Es war nicht nur "ein langer Weg zum 20. Juli" (Joachim Fest); er war zudem windungsreich, verschlungen und bizarr. Davon zeugen die etwa 40 von Guido Knopp ermittelten Putschpläne, Komplotte und Attentate. Die Vielfalt der militärischen und zivilen System-Opposition (Rettungswiderstand, Resistenz, Renitenz, Anpassung als Selbstbewahrung) gegen das NS-Regime findet zudem ihren Niederschlag in derzeit über 2.300 wissenschaftlichen Publikationen.
Um so begrüßenswerter ist das neue Werk des Freiburger Militärhistorikers Gerd R. Überschär. Er bündelt handbuchartig die großen Themenkomplexe des Widerstands und reichert Überblickswissen mit Verweisen auf Spezialliteratur an. Kurzbiographien der Mitverschwörer Stauffenbergs sowie klug komponiertes Bildmaterial empfehlen den Band besonders für den unterrichtlichen Einsatz.
Zwei Schwerpunkte seien herausgestellt: Erstens wird die überaus spannend geschilderte, logistische Meisterleistung der Konspiration von Informierten und zugleich Isolierten unter dem steigenden Geheimhaltungsdruck und der Zögerlichkeit der hohen Generalität nachgestellt. Zweitens machen die Täterprofile deutlich, dass nicht primär die desolate militärische Lage im Juli 1944 zum Handeln zwang. So betonte Generaloberst Ludwig Beck, dass der Staatsstreich nicht aus politisch-militärischen Gründen, sondern aus ethisch-moralischen Motiven erfolgen müsse. Dabei mag diese Entscheidung forciert worden sein durch Hitlers Ablehnung der Rommel-Denkschrift vom 15. Juli, in der dieser das Ende des "ungleichen Kampfs" vorgeschlagen hatte. Nach dem 20. Juli forderte der Krieg bis zum Mai 1945 pro Tag durchschnittlich 16.000 Todesopfer, wie Joachim Fest errechnete. Eine Kapitulation hätte zumindest den Luftterror beendet.
Wie sehr sich die Fortsetzung des Krieges immer heftiger nach innen verlagerte, dokumentiert Überschär im Kapitel über den Widerstand der Frauen. Von 12.000 aus politischen Gründen Hingerichteten waren zehn Prozent Frauen, die sich vornehmlich im Widerstand von links betätigt hatten. Familienangehörige der Militäropposition kamen in Sippenhaft. Himmler drohte mit Ausmerzung, da "schlechtes Blut" in den Adern fließe.
Während der deutsche Wehrmachtsbericht am 20. Juli 1944 allenthalben "schwere Abwehrkämpfe" meldete, brach die innere Front der Verschwörer nicht nur wegen Hitlers Überleben ein. Große Teile der Bevölkerung verurteilten das Attentat; die geheimen Stimmungsberichte des SD belegen die erfolgreiche Indoktrination der Goebbels-Propaganda. In der Wahrnehmung vom Ereignis und Vermächtnis strukturiert Überschär detailkundig, warum der Widerstand eine Koalition von Einsamen war.
Die Kreisauer
Der "Kreisauer Kreis" war wohl die bedeutendste Organisation der Opposition, benannt nach dem Moltkeschen Familiengut Kreisau in Schlesien. Er war Kontaktzentrum für den militärischen, kirchlichen wie gewerkschaftlichen Widerstand. Ohne feste Organisation bildeten etwa 20 Personen die wichtigsten Pfeiler der Opposition, unter ihnen besonders Helmuth James Graf von Moltke, Peter Yorck von Wartenburg, Carlo Mierendorff und Theodor Haubach.
Ihnen waren auf den wissenschaftlichen Tagungen der "Forschungsgemeinschaft 20. Juli" Vorträge und Diskussionen zwischen Wissenschaftlern und Verwandten der "Kreisauer" bei mehrfacher Teilnahme Freya von Moltkes gewidmet. Aus den Workshops entstand ein Buch bewegender Eindringlichkeit. Es bezeugt das Ringen um die Entschlusskraft des Gewissens, das Suchen nach Auswegen, die Sorge vor Gefährdung der Mitstreiter, den Kampf um die Würde des eigenen Tuns in seiner Vergeblichkeit.
"Wo immer Deutschland in Not stand", heißt es im letzten Brief Haubachs vor seiner Hinrichtung (gemeinsam mit Moltke, Erwin Planck und Eugen Bolz am 25. Januar 1945 in Plötzensee), "stand auch immer ich. Einen kleinmütigen und verzagten Angeklagten werden die Herren in mir nicht kennen lernen."
Nicht nur moralische Integrität, sondern auch intellektuelle Souveränität kennzeichnen die führenden Kreisauer. So schreibt Moltke an Yorck am 17. Juni 1940, als ganz Deutschland über Frankreichs Niederlage jubelt: "Nun, da wir damit rechnen müssen, einen Triumph des Bösen zu erleben, und während wir gerüstet waren, alles Leid und Unglück auf uns zu nehmen, stattdessen im Begriffe sind, einem viel schlimmeren Sumpf von äußerem Glück, Wohlbehagen und Wohlstand durchwaten zu müssen, ist es wichtiger denn je, sich über die Grundlagen einer positiven Staatslehre klar zu werden."
In der Widerstandsrezeption der 60er-Jahre wurden die Neuordnungspläne der Kreisauer als konservativ kritisiert. Sie atmen in der Tat den Geist einer primär staatsbezogenen ordnungspolitischen Gesittung, resultierend aus der Weimarer Erfahrung des krassen Parteiengezänks, selbstsüchtiger Freiheit und mangelnder Staatsverantwortung, die durch reformierte ständestaatliche Elemente aufgefangen werden sollten.
Widerstand im Südwesten
Eingebunden in den geistigen Widerstand gewann das "Freiburger Konzil" wirtschaftspolitischer Sachverständiger für die Nachkriegsplanung große Bedeutung. Seit 1941/1942 wurden die Professoren bei den richtungspolitischen Gegensätzen innerhalb der Verschwörung als Berater herangezogen. Sie bildeten teilweise unter dem Dach der Akademie für Deutsches Recht (Arbeitsgemeinschaft Preispolitik) und des Reichspreiskommissariats (bis 1935 von Goerdeler geleitet), ein Sammelbecken der Wirtschaftsopposition, allen voran Günter Schmölders. Sie arbeitete nicht nach Regeln konspirativen Verhaltens. Denn die Theorien einer neuen Wettbewerbsordnung waren trans-ideologisch insofern, als sie ihren Ausgang nahmen bei der Weltwirtschaftskrise von 1929. Gesucht wurde als Gegenstück zur Plan- und Befehlswirtschaft eine unternehmerische Dynamik der Besten und Tüchtigsten, die zugleich Verantwortung für soziale Stabilität übernahmen und Marktwirtschaft nicht als Piratentum für Profiteure verstanden.
In einer Denkschrift für Bonhoeffer zur künftigen politischen "Gemeinschaftsordnung" (verfasst von Constantin von Dietze, Walter Eucken und Adolf Lampe) sah Gerhard Ritter ein Dokument "christlicher Sittlichkeit". Im Ringen solcher Auffassungen mit den teilweise sozialdarwinistischen Konnotationen Goerdelers oder des "preußischen Sozialismus" bei Johannes Popitz fügten sich die Elemente des Ordo-Liberalismus der Freiburger erst nach 1948 zur "sozialen Marktwirtschaft". Ihre Erfolge hatten die gänzlich veränderten Rahmenbedingungen zur Voraussetzung und sollten eine gewisse Marginalisierung der Gewerkschaften und die Skepsis gegen den Parlamentarismus in den Vorstellungen der Freiburger nicht verschleiern.
Dazu ermahnt Hans Mommsen im Geleitwort zur magistralen Studie Daniela Rüthers über einen "dritten Weg" des deutschen Widerstands. Er hegte Wirtschaftsgedanken, die "gerade nicht auf eine parlamentarische Demokratie nach westlichem Vorbild hinausliefen". Statt Rückkehr zum bilateralen Monopol von Unternehmern und Gewerkschaften vor 1933 wurde die Konzentration der Arbeitsbeziehungen in eine nebulöse "ständische Zusammenfassung" (Seite 242) favorisiert.
Vielleicht hier und da die lebensweltliche Prägung der Widerständigen innerlich zuwenig begreifend, bietet die Bochumer Dissertation auf wissenschaftlich höchstem Niveau faszinierende Zugänge zur politischen Lebenskultur von Intellektuellen im Herrschaftsalltag der Diktatur.
Solche Mikrokosmen geistigen Widerstands formten sich nicht von ungefähr im deutschen Südwesten aus, der Heimat des Liberalismus. Wie sehr seine Traditionen die Kraft zum Widerstehen auffüllten, beschreibt Joachim Scholtyseck für den Stuttgarter Kreis. Hugo Oft widmet sich den Freiburgern, Michael Kißener der Karlsruher Widerstandsgruppe. Klaus Eisele porträtiert Mitverschwörer Carl Goerdelers. Rolf-Ulrich Kunze berichtet über die Widerstandsforschung seit 1994. Katja Schrecke, Anja Borgstedt, Jochen Meyer stellen die Literatur zum 20. Juli seit 1984 auf knapp 100 Seiten vor (Akteure, Attentate, Personenkreise, Strukturen des Widerstands).
Als nicht untypisch gerade für Liberale erwies sich die Heterogenität der Zukunftskonzepte, oft nur situativ verklammert durch den Verschwörer-Kurier Carl Goerdeler. Oberbürgermeister Strölin versuchte in Stuttgart vergeblich, Rommel für den aktiven Widerstand zu gewinnen. Eugen Bolz wurde hingerichtet. So mancher sah erst im endgültigen Zusammenbruch die Chance zum Neubeginn. Dieser war künftig, das war Grundkonsens, dem Weltbild zu verpflichten, das Moltke vorgab. Danach sollte die letzte Bestimmung des Staats darin bestehen, Hüter der Freiheit des Einzelmenschen zu sein. "Dann ist es ein gerechter Staat."
Die Entfaltung dieser Rechtsauffassung des Verschwörerkreises stellt Peter Steinbach ins Zentrum seiner Galerie des Widerstands. Steinbach lockert und läutert zugleich die aufmüpfige Verkrampfung einer Historikergeneration, die sich gegen die solitäre Herausstellung der Konspirationen des Adels wandte.
Ein Exponent dieses Milieus war Hans Hasso von Veltheim. Im ersten Weltkrieg führte Veltheim Ballons und Luftschiffe, damals die modernste Technik der Feindaufklärung. Danach tummelte sich der bildungshungrige und kunstsinnige Ex-Offizier in der Münchener und Berliner Bohème. 1927 übernahm Veltheim das väterliche Gut und Schloss im Saalekreis nahe Bitterfeld. Seine Kontakte zu den Spitzen der gebildeten Welt machten das Schloss zu einem Begegnungszentrum, das nach 1933 das Misstrauen der Nazis vor Ort ständig steigerte.
Auf Anraten seiner Verbindungsleute im Auswärtigen Amt trat Veltheim 1937 in die NSDAP ein, um seine Auslandsreisen und Devisenzuteilungen zu sichern. Unterwegs leistete Veltheim Botendienste für die Opposition, dies ebenfalls für den bedrohten Rabbiner und Dozenten an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, Leo Baeck.
Der Totentanz beginnt
Vier Tage vor Stauffenbergs Attentat notierte er: "Man hat den Eindruck, dass die Panik und der Totentanz beginnen". Vor ihm suchte Veltheim möglichst viele zu retten. Sein Besitz wurde zum riesigen Notzelt. Kurz vor Kriegsende schrieb ihm Marie-Elisabeth Lüders, nach dem Krieg prominente FDP-Politikerin: "Man atmet kaum noch vor Angst um die Lieben."
In sensibler Regie gestaltet Veltheims Biograph Walther den Zusammenprall von Weltoffenheit und Hassdoktrin, von Tapferkeit und Beharren im Dickicht des Verrats, der Denunziation, der Lethargie und Rückversicherungskniffe. Zu Kriegsbeginn 1939 hatte Veltheim sarkastisch notiert: "Der Nationalsozialismus ist die Lösung der sozialen Frage durch den Krieg." Schon das macht neugierig auf einen Zeitzeugen, der die meisten aus dem Widerstand kannte.
Im gemeinsamen Nein zur Diktatur gingen viele eigene Wege. "Man würde", so der Bonner Zeithistoriker Joachim Scholtyseck, "den durchaus disparaten Interessen der Mitverschworenen nicht gerecht, wenn man annähme, es habe in den Grundfragen einer politischen Neuordnung für die Zeit nach dem Attentat Einigkeit geherrscht". Aber haben nicht gerade diese couragierte Pluralität und die Würde des Kompromisses im Bekenntnis zum Rechtsstaat als streitbarer Demokratie die Fundamente gelegt für das moderne Deutschland? Und war nicht der erfolgreiche Kampf gegen Okkupation und totalitäre Anmaßung Voraussetzung für die Zusammenschlüsse Europas?
Ob der Preis der Rebellion der Einsamen zu hoch war, ist mehr denn je eine Frage an uns selbst.
Günter Brakelmann
Die Kreisauer - Folgenreiche Begegnungen.
Biographische Skizzen zu Helmut James Graf von Moltke, Peter Yorck von Wartenburg, Carlo Mierendorff und Theodor Haubach.
LIT Verlag Münster 2003, 412 S., 24,90 Euro
Peter Steinbach
Der 20. Juli 1944. Gesichter des Widerstands.
Siedler Verlag, München 2004; 354 S., 24,- Euro
Gerd R. Überschär
Stauffenberg. Der 20. Juli 1944.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2004;
271 S., 19,90 Euro
Daniela Rüther
Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in die soziale Marktwirtschaft.
Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposiion gegen Hitler.
Schöningh Verlag, Paderborn 2003; 491 S., 68,- Euro
Klaus Eisele, Rolf-Ulrich Kunze (Hrsg.)
Mitverschwörer - Mitgestalter.
Der 20. Juli im deutschen Südwesten.
UVK Verlag, Konstanz 2004; 270 S., 14,90 Euro
Karl Klaus Walther
Hans Hasso von Veltheim. Eine Biographie.
Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2004,
308 S., 25,- Euro