Bildwortmarke des Deutschen Bundestages . - Schriftzug und Bundestagsadler
English    | Français   
 |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ  |  Druckversion
 
Startseite > Blickpunkt Bundestag > Blickpunkt Bundestag - Jahresübersicht 2000 > Blickpunkt >
März 02/2000
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

forum

Die frei gewählte Volkskammer:

Zu Unrecht fast vergessen

Freie Wahlen in der DDR – ein Ereignis von historischem Rang. Es besiegelte die politische Wende im Herzen Europas, auf die die Deutschen in Ost und West über 40 Jahre lang gewartet hatten. Die aus der ersten freien Wahl hervorgegangene Volkskammer bestand nur ein gutes halbes Jahr bis zur Vereinigung beider deutscher Staaten am 3. Oktober 1990. Blickpunkt Bundestag hat fünf Abgeordnete der neuen Länder, die damals Mitglied der Volkskammer oder an anderer Stelle politisch aktiv waren, gefragt, welche politischen Leistungen das erste frei gewählte Parlament der DDR vorzuweisen hat. Die zum Teil von persönlichen Erinnerungen geprägten Beiträge der fünf Parlamentarier zeigen, dass die Bedeutung der Volkskammer heute oft unterschätzt wird. Sie sind sich weitgehend einig, dass dieses Parlament eine gewaltige Aufgabe bewältigt hat und einige ihrer Entscheidungen bis in die Gegenwart wirken.

Markus Meckel, SPD

Markus Meckel, SPD

Nicht vom Westen aus wurde Honecker gestürzt

Die meisten Menschen in Deutschland wissen gar nicht mehr, dass es überhaupt eine frei gewählte Volkskammer gegeben hat. Die vielfältigen Ereignisse des Jahres 1989/90 sind nur noch als ein Ereignis in Erinnerung, das dann meist "Wende" genannt wird. Bei genauerem Nachdenken erinnert man sich dann vielleicht noch daran, dass es eine freie Wahl gegeben hat – doch was die Volkskammer dann eigentlich noch getan hat, damit hat sich bis heute noch nicht einmal die Wissenschaft angemessen beschäftigt, schon gar nicht die deutsche Öffentlichkeit. Das verbreitete Bild ist doch, dass Helmut Kohl die deutsche Einheit geschaffen hat, nachdem Hunderttausende in der DDR auf die Straßen gegangen waren ...

Weg der Selbstbestimmungder Ostdeutschen

Ich verstehe dagegen den Prozess der deutschen Einheit als institutionellen Weg der Selbstbestimmung der Ostdeutschen. Nicht vom Westen aus wurde Honecker gestürzt. Die SED­Herrschaft wurde in der DDR hinweggefegt, nachdem Gorbatschow sie nicht halten wollte. Am Runden Tisch wurde der Weg zur freien Wahl geebnet. Die von der frei gewählten Volkskammer eingesetzte Regierung verhandelte die nötigen Verträge – zur Währungsunion, zur deutschen Einheit nach innen (Einigungsvertrag) und außen (2+4­Gespräche), und die von den DDR­Bürgern gewählte Volkskammer beschloss den Beitritt.

Ein demokratischer und selbst bestimmter Prozess par excellence! Wie hätte es eigentlich besser laufen sollen – was die institutionellen Abläufe betrifft. Hier wurden wirklich alle Träume von Selbstbestimmung wahr.

Anders wird man es beurteilen, wenn manche inhaltliche Regelung des Einigungsvertrages in den Blick genommen wird. Es wird wohl noch sehr lange darüber gestritten werden, was alles anders hätte gemacht werden müssen, was man damals wissen konnte und was nicht. Man braucht ja nur einmal die Plenardebatten dieser Zeit nachlesen und wird entdecken, dass manche kritische Frage eben auch damals schon gestellt wurde. In meinen Augen bleibt das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung die zentrale Fehlentscheidung dieses Jahres. Doch soll das hier nicht weiter diskutiert werden. Wichtig ist mir, dass die Ostdeutschen mit mehr Selbstbewußtsein auf diesen Prozess zurückblicken, denn wir sind nicht kolonisiert worden, sondern sind diesen Weg selbst bestimmt, aufrechten Ganges und selbstbewusst gegangen!

Heftiger Streit über den Weg zur Einheit

Nicht erst die Einheit hat uns Ostdeutschen die Freiheit gebracht, sondern die errungene Freiheit und Demokratie eröffnete die deutsche Einheit. Über die Bedingungen des Weges zur Einheit wurde heftig gestritten – nicht nur zwischen Ost und West, sondern zu allererst einmal auch zwischen den gewählten Mitgliedern der Volkskammer in der DDR. Denn dies war ihre erste und vornehmste Aufgabe – in einem demokratischen Prozess den Weg in die deutsche Einheit zu gestalten.

Dabei musste gerade dieser demokratische Prozess erst noch eingeübt und in klare Formen gegossen werden. Die frei gewählte Volkskammer hat in der kurzen Zeit ihres Bestehens ungeheuer viel geleistet. Die Zahl der verabschiedeten Gesetze ist immens. Doch nicht allein dies. Sie war eine wichtige Schule des demokratischen und öffentlichen Diskurses.

Wie kein Parlament in einem anderen ehemals kommunistischen Staat hat sie sich intensiv und reflektiert mit der Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit befasst und die Initiative ergriffen, den Zugang zu den Stasi­Akten zu ermöglichen. Oder das Nationalparkprogramm, das schon der Runde Tisch in Angriff genommen hatte und das – um mit Klaus Töpfer zu sprechen – zum "Tafelsilber der deutschen Einheit" gehört.

An vieles wäre noch zu erinnern. Die Zeit der Volkskammer ist mit Sicherheit eines der spannendsten Kapitel deutscher Parlamentsgeschichte. Die Historiker haben das noch nicht entdeckt, doch die Zeit wird kommen!

Paul Krüger, CDU/CSU

Paul Krüger, CDU/CSU

Herausforderung war schier unendlich groß

Wenn wir aus heutiger Sicht die Leistungen der letzten Volkskammer der DDR beurteilen, sollten wir uns zunächst die damalige Besonderheit der Situation verdeutlichen.

Die innenpolitische Situation der DDR war Anfang 1990 in vieler Hinsicht instabil, viele Menschen verließen täglich die DDR gen Westen, und der politische Handlungsdruck war groß. Nicht zuletzt die Volkskammerwahlen hatten überzeugend dokumentiert, dass ein Großteil der Menschen die Lösung aller Probleme in einer schnellen Vereinigung Deutschlands sah.

Politische Arbeit begannbeim "Punkt Null"

Vor diesem Hintergrund begann die Volkskammer ihre politische Arbeit fast in jeder Hinsicht am "Punkt Null". Die neuen Parlamentarier kamen unmittelbar aus ihrer beruflichen Tätigkeit, kannten sich kaum innerhalb der eigenen Fraktionen und verfügten überwiegend nicht über politische Erfahrung. Die personellen und räumlichen Arbeitsbedingungen waren schlecht, und viel Zeit und Kraft mussten allein in die Herstellung der eigenen Arbeitsfähigkeit investiert werden.

Dagegen waren die politischen Probleme und Herausforderungen schier unendlich groß. Vor dem großen Ziel, – die Erreichung der Deutschen Einheit -, galt es zunächst die innenpolitische Situation zu stabilisieren und alle notwendigen Schritte zur komplexen Umstrukturierung, zur Sanierung und zur Vergangenheitsbewältigung einzuleiten. Die Umstrukturierung umfasste unter anderem das gesamte Rechtssystem, die Wirtschaft, die Sozialsysteme und die Verteidigungs­ und Außenpolitik. Die Sanierung hatte sich vor allem auf die desolate Infrastruktur, den Wohnungsbestand und die Umweltaltlasten konzentriert. Daneben stand als Sonderproblem die Bewältigung der DDR­Vergangenheit und insbesondere der Probleme aus dem Wirken der Staatssicherheit auf der Tagesordnung. Themen wie die Arbeitsweise der Treuhandanstalt, die Privatisierung der Energiewirtschaft, der rechtliche Umgang mit enteigneten Grundstücken, der Weiterbeschäftigung der damaligen Mitarbeiter des Staatsapparates und die Umwandlung bzw. der Neuaufbau administrativer Strukturen auf der Ebene der Länder und Kommunen standen im Mittelpunkt kontroverser Diskussionen. Mit der Entscheidung für eine Wirtschafts­ und Währungsunion wurde ein wichtiger Schritt zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation und besonders zur Vertrauensbildung in der Bevölkerung getan.

Der wichtigste Teil der Arbeit richtete sich jedoch auf die Mitgestaltung des Einigungsvertrages. Mit ihm wurde – nach langen strittigen Diskussionen um das Ob und Wann und Wie der Vereinigung – eine Lösung gefunden, die erstens einen Beitritt nach Artikel 23 GG in geordneten Bahnen und zweitens die angestrebte Angleichung der Lebensverhältnisse und die dazu notwendigen enormen Veränderungen für alle Beteiligten, besonders für die Menschen in der DDR, in einem erträglichen Prozess ermöglichte.

Selbst wenn heute einzelne Festlegungen des Einigungsvertrages immer wieder kritisch hinterfragt oder kritisiert werden, kann seine Bedeutung im Prozess der Wiedervereinigung kaum überschätzt werden.

Wichtiges Symbol für den Aufbau der Demokratie

Die frei gewählte Volkskammer war also nicht nur ein wichtiges Symbol für den Aufbau demokratischer Strukturen, sondern das Kernelement der praktischen Umgestaltung in der DDR. Ihre Leistung bestand nicht nur in der innenpolitischen Stabilisierung und Neugestaltung föderaler Strukturen, sondern in der erfolgreichen aktiven Mitgestaltung des Einigungsprozesses, in dessen Ergebnis aus einem Volk wieder ein Staat wurde. Dass dies mit Menschen ohne politische Erfahrung in kurzer Frist möglich war, wertet diese Leistung besonders auf und stimmt mich in mancher Hinsicht nachdenklich.

Werner Schulz, B'90/Die Grünen

Werner Schulz, B'90/Die Grünen

Kein Kleben an Machtund Mandat

Die frei gewählte Volkskammer ist und bleibt ein herausragendes Ereignis in der noch nicht allzu langen deutschen Parlamentsgeschichte. Schon der erzwungene Wahltermin erinnert an den Anfang und die Wiederentdeckung der Demokratie. Schließlich markiert der 18. März den Beginn der bürgerlich­demokratischen Revolution von 1848/49 und den Abschluss der friedlichen Revolution von 1989/90.

Der Wahltermin 18. März war kein Zufall

Dass beides auf einen Tag fällt, ist kein Zufall. Ende Januar 1990 waren die Teilnehmer des Runden Tisches zusammengekommen, um einen Termin für die erste freie Volkskammerwahl zu finden. Der ursprünglich vereinbarte 6. Mai, der sich bewusst an die ein Jahr zuvor gefälschte Kommunalwahl anlehnte, war nicht mehr zu halten. Sowohl SPD als auch SED/PDS hatten ein Interesse an vorgezogenen Wahlen. Die einen, weil sie sich auf dem Höhepunkt des Erfolges wähnten, die anderen aus Angst vor weiterem Mitgliederschwund und Sympathieverlust.

Freie Wahlen waren die Hauptforderung der Demonstrationen im gesamten Land. Sie sollten an keinem x­beliebigen, sondern an einem hervorgehobenen Tag stattfinden. Aus den Reihen der Bürgerbewegung kam der Vorschlag: 18. März. Mit der Begründung, dass an diesem Tag die Entscheidung über "Einigkeit und Recht und Freiheit" fällt. Deswegen liegt in der Art und im historischen Kontext, wie diese Wahl zustande kam, bereits die erste große politische Leistung. Was dann folgte, war ein eindrucksvoller Beweis: 93,4 % Wahlbeteiligung. Ein Sensationsergebnis, das zeigt, wie hoch das Interesse liegt, wenn Politik lebensnah und spannend ist und zudem die Überzeugung besteht, Einfluss auf den Lauf der Dinge zu haben.

Ohne Sperrklausel oder Prozenthürde nahmen 23 Parteien und Organisationen am Wahlkampf teil. Er führte nicht zum befürchteten Chaos oder der "Weimarer Zersplitterung". Erstmalig waren Bürgerbewegungen im Parlament. Von gefestigten Parteien konnte keine Rede sein. Alles war in Bewegung.

Abgeordnete versuchten fairen Meinungsstreit

Diese Frische, dieses Neue und Spontane setzte sich in der Volkskammer fort. Es herrschte lebendige Demokratie. Die zu Unrecht als Laienspieler verunglimpften Abgeordneten versuchten ungeschminkt und ohne theatralische Gestik den offenen und fairen Meinungsstreit. Es galt tatsächlich das gesprochene Wort. Die Kraft der Argumente. Keine Debatte war im Verlauf vorprogrammiert. Niemand gefiel sich im eisernen Korsett der Fraktionsdisziplin. Vieles wurde live übertragen und fesselte die Leute an die Fernsehgeräte. Einschaltquoten, von denen die Politik unserer Tage nur träumen kann und selbst mit Skandalen nicht erreicht.

Zu kurz war der Versuch, eigenständige Politik zu betreiben, zu groß der Druck, alles den Profis aus dem Westen zu überlassen. Trotzdem blieb manches von Bestand: das Kommunalvermögensgesetz, die Einbürgerung sowjetischer Juden.

Groß war auch die Fehlerquote. In Bausch und Bogen wurden 40 Jahre Gesetzgebung der alten Bundesrepublik durchgepeitscht. Obwohl schon damals der Reformbedarf erkennbar war und das zum Paragraphendschungel angewachsene Regelwerk den Aufbau Ost eher drosseln würde.

Durch Selbstauflösung ohne Eigennutz hat sich die Volkskammer in die Geschichte eingeschrieben. Auf vier Jahre gewählt, ermöglichte sie nach einem Achtel ihrer Legislaturperiode, ohne Frage nach Abfindung, Ausgleichs­ oder Übergangsgeld, den Weg zur deutschen Einheit. Kein Kleben an Macht und Mandat, wie im hessischen Pattex­Landtag. 144 von 400 gingen ins Bonner Wasserwerk. Vielleicht eine frühe Hinweisquote darauf, wie viele in der neuen Gesellschaft zunächst wirklich ankamen.

Cornelia Pieper, F.D.P.

Cornelia Pieper, F.D.P.

Endlich wirkliche Kammer des Volkes

Zehn Jahre Deutsche Einheit sind gleichzeitig mit anderen herausragenden Ereignissen verbunden, den ersten freien demokratischen Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990. Es war die "Stunde der Demokratie" im wahrsten Sinne des Wortes. Nie zuvor hatte ein Volk eine politische Wende mit einer friedlichen Revolution herbeigeführt. Nie zuvor hatten DDR­Bürgerinnen und Bürger so viel Mut und Zivilcourage bewiesen und sind für Freiheit und Menschenrechte gegen eine Diktatur auf die Straße gegangen.

Unsere französischen Nachbarn, die der Deutschen Einheit anfangs ziemlich skeptisch gegenüberstanden, haben übrigens in einer Umfrage erklärt, dass sie zu den bedeutendsten Ereignissen des vergangenen Jahrhunderts nach dem Flug des Menschen zum Mond die friedliche Revolution mit dem Fall der Mauer in Deutschland zählen.

Dieses Beispiel macht deutlich, welchen Stellenwert dieses historische Datum allein bei unseren europäischen Nachbarn hat. Zugleich ist es das Ereignis, welches angesichts der zwei Kriege, die in diesem Jahrhundert von Deutschland ausgegangen sind, international unser Ansehen im Streben um mehr Demokratie und Menschenrechte aufwertet.

Erster parlamentarischer Höhepunkt nach der Wende

Fakt ist, dass die erste freie demokratische Wahl zur Volkskammer der erste parlamentarische Höhepunkt nach den umwälzenden politischen Ereignissen war. Endlich ist der Name des Parlaments, Kammer des Volkes zu sein, nach jahrzehntelangem Missbrauch seinem eigentlichen Anspruch gerecht geworden. Die Wahlbeteiligung war beeindruckend und gleichzeitig die Stunde eines sich emanzipierenden Volkes.

Ohne Zweifel hat die erste frei gewählte Volkskammer den Grundstein für einen freiheitlichen Rechtsstaat gelegt. Ohne das Ringen und die politische Debatte der Demokraten hätte das Fundament für den historischen Einigungsvertrag und damit die staatsrechtliche Vollendung der Deutschen Einheit nicht gelegt werden können. Es war zu Anfang deshalb auch nicht erstaunlich, dass sich eine Koalition aus CDU, SPD und F.D.P. bildete. Denn der politische Dialog zur Schaffung der gemeinsamen Grundlagen stand im Mittelpunkt der Parlamentsarbeit, weniger die ideologische Auseinandersetzung. Ein politisches "Hauen und Stechen" war damals nicht auf der Tagesordnung. Programmatische Entscheidungen und Konsenslösungen à la Runder Tisch standen im Vordergrund. Es war dadurch auch eine Zeit, in der viele Neuanfänge gewagt wurden, über die Parteigrenzen hinweg.

Spuren des Wirkens sind immer noch zu sehen

Eines der bedeutendsten Verdienste der ersten freien Volkskammer war, den Weg für den Einigungsvertrag geebnet zu haben. Die Volkskammer beeinflusste maßgeblich die Wirtschafts­ und Währungsunion, die schon am 1. Juli 1990 die wirtschaftliche Einheit herstellte. Durch sie wurde aber auch gewährleistet, dass bestimmte gesellschaftliche Regelungen, die in der DDR von der breiten Masse als gerecht anerkannt worden waren, auch in die Regelungen der Bundesrepublik Aufnahme fanden. Besonderes Anliegen war es für die liberale Fraktion unter anderem, die Fristenlösung im Schwangerschaftsrecht als gesamtdeutsche Regelung über den Einigungsvertrag zu verwirklichen. In der Frauenpolitik insgesamt hat die Bundesrepublik durch die Entscheidung der Volkskammer einen gewaltigen Schub erfahren. Ebenso wurden in der Umweltpolitik fortschrittliche Gesetze auf den Weg gebracht, bis hin zu der Einführung der ostdeutschen Naturschutzgebiete und Nationalparks. Auch die Reprivatisierung der zuletzt 1972 enteigneten Privatfirmen wurde als eine der ersten politischen Entscheidungen in Angriff genommen. Selbst wenn die freie Volkskammer ein Parlament mit nur kurzer Lebensdauer war, so sind auch heute die Spuren ihres Wirkens immer noch zu sehen.

Roland Claus, PDS

Roland Claus, PDS

Opposition hatten wir vorher nicht geübt

Erinnere ich mich der Tage in der Volkskammer des Jahres 1990, dann ist der überwältigendste Eindruck immer wieder der, mit welch atemberaubendem Tempo politische Entscheidungen getroffen und gesellschaftliche Veränderungen vollzogen wurden. Morgens um 10 Uhr in der Volkskammer ahnten wir häufig noch nicht, was wir in der darauffolgenden Nacht beschließen würden. Alle Abgeordneten waren sich mehr oder weniger darüber im Klaren, dass dieses Parlament seinen eigenen historischen Abgang vollzieht. Und trotzdem stand bei den allermeisten Kolleginnen und Kollegen die Verantwortung für die untergehende DDR im Vordergrund – auch wenn es ganz konträre Sichten auf diese Verantwortung gegenüber den Menschen aus der DDR gab. Es waren politische Ansichten, ja Weltsichten und Gefühlswelten, die da aufeinander trafen, und doch war selbst im Zorn und Streit etwas Verbindendes. Wir hatten schließlich ein ganzes Land in neue gesellschaftliche Verhältnisse zu überführen.

Wir haben viel erreicht für die DDR­Bürger

Wir haben als PDS­Fraktion in dieser Volkskammer viel grundsätzliche Kritik an den Mehrheitsentscheidungen der Volkskammer geübt. Dennoch würde ich keiner der anderen Fraktionen unterstellen, den Ausverkauf der DDR vorsätzlich und gewissenlos betrieben zu haben. Zwar wurde vor dem Hintergrund der öffentlich geschürten D­Mark­Manie jede Kritik von PDS und Bündnis 90 an den damals abzusehenden Folgen des Vereinigungsprozesses verächtlich gemacht. Aber die Opposition in der Volkskammer, zu der wir gehörten, hat trotzdem vieles erreicht, was zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger der DDR war. Als sehr deprimierend empfinde ich bis heute die Herabwürdigung des SPD­Finanzministers Walter Romberg durch den CDU­Überminister Günter Krause und das hilflose Wegsehen von Lothar de Maizière in dieser Volkskammersitzung.

Nimmt man heute die Reden zur Hand, die von Mitgliedern unserer Fraktion damals gehalten wurden, so ist unübersehbar, dass vieles von dem, was wir als Fehlentwicklung vorausgesagt haben, dann so oder noch schlimmer gekommen ist: die grassierende Arbeitslosigkeit, die bedrohliche soziale Schieflage, die Gefährdung der Demokratie. Freude über diese Art der Bestätigung unserer Warnungen empfinden wir nicht. Aber wir haben mit unserer Politik in der Volkskammer die für den weiteren Entwicklungsweg unserer Partei unverzichtbare Erfahrung gewonnen, dass es richtig war, sich nicht dem Mainstream angeschlossen, sondern Widerstand geleistet und Alternativen angeboten zu haben. Das war damals schwerer auszuhalten als heute, und Opposition hatten wir vorher nie geübt.

PDS will ihren Platz in der gesamten Republik

Nun sind wir bereits zehn Jahre lang in der gesellschaftlichen und parlamentarischen Opposition. Das ist für die PDS keine Quarantäne­Phase, nach der man gesundet und erstarkt ausruft "Da sind wir wieder!". Die PDS hat sich bekanntlich unter dem Einfluss rasanter gesellschaftlicher Umbruchprozesse selbst geändert. Sie ist heute dabei, ihren Platz in der ganzen Republik einzunehmen und der Öffentlichkeit ihre Politik ganzheitlich vorzustellen. Es ist nicht schlimm, dass die Gesellschaft merkt, wie schwer uns das fällt.

Politische Verantwortung zehn Jahre nach der Volkskammerwahl von 1990, das ist ganz normal und ganz demokratisch und ganz sozialistisch: Opposition zu den herrschenden Verhältnissen, Teilhabe an Landesregierungen im Osten, kommunale Mitbestimmung und außerparlamentarische Aktion.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0002/0002012
Seitenanfang
Druckversion