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Mai 05/1999
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DIE ZUKUNFT DER EUROPÄISCHEN UNION IM LICHTE DER FÜNFTEN EUROPAWAHLEN
VON WERNER WEIDENFELD

Nachdenken über Europa

Unionsgebäude

Vom 10. bis 13. Juni 1999 ist Europawahl – und kaum einer scheint sich dafür zu interessieren. Seitdem das Europäische Parlament 1979 zum ersten Mal direkt von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählt wurde, ist die Wahlbeteiligung kontinuierlich zurückgegangen. Obwohl gerade das Parlament in den vergangenen Jahrzehnten erheblich an Bedeutung und Einfluß gewonnen hat, wird zunehmende Kritik am politischen System der Europäischen Union laut. Dabei wird vor allem das Demokratiedefizit und die Bürgerferne der europäischen Institutionen angeprangert. Überspitzt könnte man sagen: Je mehr Rechte das Parlament mit jeder Reformrunde erhält, desto weniger Rückhalt hat es in der Bevölkerung. Woran liegt das? Zum einen fehlt eine öffentliche Debatte, die den Bürgern die historische Dimension des europäischen Einigungsprozesses vermittelt. Gerade das Europäische Parlament als supranationale Volksvertretung müßte die Chance nutzen, nach dem Verfassungsentwurf von 1984 erneut eine Auseinandersetzung um die konstitutionelle Vollendung der europäischen Integration zu prägen. Diese Debatte ist um so dringender, da erst Anfang dieses Jahres ein Projekt Wirklichkeit wurde, das als notwendiger Baustein einer möglichen Finalität der europäischen Integration angesehen wurde: die Wirtschafts­ und Währungsunion. Sie ist nicht nur zur engeren Einbindung des seit der Wiedervereinigung scheinbar übermächtigen Deutschlands entstanden. Sie ist das Ergebnis einer gezielten Neugestaltung des europäischen Wirtschafts­ und Gesellschaftsmodells durch die Mitgliedstaaten in einer globalisierten Weltwirtschaft. Die Währungsunion wurde in Deutschland von einer sehr kritischen öffentlichen Debatte begleitet. Letztlich wurde der Euro, so wichtig er für unsere Zukunft ist, – glaubt man den Demoskopen – gegen den Willen der Mehrheit der deutschen Bürger eingeführt.

Zum zweiten befindet sich Europa in einem immer schnelleren Wandel. Es ist in zunehmender Weise dabei, seine alte Kohäsion zu verlieren. Das europäische Umfeld ist geprägt durch eine Vielzahl von Unsicherheiten. Der Verlust des klaren Gegenbildes des kommunistischen Ostens wirft die Frage nach dem Grund einer europäischen Einbettung auf. Statt eines Denkens in festen integrationspolitischen Bahnen und der Suche nach Gestaltungsmehrheiten walten heute die Verhinderer, die in zahlreichen, wechselhaften Koalitionen der Stagnation auftreten. Ohne ein zukunftsgerichtetes Orientierungsangebot für ein politisches Europa droht der Nationalismus wieder aufzukeimen und die Früchte der Integration zu zerstören. Europa sieht sich in einer spezifischen Lage, in der die Gleichzeitigkeit mehrerer Gegensätze bestimmend ist: Integration und Desintegration, Beschleunigung der Gemeinschaftsbildung und zunehmende Distanz gegenüber der Dichte der Integration, verstärkte Kodifizierung des internationalen Zusammenlebens und gleichzeitig Rückkehr zum "Balance of Power"­Denken zwischen den Nationen.

Eine Wiederkehr des alten Großmachtdenkens ist aber nicht unausweichlich. Denn wenn es uns gelingt, Europa eine plausible Form und eine erfahrbare Identität zu geben, werden wir die Vorbehalte, die ein demokratisches und zukunftsgerichtetes Zusammenwachsen Europas bedrohen, am ehesten in den Griff bekommen. Allerdings hat auch der am 1. Mai 1999 in Kraft getretene Vertrag von Amsterdam die Asymmetrie zwischen der Währungsunion und der Politischen Union noch nicht beheben können. Statt ein gemeinsames Zielbild zu erarbeiten, wurden Korrekturen an Entscheidungsprozessen und Materien der Zusammenarbeit vorgenommen. Zwar hat das Europäische Parlament eine erneute Kompetenzausweitung erfahren, indem es in zusätzlichen Politikfeldern mitentscheiden darf. In zahlreichen Sachbereichen bleibt es jedoch bei der Anhörung – nach dem demokratischen Verständnis des Grundgesetzes ein ungenügender Zustand. Zudem wurden kaum Fortschritte bei der Verdeutlichung der europaweit gültigen Grundrechte und ­werte erzielt. Es gibt gemeinsame Werte und Freiheitsrechte, die aber bisher verstreut im Vertragsdickicht der Europäischen Union verborgen bleiben. Der eigentliche Auftrag, die Union zugleich effizienter und demokratischer zu gestalten, wurde nicht ausreichend erfüllt.

Wie also kann Europa für die Bürger greifbarer gestaltet werden? Für ein Europa, das über einen Wirtschaftsverbund hinausgehen soll, muß vor allem die Unionsbürgerschaft mit Inhalten gefüllt werden. Die Schaffung einer europäischen Grundrechtecharta ist daher der richtige Weg, um den Bürgern ihre Position im Gesamtsystem zu verdeutlichen. In Verbindung mit einer wirksamen Gewaltenteilung und einer klaren Kompetenzordnung muß ein verständlicher Grundvertrag für die Europäische Union entstehen. Denn die Politik auf europäischer Ebene interveniert immer mehr im Alltagsleben der Bürger, wodurch ein Begründungsdruck neuer Art entsteht. Lösungen "von oben", wie sie zu Beginn der europäischen Integration noch verordnet wurden, sind heute weder möglich noch erwünscht. Der Weg kann nur ein kommunikativer Prozeß sein. Europa muß heute eine Diskussion über wirklichkeitsadäquate Leitbilder führen. Dazu ist eine Verständigung zwischen den Wählern und ihren Repräsentanten nötig. Die Europawahlen müssen daher als Chance verstanden werden, in diese Debatte um die Zukunft Europas einzusteigen und an einer Neugestaltung Europas demokratisch mitzuwirken.

Dr. Dr. h. c. Werner Weidenfeld

Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld wurde am 02. Juli 1947 in Cochem geboren. Nach dem Abitur studierte er von 1966 bis 1971 Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der Universität Bonn. 1971 promovierte Weidenfeld zum Dr. phil. mit einer Dissertation über die Englandpolitik Gustav Stresemanns. Nach seiner Habilitation 1975 im Fach Politikwissenschaft lehrte Weidenfeld von 1975 bis 1995 als Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mainz. Zwischenzeitlich war er als Professeur associé an der Sorbonne in Paris tätig und ist seit 1987 außerdem Koordinator der Bundesregierung für die deutsch­amerikanische Zusammenarbeit. 1994 erhielt er den Ehrendoktor von Middlebury (USA). Seit 1995 ist Professor Weidenfeld Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Europäische Einigung an der Universität München.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9905/9905004
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