Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 21 / 23.05.2005
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Detlev Lücke

Mein Wehrdienst bei der NVA im Jahr 1976

Erinnerungen

Wir bereiten den Krieg vor", sagte der junge Oberleutnant im Politunterricht. "Sie meinen sicher, wir bereiten uns auf den Krieg vor, Genosse Oberleutnant", so unsere Einlassung. "Wir bereiten den Krieg vor", seine Antwort. Wir waren Soldaten der 1. Kompanie des Richtfunkregimentes in Fünfeichen bei Neubrandenburg. Eine Mischung aus EK's (drittes Dienst-halbjahr und deshalb Entlassungskandidaten), Zwipis (Zwischenpisser, zweites Diensthalbjahr), Sprillis (erstes Diensthalbjahr) und Resis (Reservisten, die für ein halbes Jahr eingezogen wurden). Wir bauten während unserer Übungen 20 Meter hohe Funkmasten auf der Richtstrecke von Neubrandenburg Richtung Westen. Es ging über Groß Laasch bei Ludwigslust bis nach Dömitz an der Elbe.

Im Unterschied zu unserem Politlehrer hatten wir nicht das geringste Interesse, den Krieg vorzubereiten, sondern zählten unsere Tage bis zum 30. Oktober 1976, dem Tag der Entlassung ins zivile Leben. War es leichtsinnig, solche Prognosen gegenüber Soldaten loszulassen, oder nur ein gedanklicher Lapsus eines besonders kriegslüsternen Offiziers? Die Stunden auf der Bank des nüchternen Lehrgebäudes im umzäunten Fünfeichen waren nicht dazu geeignet, noch irgendwelche Nachfragen zu stellen.

Wenn man allerdings bedenkt, dass die Sollstärke in DDR-Kasernen am Wochenende bei über 90 Prozent lag, konnte man schon nachdenklich werden. Nur ein Bruchteil der Soldaten unseres Regiments durfte in dieser Zeit nach Hause fahren oder zu einem Ausgang in die relativ trostlose Bezirkshauptstadt Neubrandenburg aufbrechen. Dort lauerten Offiziere in Zivil nur darauf, uns bei irgendeinem militärischen Lapsus zu ertappen und den Kettenhunden des Kommandantendienstes (KD) zu überstellen.

Wer derart in Abhängigkeit gehalten wird, sucht sich Freiheiten. Der berüchtigte Befehl 30/74, der Alkoholgenuss im "Objekt" strengstens untersagte, förderte den Alkoholismus auf jede erdenkliche Weise und machte das Hereinschmuggeln von Schnaps und Bier in die Soldatenstuben zum Gesetz. Wer derart strikte Sollstärken durchsetzte, förderte an den Wochenenden die so genannte UE, das heißt die unerlaubte Entfernung von der Truppe durch einen Sprung über den Zaun im abgelegenen Kasernengelände. Abwesende wurden beim abendlichen Zählappell mitgezählt.

Die Moral der Truppe war entsprechend. Bei einem nächtlichen Alarm im Frühherbst dauerte es fast eine Stunde, bis alle Lastwagen im Technikpark angesprungen waren. Die Batterien waren völlig leer, und die Kraftfahrer zogen ihre "Ural 80", "LOS's" und Kastenfahrzeuge gegenseitig an, bis alles lief. Unter den Soldaten unserer Kompanie hielt sich der Spruch: "Ehe wir die Kisten in Gang gesetzt haben, steht der Ami am KP (Kontrollpunkt) und verteilt die ersten Kaugummis." Ein anderer Spruch lautete, falls scharfe Munition ausgegeben würde, könnten 50 Prozent der Offiziere damit rechnen, den Kasernenhof nicht lebend zu verlassen.

Waren wir ein besonderes Schlumpschützenregiment? Wohl kaum. Disziplin und Stimmung in den meisten Truppenteilen der 1956 gegründeten Nationalen Volksarmee waren schlecht bis miserabel. Westliche Untersuchungen der NVA hielten sich offensichtlich mehr beim Stechschritt der Maiparaden auf als bei der Situation der Truppe. So entstand ein ähnliches Bild über die Verteidigungsbereitschaft der DDR wie über ihre florierende Wirtschaft in angeblich neuntstärkstem Industrieland der Welt.

Die Volksarmee hat sich zum Glück nie in einem Krisenherd der Welt militärisch beweisen müssen. Ihr Einmarsch in die CSSR 1968 mit den anderen Armeen der Warschauer-Pakt-Staaten außer Rumänien ist eine Legende. Die Truppe biwakierte an der Grenze zur Tschechoslowakei. Auch Einsätze gegen die eigene Bevölkerung sind nicht bekannt. Soziologisch waren die 180.000 Mann unter Waffen ein Spiegelbild der DDR-Gesellschaft und deshalb nur bedingt einsatzbereit. Die 18-monatige Dienstzeit, die jeden Jugendlichen zwischen 18 und 26 Jahren treffen konnte, war deshalb in erster Linie ein Zeitvernichtungsprogramm und wurde entsprechend abgearbeitet. Entlassungskandidaten ließen ihre Zentimetermaße mit den farbig ausgemalten Tagen im Wind baumeln. Die letzten zehn Tage wurden auf die Sektflasche geklebt, die man mit der Liebsten austrinken wollte. Offiziere, die sich auf 25 Jahre verpflichtet hatten, wurden Tagemonster oder Tagesilos genannt.

Die NVA war keine Bürgerarmee, auch keine der sozialistischen Bürger. Einen Wehrbeauftragten gab es nicht, Beschwerden waren sinnlos. Im Zweifelsfalle hieß das: Erst schießen, dann fragen. Der Soldat richtete sich auf seine Rechtlosigkeit ein und verhielt sich entsprechend, nämlich subversiv. Politoffiziere, die eigentlich für die Moral der ihnen Anvertrauten verantwortlich waren, verhielten sich betriebsblind und reagierten auf keine Klagen.

Als wir jedoch an einem Sommersonntag in eine sowjetische Kaserne bei Fürstenberg rollten, um gegen die Waffenbrüder ein Fußballfreundschaftsspiel zu absolvieren, relativierte sich das Befinden. Unsere Spielpartner lebten in Schlafsälen à 60 Mann, Spinde existierten keine, nur ein winziger Nachtschrank, unter dem Badelatschen hervorguckten. Ausgang gab es nur als Auszeichnung, Urlaub war ebenfalls nicht garantiert. Die Dienstzeit auf dem Boden der DDR dauerte zwei Jahre. Nach dem Spiel, das wir 6:1 verloren, fuhren wir nachdenklich nach Fünfeichen zurück.


Detlev Lücke ist Leitender Redakteur der Wochenzeitung "Das Parlament".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.