Als die Teilnehmer der Konferenz der Parlamentspräsidenten der EU-Länder vom 2. und 3. Juli in Den Haag am Abend des ersten Beratungstages in das Nordseebad Scheveningen fuhren, freuten sie sich auf ein Open-Air-Konzert mit klassischer Musik. Gewitter und Sturm sorgten jedoch für eine Absage der Veranstaltung unter freiem Himmel. Die Mitglieder des Den Haager Sinfonieorchesters stellten ihre Stühle im großen Saal des Kurhauses auf, spielten Rossini und Dvorak und retteten den Abend. Eine Metapher für Kreativität und Mobilität, weil auch die nationalen Parlamente wissen müssen, wo künftig die Musik spielt.
Im Mittelpunkt der Beratungen der Konferenz im Rittersaal des niederländischen Parlaments in Den Haag stand die Frage, wie die Kompetenzen zwischen nationalen und der europäischen Ebene abgegrenzt werden können und welche Rolle den Länderparlamenten in der erweiterten EU zukommen. Dabei standen Fragen der Subsidiaritätskontrolle, des Sprachenregimes der künftigen Parlamentspräsidentenkonferenzen, die Entwicklung der Zusammenarbeit der EU-Parlamente und die politischen Alternativen der Parlamente nach der Erweiterung vom 1. Mai 2004 unter globalen Aspekten im Zentrum der Diskussion.
Zur Eröffnung der zweitägigen Konferenz unterstrich der Premierminister des Gastgeberlandes, Jan Peter Balkenende, zugleich amtierender EU-Ratspräsident, den gemeinsamen Willen, die Rolle der europäischen Staaten zu stärken. Dabei müssten Ergebnisse erzielt werden, die der Bevölkerung dienen. Die neue Verfassung der Europäischen Union mache diese Arbeit leichter. Sie schaffe die Grundlage für eine Union der Zukunft, die reibungslos funktionieren müsse.
Die Konferenz, an der auch die entsprechenden Repräsentanten der Beitrittskandidaten Bulgarien und Rumänien sowie der Türkei teilnahmen, schloss an die Athener Konferenz vom 23. und 24. Mai 2003 an, die unter dem Motto "Europa entwickelt sich" stand.
Zu inhaltlichen Aspekten der Subsidiaritätskontrolle durch die nationalen Parlamente sprachen als Berichterstatter Alan Haselhurst, Erster Stellvertretender Präsident des britischen Unterhauses, und der Präsident der slowakischen Nationalversammlung, Borut Pahor. Alan Haselhurst hob hervor, dass die Beteiligung am Frühwarnsystem auf freiwilliger Grundlage geschehe. Die für die Stellungnahmen nationaler Parlamente zu Beschlüssen von EU-Instanzen gegebene 6-Wochen-Frist sei außerordentlich kurz und könne deshalb zu unerwarteten Ergebnissen führen. Es sei ein Problem für die Parlamentarier, diese Dinge rechtzeitig zu koordinieren. Das elektronische Informationssystem IPEX sei zwar geeignet, den Informationsaustausch zu beschleunigen, aber "Computerschirme können nicht nachdenken, wir müssen im Gespräch bleiben". Der slowakische Parlamentspräsident warnte davor, die technologischen Fragen überzubewerten. "Die politische Praxis ist kein technischer Prozess." Die Integration dürfe nicht überstürzt werden, es gehe um eine behutsame Übertragung nationaler Aufgaben auf supranationale Organisationen.
Der italienische Parlamentspräsident Pietro Casini unterstrich, dass die nationalen Parlamente für alle europäischen Entscheidungen der jeweiligen Regierungen zuständig sind. "Diese Volksvertretungen sind keine Linienrichter der europäischen Institutionen." Wie sein zypriotischer Kollege Dimitris Christofias wies er darauf hin, dass in den einzelnen Staaten genügend Zeit sein müsse, die Vorschläge der Europäischen Kommission zu überdenken.
Vorfeldbeobachtung betreiben
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass die nationalen Parlamente Büros in Brüssel haben, um Vorfeldbeobachtung zu betreiben. Es gehe darum, Parlamentsstrukturen zu verändern, um die EU-Rechtssetzung angemessen begleiten zu können. Er stellte die Frage, ob es nicht in den nationalen Parlamenten parallele Strukturen geben müsse, um Entscheidungen der Europäischen Union kompetent zu begleiten. "Entscheidungen sind mehr als der Austausch von Informationen." Bundesratspräsident Dieter Althaus betonte, dass Europa mit dem Verfassungsvertrag endlich eine wirklich demokratische Legitimationsbasis erhalten habe. Der im Verfassungstext enthaltene "Frühwarnmechanismus" verlange als wichtigstes Instrument der Subsidiaritätskontrolle den nationalen Parlamenten eine "immense Anpassungsleistung" ab. Deren Abgeordnete in den Fachausschüssen müssten sich ausgiebiger mit der Tragweite europäischer Gesetzgebung befassen. Alles stehe jedoch unter hohem Zeitdruck.
Eine kontroverse Diskussion gab es zum Problem des Sprachenregimes künftiger derartiger Konferenzen. In Den Haag wurde simultan in 22 Sprachen übersetzt. Damit scheint eine Leistungsgrenze erreicht worden zu sein. Für den Gastgeber schlug Frans Weisglas, Präsident der Zweiten Kammer des niederländischen Parlaments, vor, die Zahl künftiger Konferenzsprachen zu reduzieren. Wolfgang Thierse bekannte sich zur Verteidigung der europäischen Vielsprachigkeit, regte aber gleichzeitig an, das Europarat-Modell mit den Sprachen Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch und Russisch zu übernehmen, wobei statt des Russischen Polnisch hinzukommen könne. Eine Konferenz wie die in Den Haag lasse für das Dolmetschen Kosten von rund 135.000 Euro entstehen. Gebe es Konferenzen in den vorgeschlagenen Sprachen, reduzierten sich die Kosten auf rund 30.000 Euro, die auf die Teilnehmerländer umgelegt werden könnten.
Dem widersprachen die Parlamentspräsidenten Litauens und Tschechiens, Ceslovas Jursenas und Petr Pithart. Die Nichtzulassung der eigenen Muttersprache sei eine Nichtzulassung eigener Identität. Katalin Szili, Präsidentin des ungarischen Parlaments und Gastgeberin der Folgekonferenz im Mai 2005 in Budapest, forderte, dass es keine Unterscheidungen zwischen "wichtigen und unwichtigen Sprachen" geben dürfe. Die Lösung könnte sein, wenn jedes Land die nötigen Dolmetscher selbst zur Konferenz mitbrächte.
Über die weitere Zusammenarbeit der Parlamente der EU berichtete der Präsident des schwedischen Reichstages, Björn von Sydow, der es als größte Aufgabe bezeichnete, den Dialog zwischen Bürgern und Politikern zu befördern. Es gehe um die Sicherung der Demokratie, der "eigentlichen Grundlage unserer großen Gemeinschaft". Die nationalen Parlamente müssten ein Netz für die europäischen politischen Diskussionen bilden. Die Arbeit der Athen-Gruppe, die durch von Sydow geleitet wurde, sei ein erster Schritt im Rahmen dieses Prozesses. Die Konferenz sollte Richtlinien für die interparlamentarische Zusammenarbeit empfehlen, unter anderem für Treffen der Fachausschüsse. Es gehe nicht um eine verstärkte Anzahl von Sitzungen und die Schaffung neuer Gremien, sondern um die Intensivierung der Arbeit.
Ähnlich äußerte sich der scheidende Präsident des Europäischen Parlaments, Pat Cox, der vor allem die geringe Beteiligung an den Europawahlen beklagte. "Nichtbeteiligung kann in Feindschaft umschlagen." Der portugiesische Parlamentspräsident Joao Bosco Mota Amaral mahnte Fortschritte in der Zusammenarbeit mit europäischen Institutionen an. Wolfgang Thierse konstatierte, dass die Volksvertretungen am Rande der kräftemäßigen Möglichkeiten für eine derartige interdependente Zusammenarbeit stünden. "Wir brauchen eine Denkpause", sagte der Präsident des belgischen Senats, Armand de Decker. Er forderte eine Evaluierung vorhandener Strukturen.
Die Konferenz zeigte, dass es in der Arbeit der nationalen Parlamente um Kooperation und Koordinierung geht, dass es im Konzert der Mitgliedsländer keine Disharmonien geben darf, sondern die Polyphonie gemeinsamer Interessen im Zentrum stehen muss.