1989 ging eine Ära zu Ende: die des Ost-West-Konfliktes. Vielfach übersehen wird, dass jene Ära auch eine Zeit weithin erfolgreicher bundesdeutscher Außenpolitik war. Sie trug wesentlich dazu bei, dass sich das Land, eingebettet in europäische und transatlantische Zusammenarbeit, in Frieden und Wohlstand entwickeln konnte. Ihre Krönung und gleichzeitig ihr Ende erfuhr sie, durch äußere Umstände begünstigt, in der deutschen Vereinigung von 1990 und, im Zusammenhang damit, durch die Überwindung der europäischen Teilung.
Seither hat sich deutsche Außenpolitik in einem grundlegend veränderten weltpolitischen Umfeld zu bewegen. Zu einer Diskussion darüber luden - initiiert vom Lehrstuhl Internationale Beziehungen der Universität Trier - kürzlich die Bundeszentrale für politische Bildung und die Volkswagenstiftung einige Dutzend Fachleute aus dem In- und Ausland zu einer mehrtägigen Konferenz ein.
Heute können nur noch die USA als Weltmacht gelten. Die Daten sind eindeutig. Allein auf wirtschaftlichem Gebiet kann Europa ein gewisses Gegengewicht bilden. Hoffnungen, dass das Ende des Ost-West-Konfliktes ein Mehr an Frieden bringen würde, trogen. Im Gegenteil. Manche Kriege, nicht nur jene auf dem Balkan und Tschetschenien, sind durch dieses Ende erst möglich geworden. Und die Auseinandersetzungen um den Irakkrieg offenbarten nicht nur in den transatlantischen Beziehungen, sondern auch innerhalb Europas bittere Zwietracht. Währenddessen nahmen Asien und Afrika unterschiedliche Entwicklungen. Afrika - der Sudan ist dafür nur ein aktuelles Beispiel - droht in Elend, Bürgerkrieg und Unregierbarkeit zu versinken (Vierte Welt). Jüngste britisch-französische Initiativen, im europäischen Rahmen Militärkontingente (so genannte battle groups) zusammen zu stellen, zielen primär darauf ab, in allfällige afrikanische Krisengebiete jeweils schnell Kampftruppen entsenden zu können: Um Gewalteskalationen möglichst frühzeitig zu unterbinden, Leiden der Zivilbevölkerung zu begrenzen und Voraussetzungen für Friedensverhandlungen zu schaffen.
Ostasien bildet neben Nordamerika und Westeuropa das dritte Weltwirtschaftszentrum. China ist seit rund 15 Jahren weltweit das Land mit der höchsten druchschnittlichen Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts. Nicht minder beeindruckend ist, trotz Asienkrise von 1997/98, die wirtschaftliche Entwick-lung von Staaten wie Südkorea und Taiwan. Japan bleibt, trotz langer Stagnation, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Diese unstrittigen Fakten sollten jedoch nicht zu Fehlschlüssen verleiten. Ostasien, Asien - 3,5 Milliarden Einwohner mit vielfach ungebrochenem Bevölkerungswachstum - gilt auch als Krisenkontinent. Mit Ausnahme des Nahmittelostens wird nirgendwo sonst auf der Welt so stark aufgerüstet wie im asiatisch-pazifischen Raum. Pekings Innenpolitik - wirtschaftliche Freiheiten bei fortgesetzter politischer Repression und Korruption - führt zu tiefen sozialen und regionalen Brüchen. Ostasien gilt sicherheitspolitisch als eine der gefährlichsten Regionen der Welt. Dort mangelt es nicht an brisanten Krisenherden. Sie reichen von der koreanischen Halbinsel und Taiwan über das krisengeschüttelte Indonesien - dem bevölkerungstärksten moslemischen Land der Welt - bis zu den, von Nuklearwaffen überschatteten Spannungen auf dem indischen Subkontinent.
Die USA sind nicht nur eine atlantische, sondern auch eine pazifische Macht. Sie sind auch im Fernen Osten militärisch dominant. Sie sind Weltmacht, China will eine werden, hat aber bis dahin noch einen langen Weg vor sich. Inzwischen stellt sich in Washington die Frage, ob man diese Entwicklung kooperativ oder konfrontativ begleiten soll. Auch gilt es, die unklaren Machtrelationen zwischen den Bevölkerungsgiganten China und Indien, aber auch Japan zu berücksichtigen. Und allein die USA sind in der Lage, zwischen den Nuklearmächten Indien und Pakistan auszugleichen. Auch für sie stellt sich die Frage, ob man, nach dem Einsatz im Irak, weitere militärische Demonstrationen, beispielsweise auf der koreanischen Halbinsel, bewerkstelligen kann.
Ungeachtet der Größenordnung und der Gefahrenpotentiale in Ost- und Südasien, aber auch in Afrika; ungeachtet auch all jener tiefgreifenden Probleme, die man gemeinhin unter dem Begriff Nord-Süd-Konflikt subsummiert, ist amerikanische Politik heute als Folge innenpolitischer Machtkonstellationen, unabhängig auch vom Ausgang der Präsidentenwahlen am 2. November auf den nahmittelöstlichen Raum konzentriert. Er wird "in den kommenden Jahren, wenn nicht Jahrzehnten im Zentrum internationaler geopolitischer Ordnungsbemühungen und Auseinandersetzungen stehen und damit auch europäisch-amerikanische Beziehungen weitgehend definieren" (Volker Perthes). Die Gründe für diese Entwicklung sind allgemein bekannt, strittig ist jedoch die Gewichtung und Hervorhebung dieser Region im Kontext weltweiter Probleme. Dies umso mehr, als, nicht nur beim Stichwort Irakkrieg, umstritten bleibt, was im einzelnen Ursache, was Folge des blutigen Geschehens in der Region ist und so politische Regelungen nachhaltig erschwert. Washington ist es bisher nicht gelungen, den israelisch-palästinensischen Konflikt, das Kernproblem in der Region, einer Eindämmung, geschweige denn einer Lösung näher zu bringen. Israel ist immer auch amerikanische Innenpolitik. Und Washington tut sich schwer im Irak - um das Mindeste zu sagen -, fordert mittlerweile substantielle internationale Hilfe. Das ungelöste Problem Afghanistan droht darüber in Vergessenheit zu geraten. Forderungen nach mehr Demokratie in Nahmittelost aber geraten aufgrund der engen Zusammenarbeit mit regionalen Feudal- und Militärregimes (von Algerien über Ägypten bis Pakistan) zu Lippenbekenntnissen. Immerhin erlaubt die Zusammenarbeit amerikanisch-israelische Kontrollen über den pakistanischen Nuklearwaffenbesitz.
Stabilität im Nahmittelosten ist auch im deutschen, im europäischen Interesse. Insofern liegt eine europäisch-amerikanische Zusammenarbeit - aktuell besonders im Fall Iran - nahe. Aber Einfluss auf die Politik Washingtons oder Tel Avivs ist damit kaum verbunden. Zu groß ist das Machtgefälle in den europäisch-amerikanischen Beziehungen. Und Israel ist die stärkste Militärmacht in der Region, es hat alle ABC-Waffen, die es glaubt besitzen zu müssen, die enge militärische Zusammenarbeit mit der Türkei strategische Tiefe, und es weiß sich der uneingeschränkten Unterstützung der USA sicher.
Um Europa, die Europäische Union, aber steht es nicht allzu gut. Fortschreitendes Zusammenwachsen ist kein unumkehrbarer Prozess. Es bedarf des ständigen Engagements. Die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die Bedrohungen während des Kalten Krieges verblassen. Mit der jüngsten Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa (Bulgarien und Rumänien stehen noch an) ist die EU an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gegangen. Sie steht damit vor einer Generationenaufgabe. Das schließt enge Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten - ob die Ukraine oder Russland, die Türkei oder Marokko - nicht aus, auch, wo nötig und möglich, substantielle Hilfen. Weitere Beitritte aber überfordern die Union, sie würde handlungsunfähig. Durch Überdehnung drohte sie in Subsysteme, wechselnde Bündnisse, Koalitionen wie dereinst vor den Weltkriegen, zu zerfallen. Washington drängt auf einen EU-Beitritt der Türkei. Der einschlägige Druck ist außerordentlich. Damit ist die Hoffnung verbunden, im Verfolg einer umfassenden Nahmittelostpolitik die Türkei politisch und wirtschaftlich - im Jahre 2001 mussten noch die USA und der Internationale Währungsfonds absichern - durch die EU abstützen zu lassen. Manchem in Washington mag auch nicht an einer wachsenden Handlungsfähigkeit Europas gelegen sein. Abgesehen davon, dass sich die europäisch-türkischen Beziehungen auch ohne Beitritt zum Vorteil beider Seiten gestalten lassen, stellt sich die Frage, ob es nicht auch im amerikanischen Interesse liegt, ein handlunsgfähiges Europa zur Seite zu habe. Ohne einen solchen Partner wird die USA den weltweiten Führungsanspruch auf Dauer kaum aufrecht erhalten können. Um einen bekannten Politikwissenschaftler von der Washingtoner Johns Hopkins Universität zu zitieren: Europa ist mehr als ein amerikanisches Reservoir für Reservekräfte (David P. Calleo).
Anliegen der Tagungsinitiatoren war es, eine breite öffentliche Auseinandersetzung über die Zukunft der deutschen Außenpolitik anzustoßen. Informativ war nicht zuletzt das Gespräch am Rande der Konferenz. Deutlich wurde dabei: an einschlägigen Themen, Problemen und Fragen, denen sich deutsche und europäische Politik stellen muss, mangelt es nicht.