Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 25.04.2005
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Frank Decker

Die EU ist gut vorangekommen

Jahrbuch zur europäischen Integration

Das vergangene Jahr war für die EU in doppelter Hinsicht epochal. Zum einen hat die Gemeinschaft zehn neue Mitglieder aufgenommen und damit die bisher größte Erweiterung ihrer Geschichte vollzogen; zum anderen wurde, nachdem der erste Anlauf im Dezember 2003 an der Uneinigkeit über die künftige Stimmengewichtung im Ministerrat gescheitert war, am 18. Juni der Europäische Verfassungsvertrag (EVV) von den Staats- und Regierungschefs in Brüssel feierlich unterzeichnet. Mit ihm bekommt die Union zum ersten Mal einen zusammenfassenden konstitutionellen Rahmen, der ihren quasi-staatlichen Charakter nach innen und außen dokumentiert.

Parallel und ergänzend zur verbesserten Handlungsfähigkeit hat die Verfassung die Legitimation der europäischen Entscheidungsträger sowohl auf der supranationalen als auch auf der intergouvernementalen Ebene erhöht. Gewiss wird das Demokratiedefizit damit noch nicht behoben - genauso wenig, wie die Gemeinschaft durch die Osterweiterung bereits ihre endgültige territoriale Struktur erreicht. Der doppelte Integrationssprung von 2004 hat sie aber auf dem Weg zu ihrem finalen Zustand ein großes Stück vorangebracht.

Es ist deshalb kein Wunder, dass sich beide Themen wie ein roter Faden durch die Einzelbeiträge des jetzt zum 24. Mal erschienenen "Jahrbuchs der Europäischen Integration" ziehen. Das Periodikum ist längst zu einem unentbehrlichen Nachschlagewerk in Sachen EU avanciert, das Verlauf und Ergebnisse des Integrationsprozesses seit 1980 akribisch nachzeichnet. An der bewährten Systematik wurde auch jetzt festgehalten. Nach drei einleitenden Beiträgen werden zunächst (in neun Einzelbeiträgen) die Institutionen der EU und sodann (in 16 Beiträgen) ihre Politikbereiche unter die Lupe genommen.

Es folgen ein längerer Block zu den Außenbeziehungen der EU, in dem sachliche und regionale Gliederungsgesichtspunkte verknüpft werden (elf Beiträge), und ein kürzerer Block zur politischen Infrastruktur (Parteien, Interessenverbände, Öffentliche Meinung), der von der Systematik her eigentlich besser vor den policy-bezogenen Kapiteln Platz gefunden hätte. Der anschließende Block über die Europapolitik in den Mitgliedstaaten umfasst 25 Beiträge, während der Abschnitt über die künftig anstehenden Erweiterungen mit einem Überblick und drei Länderbeiträgen (Bulgarien, Rumänien, Türkei) entsprechend kürzer ausfällt. Den Schluss setzt ein erstmals aufgenommener Block über die Europapolitik in "anderen Organisationen" (Europarat und UN). Abgerundet wird das Jahrbuch wie üblich durch ausführliche Chronologie, umfangreiche Bibliographie und Linksammlung.

Forschungsbericht

Einen genaueren Blick verdienen die drei Einleitungsbeiträge, die ein gelungenes Gesamtpanaroma des Integrationsprozesses im Berichtszeitraum zeichnen. Während Weidenfeld mit leichtem Stil die Grundlinien zieht und dabei eher im Kontext der Internationalen Politik verbleibt, analysiert sein Ko-Herausgeber die EU bereits ganz aus der gouvernementalen Perspektive eines politischen Systems. Sein Text ist in erster Linie als politikwissenschaftlicher Forschungsbericht gedacht, der den "state of the art" der Disziplin umreißt und Schneisen in die inzwischen kaum noch überschaubare Literatur schlägt.

Der dritte Beitrag vom Heidelberger Staatsrechtler Peter-Christian Müller-Graff widmet sich dem jetzt auf den Weg gebrachten Verfassungsvertrag. In der präzisen wie ungelenken Sprache des Juristen werden dessen Strukturmerkmale systematisch herausgearbeitet, wobei der Autor den völkervertraglichen Charakter des Entwurfs ebenso betont wie die grundsätzliche konzeptionelle Kontinuität zum gegenwärtigen Primärrecht. Die Doppelnatur der Gemeinschaft als supranationales und zugleich intergouvernementales Gebilde, die Müller-Graff mit dem schwammigen Begriff "föderationsartig" umschreibt, bleibe unter dem Vertrag erhalten und werde durch ihn "mit einigen neuen Akzenten systemrational fortgebildet. Eine Revolution im europäischen Verfassungsraum findet nicht statt".

Etwas bedauerlich ist, dass andere übergreifende Fragen des Integrationsprozesses im Jahrbuch nur sporadisch aufgegriffen werden konnten. Dies gilt für die Debatte um die kulturellen und geografischen Grenzen der EU aus Anlass der Türkei-Frage oder den wachsenden Euroskeptizismus in vielen Mitgliedstaaten, der zur gestärkten verfassungsrechtlichen Legitimität der Union in bemerkenswertem Kontrast steht. Eine eingehendere Betrachtung hätte hier wohl aber den auf 500 Seiten begrenzten Umfang des Werkes gesprengt, für dessen Gebrauchswert es ja gerade wichtig ist, dass die Beiträge nicht ausufern. Die Gratwanderung von analytischer Vertiefung und empirischer Breite ist den Herausgebern und Autoren auch jetzt wieder geglückt. Wer sich über das Fortschreiten der europäischen Einigung wissenschaftlich aktuell auf dem Laufenden halten möchte, wird deshalb am Jahrbuch weiterhin nicht vorbeikommen.


Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hrsg.)

Jahrbuch der Europäischen Integration 2003/2004.

Nomos Verlag, Baden-Baden 2004; 524 S., 49,- Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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