An der Wand hängt eine Bildkomposition, in ihrer rhythmischen Metrik dem babylonischen Ischthartor im Berliner Pergamonmuseum ähnlich. Die polnische Künstlerin Zofia Kulik hat ihr Werk "From Siberia to Cyberia" genannt. In Tausenden von Fotos hat sie den blutigen Jahrhundertweg von der Oktoberrevolution bis ins Computerzeitalter montiert, um Geschichtslegenden zu demontieren. Sibirien steht für den Gulag, in den auch Generationen polnischer Rebellen verbannt wurden, Cyberia ist nach dem ersten Londoner Internetcafé benannt. Zu sehen sind die beiden Begriffspole in der interessanten Ausstellung "E.U.positive" im Haus der Berliner Akademie am Hanseatenweg noch bis zum 7. November.
Die beiden Kuratoren Eckhard Gillen und Matthias Flügge haben in acht Ländern Osteuropas nach Arbeiten gesucht, die die Dialektik von Kontinuität und Wandel beschreiben, der sich seit 1989 dort vollzogen hat. Die Länder, im häufig desinteressierten und desinformierten Westen unter der irreführenden Rubrik Ostblock geführt, haben in den vergangenen 15 Jahren die Rückkehr in ihre eigene Geschichte vollzogen.
Diesen Weg beschreiben die Arbeiten von 42 Künstlerinnen und Künstlern auf überzeugende Weise. Die Auswahl berücksichtigt unterschiedliche Generationen mit Malerei, Skulptur, Fotografie, Grafik sowie Video- und Computerinstallationen. Auffallend ist die Spannung zwischen zeitgenössischer Kunstsprache und Verankerung im selbst Erlebten. Das verleiht dieser Präsentation eine außerordentliche Authentizität, die dem häufig belanglosen hiesigen Kunstbetrieb einen anschaulichen Kontrast entgegensetzt. Von großem Interesse sind vor allem die Arbeiten der Fotografen. Der Litauer Antanas Sutkus wird auf großen, vorwiegend schwarzweißen Bildtafeln vorgestellt. Seine Aufnahmen sind ein aufregendes document humaine des Lebens in der litauischen Sowjetrepublik wie der Zeit nach wiedererlangter Eigenstaatlichkeit. Sutkus fotografierte Menschen in der Hauptstadt Vilnius, porträtierte Jungs einer Blindenschule. 1997 beendete er seine Chronik und widmet sich seither seinem ausführlichen Bildarchiv. Eine Zäsur, die Fragen aufwirft und die die Ausstellung nicht beantworten kann. Im Mittelpunkt vor allem der baltischen Künstler steht die Selbstbehauptung der kleinen Völker gegen die Russifizierung zu Sowjetzeiten. Musik, Literatur und Bildende Kunst waren dabei stets Antennen in die Welt, mit unterschiedlichem Erfolg von Senden und Empfangen. Der Lette Kaspars Goba hat im Sedaer Moor seines kleinen Heimatlandes eine Stadt entdeckt, die als Zentrum der Torfindustrie 1952 gegründet wurde. Seda ist das Symbol einer Mustersiedlung stalinistischen Zuschnitts, mit Denkmälern und Statuen des sozialistischen Realismus. Goba hat die dort lebenden Menschen, fast alles Immigranten aus Russland, Weißrussland und der Ukraine, im Bild festgehalten, ohne sie zu denunzieren. Eine Insel der angehaltenen Zeit, eine russische Enklave, in der der pensionierte Lokomotivführer Leonid Dranikow eine Kirche mit eigenen Händen erbaut hat.
Die Estin Eve Kask hat im Frühjahr dieses Jahres die Menschen eines Tallinner Hochhauses, in dem sie selbst lebt, in ihren Wohnungen fotografiert. "Die Menschen in solchen Häusern führen ein anonymes Leben und betrachten den Raum außerhalb ihrer Wohnung häufig als feindselige Umgebung. Wenn es an der Tür läutet, schauen sie durch den Spion und ziehen es vor, durch die verriegelte Eisentür zu sprechen." Nur eine Tür öffnete sich ihr bei ihrem Experiment nicht.
Europäische Unterdrückungsgeschichte
Einige der Exponate befassen sich direkt mit europäischer Unterdrückungsgeschichte. So hat der Tscheche Michael Bielicky mit einem Video "Crossings-The Last Path of Walter Benjamin" jenen Ort an der französisch-spanischen Grenze dokumentiert, wo der jüdisch-deutsche Schriftsteller 1940 seinem Leben ein Ende setzte. Bieleckys Videoinstallation zeichnet den Fluchtweg nach, den viele Antifaschisten über die Pyrenäen nahmen. Es entstand ein Werk, das eine Metapher auch für Asylsuche und Emigration in heutiger Zeit ist. Es nimmt Walter Benjamins Gedanken auf, der schrieb: "Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren, als das der Berühmten (...) Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht."
Dieser historische Bezug prägt auch die Arbeiten von Miklos Erhardt und Dominic Hislop (Ungarn/Schottland) sowie von Peter Forgacs (ebenfalls Ungarn). Erhardt und Hislop fragen sich, ob die heutige Polarisierung der Gesellschaft mit Weimarer Verhältnissen vergleichbar ist. Sie setzen Statements von Obdachlosen und Geschäftsleuten in Ungarn gegeneinander, im Hintergrund ist die Musik der Dreigroschenoper zu hören. Forgacs hat unter dem Motto "The Danube Exodus" Amateurfilme von den 30ern bis zu den 80er-Jahren gesammelt. Deimantas Narkevicius (Litauen) zeigt in seinem Film "Legend Coming True" eine alte Frau, die auf Russisch mit jiddischem Akzent die Geschichte des Untergangs der litauischen Juden während der deutschen Besatzung erzählt.
Diese Geschichten von der Verletzlichkeit des Individuums, von Schuld wie Unterdrückung, prägen auch viele Werke jüngerer Künstler. Die Tschechin Milena Dopitova verwandelt sich in ihrem Projekt "Sixtysomething" von einer 40-jährigen in eine 60-jährige Frau. Eine Metamorphose als Überlebenstraining für kommende Zeiten. Lukas Jarsansky und Martin Polak aus Tschechien setzen dem mit ihren Fotos von endlosen Feldern bis zum Horizont eine Zone der scheinbaren Zeitlosigkeit entgegen. Dass Zeit ein relativer Begriff ist, zeigt die Lettin Inguna Elere mit ihrem Monument, das einem Grabstein ähnelt. Sie versteht es als Leuchtwerbung: Über der Inschrift Circulus Vitiosus leuchtet der Sternenkreis der Europäischen Union ...
Insgesamt eine interessante Ausstellung, die den Reichtum der Handschriften beschreibt, über die die Kunst der EU, falls es so etwas gibt, verfügt. "E.U. positive" darf, als ironische Pointe gedacht, deshalb im positiven Sinne auch durchaus wörtlich genommen werden.