Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 19 / 03.05.2004
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Josef-Thomas Göller

Mullah-Diktatur oder Demokratie

Vor den ersten freien Wahlen im Irak

Über 100 tote Soldaten, darunter der deutschstämmige Football-Star Pat Tillman, sowie 879 Verletzte sind die Bilanz der amerikanischen Besatzung im Irak innerhalb der ersten 20 Tage des Monats April. Ein Albtraum für das amerikanische Militär wie für die Nation zu Hause. Gleichzeitig müssen die GIs vor Ort zusehen, wie 1.500 spanische Soldaten einpacken. Auch die Japaner haben das Land verlassen. Die von US-Außenminister Colin Powell und seinem Präsidenten gepriesene "Allianz" bröckelt angesichts des sich steigernden Hasses und des Widerstandes des männlichen arabischen Bevölkerungsteils im Irak.

Kein Wunder, dass Präsident Bush unter Druck gerät. Schließlich sind es nur noch sechs Monate bis zur Präsidentenwahl. Bush weiß, dass er den Wählern irgendeinen Erfolg im Irak nachweisen muss. Die Gefangennahme des Diktators Saddam Hussein reicht nicht mehr, seitdem täglich amerikanische Soldaten im Kampf gegen den hartnäckigen Widerstand irakischer Aufständischer fallen, internationale Aubauhelfer entführt und bestialisch ermordet werden; nicht, seitdem es mehr und mehr Menschen in den USA dämmert, dass bestimmte Bevölkerungsteile des Irak gar keine Demokratie wollen. Die Frage nach dem Sinn einer Fortsetzung des amerikanischen Militär-Engagements steht riesengroß im Raum. Darstellbarer Erfolg für Bush kann nur noch seitens der Iraker kommen. Trotz der außer Kontrolle amerikanischer Besatzer geratenen Stadt Nadschaf, in der der radikale Schiiten-Führer Mullah Moqtada al-Sadr und seine Miliz mit brutaler Hand regieren, sowie der täglichen Anschläge der Sunniten um Bagdad hält George W. Bush eisern an der vor Monaten beschlossenen Machtübergabe am 30. Juni und den Wahlen im Februar 2005 fest. Nach diesem Tag sollen die Iraker ihr Land selbst regieren. Und nach einer Stabilisierungsphase von einigen Monaten möchte Bush seine Boys nach Hause holen, einen Großteil der derzeit 130.000 Soldaten schon vor dem amerikanischen Wahltermin am 2. November. "Mission accomplished" - Auftrag ausgeführt, möchte der Präsident seiner Nation verkünden.

Betrachtet man die täglichen kriegerischen Auseinandersetzungen der schiitischen Milizen sowie der sunnitschen Ba'ath-Partei-Getreuen und Alt-Saddamisten gegen die amerikanische Besatzung, scheint eine freie Wahl, die Bildung einer demokratischen Regierung illusorisch. Doch im Land zwischen Euphrat und Tigris agieren und positionieren sich noch andere politische Kräfte. Ihre Chancen, den Irak nach dem 30. Juni in ruhigere Fahrwasser zu steuern, sind besser, als die täglichen Fernsehbilder über die Greueltaten der Aufständischen glauben machen. Es bedarf tatsächlich eines Blicks hinter die Kulisse aus Rauchwolken und telegenen siegestrunkenen "arabischen Massen" vor einem zerstörten Humvee-Jeep, um jene anderen, kaum wahrgenommenen politischen Kräfte im Irak auszumachen. Doch sie gibt es genauso, wie die Aufständischen gegen Amerika - und ihr Einfluss ist vermutlich sogar viel größer.

Die bisherige Übergangsverfassung des Irak sieht folgende Regierungsform vor: Staatsoberhaupt wird ein eher symbolischer Präsident, der jedoch weitreichendere Befugnisse hat als der deutsche. Seine Macht wird von zwei Vize-Präsidenten eingeschränkt, die den Entscheidungen des Präsidenten zustimmen müssen oder diese ablehnen können. Staatschef wird ein Ministerpräsident. Verteidigungs- und Außenminister sind dem Ministerpräsidenten unterstellt.

Schon vor der Invasion machte sich der Exil-Iraker Ahmad Chalabi einen Namen als möglicher Ministerpräsident eines freien Irak. Vor allem in den USA verstand es Chalabi überzeugende Lobby-Arbeit für sein Ansinnen zu leisten. Skeptisch gegen ihn blieb stets und bleibt standhaft allein das amerikanische Außenministerium, das Chalabi als "windigem Geschäftsmann" mit wenig Sinn für Demokratie misstraut. Chalabi hat Ende der 80er-Jahre die von ihm gegründete Bank "Petra" in Jordanien in den Bankrott getrieben und wurde dort wegen Bankbetrugs in Abwesenheit zu 22 Jahren schwerer Zwangsarbeit verurteilt.

Zuerst vom demokratischen Präsidenten Bill Clinton favorisiert, erfährt der ehemalige Exil-Iraker heute die größte Unterstützung von dem Trio der Erz-Konservativen: Vizepräsident Dick Cheney, dessen Zögling, der Stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz sowie dem Vordenker der Neo-Konservativen, Richard Perle. Der Militärische Geheimdienst des Pentagon zahlt Chalabi nach wie vor jährlich 340.000 Dollar, obwohl inzwischen offenkundig ist, dass aus seinem Kreis jenes Märchen aus Tausend-und-Einer-Nacht von den irakischen Massenvernichtungswaffen und der Verbindung Saddams zu Osama Bin Laden stammt, das Präsident Bush den Kriegsgrund lieferte.

Doch der durchtriebene Chalabi, nach 45 Jahren Exil in den USA, Jordanien, Syrien und England in seine Heimat zurückgekehrt, hat sich binnen eines Jahres als aufsteigende Machtperson in Bagdad etabliert. Als Führer der einstigen Exil-Partei "Irakischer Nationaler Kongress" - seit 1994 von den USA mit 40 Millionen Dollar finanziert - riss er nicht nur den Vorsitz über die Kommission der Ent-Ba'athifizierung an sich - vergleichbar der Entnazifizierung in Deutschland nach 1945, sondern machte sich erfolgreich ehemalige Saddam-Getreue gefügig. Wie der Journalist Arnaud de Borchgrave von "United Press International" kürzlich veröffentlichte, hat sich Chalabi in den Besitz von mehreren Dutzend Tonnen Dokumente und persönlichen Führungsakten des ehemaligen Geheimdienstes Saddams gebracht - vergleichbar den Stasi-Akten - und verfügt damit über einen Schatz an Informationen, die er hemmungslos gegen jene einsetzt, die sich ihm entgegenstellen.

Der in den USA zum Mathematiker ausgebildete Aufsteiger lässt außerdem durchsickern, dass er eine Zusammenarbeit zwischen dem jordanischen König Abdullah und dem 2003 getöteten Sohn Saddams, Udai, beweisen könne. Außerdem will er über Namen von Amerikanern und Journalisten des Nahen Ostens verfügen, die von Saddam bestochen worden seien.

Da stets unsicher blieb, ob Chalabi in Washington wirklich hoch im Kurs steht, kultivierte er schon seit Jahren enge Kontakte sowohl zu Israel als auch zum iranischen Mullah-Regime. Wie weit seine Annäherung an die schiitischen Fanatiker geht, zeigt, dass er von ihnen die Erlaubnis erhielt, in Teheran ein Verbindungsbüro einzurichten. Jetzt schlägt Chalabi Kapital aus diesen früheren Kontakten. Er holt iranische "Geschäftsleute" in den Irak und betont, dass er selbst der schiitischen Glaubensrichtung angehöre. Die Taxis in der Hauptstadt sind auffällig häufig von iranischen Fahrgästen belegt, so dass sich für Sunniten in Bagdad die Frage aufdrängt, welche wahren Absichten der Iraner sich hinter ihrer Geschäftigkeit verbergen.

Das Ausmaß des iranischen Einflusses auf das künftige politische Geschick des Landes bleibt tatsächlich noch abzuwarten. Es ist unklar, ob Teheran den radikalen irakischen Schiitenführer Moqtada al-Sadr, der den Aufstand gegen die USA probt, favorisiert, oder gemäßigtere Schiitenführer, wobei selbst diese aus westlicher Sicht als "radikal" einzustufen sind, denn eine lautstarke Mehrheit der irakischen Schiiten sieht im Religionsstaat Iran ihr Vorbild.

Die schiitischen Wähler könnten im Grunde genommen allein die Zukunft des Landes bestimmen, da sie mit 60 Prozent Bevölkerungsanteil die Mehrheit der Iraker stellen. Dies wäre der endgültige Todesstoß für die Politik Bushs: Man stelle sich vor, im Irak würde im Februar 2005 zum ersten und letzten Mal frei gewählt werden. Danach würde eine schiitische Mullah-Junta die Macht übernehmen.

Dies erscheint jedoch nicht als wahrscheinlich, auch wenn die Berichte aus Falludscha und Nadschaf einen anderen Eindruck erwecken. Denn drei weitere Faktoren spielen bei der Wahl eine Rolle: die Kurden, die vorläufige Verfassung und die Frauen.

Die Kurden im Norden führen seit Ende des Irak-Krieges von 1991 ein Eigenleben. Damals haben die USA eine so genannte "grüne Linie" durch den Irak gezogen. Nördlich davon konnten die Kurden autonom leben und handeln. Sie hielten einmal eine Wahl ab - 1992. Seither regieren sie sich de facto selbst, mit rivalisierenden Fraktionen. Im Autonomiegebiet "Kurdistan" herrscht relativer Wohlstand. Die "Ministerien" handeln: Es gibt regelmäßigen Schulunterricht, Gesundheitsversorgung, Polizei, Wasser, Strom, und sogar die Müllabfuhr funktioniert; alles, was derzeit im übrigen Irak undenkbar erscheint. Die Kurden heuern sogar aus anderen Landesteilen und dem Iran Arbeiter an und zeigen damit der Region, wie eine irakische Demokratie funktionieren könnte. Viele in "Kurdistan" arbeitende arabische Iraker möchten nicht mehr zurück. Die USA versprechen sich vom Exempel "Kurdistan" eine Ausstrahlung auf den übrigen Irak. Im Fall einer Machtübernahme schiitischer Mullahs in Bagdad, würden die Kurden indes umgehend einen unabhängigen Staat ausrufen. Doch dies soll in jedem Fall die Übergangsverfassung verhindern, die für den Emporkömmling Chalabi geradezu maßgeschneidert ist. Als Vorsitzender des Wirschafts- und Finanzkomitees des provisorischen Regierungsrates hat er bereits loyale Anhänger in Schlüsselpositionen manövriert. Entscheidend für die endgültige Wahl des Ministerpräsidenten bleibt zwar, was die Übergangsverfassung vorschreibt, aber auch da hat Chalabi wiederum gute Chancen: als Kompromisskandidat. Zwar bietet sich als solcher auch der im Londoner Exil aufgewachsene Scharif (König) Ali bin al-Hussein an. Der wirkt auf die breite Bevölkerung aber zu britisch. Grundsätzlich bedarf die Amtsernennung des Ministerpräsidenten laut Übergangsverfassung der Einstimmigkeit von Präsident und seinen beiden Vizes, die gemeinsam die drei ethnischen und religiösen Hauptgruppen des Irak repräsentieren sollen. Derzeit gilt als aussichtsreichster Kandidat für das Präsidentenamt der schiitische Mehrheitsführer des provisorischen Übergangsrates, Abdulaziz Hakim. Er ist der Bruder von Mullah Mohammed Baqir al-Hakim, der vergangenes Jahr zusammen mit 90 Anhängern in Nadschaf durch eine Autobombe ums Leben kam. Es gilt als wahrscheinlich, dass Hakim für seinen Mitgläubigen Chalabi stimmen wird.

Für eine der beiden Positionen der Vize-Präsidenten hat sich Adnan Pachani positioniert. Vor der Machtergreifung Saddams 1968 war Pachani Außenminister und UN-Botschafter seines Landes. Er ist ein Liberaler im westlichen Sinne, der für einen säkularen Irak eintritt. Deshalb gilt seine Stimme für Chalabi ebenfalls als sicher. Die zweite Vize-Stelle wird wohl ein Kurde einnehmen. Die rivalisierenden Kurden-Fraktionen haben sich für diesen Fall auf Jalal Talibani geeinigt. Bei einer Wahl zwischen einem Mullah und Chalabi gilt ebenfalls als sicher, dass der Kurde für Chalabi stimmt.

Bleiben als dritter positiver Faktor für eine demokratische Regierung die irakischen Frauen, die mit 60 Prozent an der Bevölkerung die Männer übertrumpfen. Ihre Rolle wird im Westen kontinuierlich unterschätzt, da sich die irakischen Männer - wie in allen arabischen Staaten - dominant in den Vordergrund spielen. Aber auch die Frauen werden wählen, mit wachsendem Anteil - je nach Abhängigkeit von einem Mann - sicherlich nicht für einen islamistischen Staat à la Iran, in dem es zwei Frauen vor Gericht bedarf, um soviel Gewicht zu haben wie die Stimme eines Mannes, oder wo Pädophilie legalisiert ist, indem zehnjährige Mädchen mit erwachsenen Männern verheiratet werden dürfen.

Mitarbeiter der UNO haben darauf aufmerksam gemacht, dass sich zunehmend irakische Frauen melden, die darauf hinweisen, islamische Extremisten verlangten von ihnen, einen Schleier zu tragen. "Andernfalls werden wir geschlagen oder vergewaltigt." Die Vergewaltigungsrate im Irak sei "alarmierend angestiegen", warnt die UN-Vertretung in Bagdad. Viele irakische Frauen sind besser gebildet als die Männer und deshalb freiheitlichen Bestrebungen aufgeschlossen.

Die irakische Frauenrechtsbewegung weist darauf hin, dass Frauen kaum mehr, wie unter Saddams säkularem Regime, selbst Auto fahren oder nachts unbehelligt durch die Stadt gehen können, schon gar nicht unverschleiert oder ohne männliche Begleitung.

Die Vorsitzende der "Organisation Frauenfreiheit im Irak", Yanar Mohammed, erhielt im Januar 2004 zwei Todesdrohungen der vom Iran und Saudi Arabien geförderten islamistischen Miliz "Jaish Al-Sahaba - Armee von Sahaba". Yanar Mohammed hatte sich mehrfach öffentlich gegen das grausame islamische Rechtssystem "Scharia" ausgesprochen und die volle Gleichstellung von Mann und Frau gefordert. Gemeinsam mit zwölf weiteren irakischen Menschenrechts- und Frauengruppen heizte sie vergangenen Dezember auch dem amerikanischen Statthalter im Irak, Paul Bremer, ein. Sie warfen ihm vor, dass keine Frau in den Institutionen der provisorischen Übergangsregierung vertreten sei. In der Übergangsregierung selbst sind von den 25 Ratsstellen nur drei durch Frauen besetzt, obwohl die Frauen die Mehrheit an der Bevölkerung stellen. Als diskriminierend wurde von ihnen angeprangert, dass im Gremium für die Ausarbeitung eines Grundgesetzes keine Frau Mitspracherecht erhielt.

Weiter beklagten die Frauenrechtlerinnen, dass im Hotspot Nadschaf eine aus Bagdad ernannte Richterin von den örtlichen Autoritäten abgelehnt wurde und die Amerikaner dies hingenommen haben. Der "Prokonsul" Bremer versuchte aufgrund der Klagen der Frauen einige Nachbesserungen scheiterte aber an der Ablehnung der Schiiten der Übergangsregierung.

Dabei passen die Forderungen der irakische Frauenbewegung voll in die Pläne des amerikanischen Präsidenten für den "gesamten Nahen Osten". Bush will diese Initiative seiner Regierung auf dem nächsten G-8-Gipfel der Industrieländer Anfang Juni, also noch vor der Machtübergabe, vorstellen. Sie enthält im Wesentlichen Pläne, wie Demokratie im Nahen Osten gefördert und den Frauen auf sämtlichen Ebenen der arabischen Gesellschaften zu mehr Rechten verholfen werden kann. Diese im Vorfeld bekannt gewordenen Kernpunkte der Agenda Bushs wurden erwartungsgemäß von einer Reihe arabischer Staaten, allen voran Saudi Arabien, heftig kritisiert.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.