, die das Politische als ihre eigene Angelegenheit betrachten, die Gemeinsinn entwickeln und sich im tätigen Engagement verantwortlich für die Belange aller fühlen. Um heute von den Leistungen der parlamentarischen Demokratie verstärkt zu überzeugen, brauchen wir ein Höchstmaß an klarer und verständlicher Sprache, an Toleranz und Übersichtlichkeit. Wir brauchen nicht mehr Gesetze, sondern mehr Konzentration auf das Wesentliche.
Glaubwürdigkeit stärken wir indem im Parlament die Suche nach Lösungen, das Ringen um den "besten Weg" in Rede und Gegenrede sichtbar und erlebbar wird. Zur politischen Willensbildung brauchen wir die Klärung und Abstimmung in den Fraktionen, aber es lohnt sich, in zunächst offener Debatte die Willensbildung öffentlich zu machen. Bindung an die einzelne Fraktion und Loyalität sind notwendig und unverzichtbar, aber Demokratie braucht auch die Sichtbarkeit der individuellen politischen Überzeugungen, das Wissen darum, wofür Frauen und Männer im Parlament eintreten, streiten, und ihren Einfluß, ihre politische Macht geltend machen. Dabei hat die authentische, aus politischer Leidenschaft gehaltene parlamentarische Rede nichts an Bedeutung verloren, im Gegenteil. Die Demokratie mit ihren parlamentarischen Einrichtungen lebt vom Dissens und Konsens, vom Respekt vor dem anderen, von Freiheit, Gleichheit und der Suche nach Gerechtigkeit.
Unsere freiheitliche, parlamentarische Demokratie ist eine kostbare Angelegenheit. Im Alltag wird dies nicht immer gesehen, und wer sich an sie gewöhnt hat oder in sie hineingeboren wurde, unterschätzt leicht, wieviel tagtägliche Sorge, wieviel Anstrengung und dauerhaften Einsatz sie verlangt. Bürgerinnen und Bürgern von 1848/49 war dieses in außerordentlich hohem Maß bewußt. Vielleicht ist dieses das Wichtigste, an das uns ihr Erbe mahnt.Freiheit und Einheit

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1998/bp9801/9801013
Seitenanfang
Druckversion