Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 09 / 23.02.2004
Marianna Butenschön

"Unsere Chefs lernten, wie Hollywoodstars zu lächeln"

Russlands ältester Atommeiler soll trotz gravierender Mängel weiter produzieren
St. Petersburg, Rylejewstraße 3, Wohnung 15 - eine Adresse im historischen Zentrum der ehemaligen Zarenresidenz. Hier hat das "Ökologische Rechtsschutzzentrum Bellona" seinen Sitz, eine der beiden Vertretungen der norwegischen Umweltorganisation in Russland. Die andere sitzt in Murmansk auf der Kola-Halbinsel. Das Petersburger Zentrum wird von Kapitän zur See a. D. Alexander Nikitin geleitet, der vor Jahren in einem Bericht für "Bellona" jene Strahlengefahr geschildert hat, die von den ausgemusterten Atom-U-Booten der russischen Nordflotte ausgeht.

Dafür war der Reaktorexperte auf Betreiben des Inlandsgeheimdienstes FSB wegen Spionage vor Gericht gekommen. Die Sache Nikitin durchlief mehrere Instanzen, bis das Oberste Gericht Russlands den Beschuldigten freisprach. Heute setzt sich Alexander Nikitin für das in der Verfassung der Russländischen Föderation verankerte Recht der Bürger auf eine gesunde Umwelt ein und nutzt dabei die Erfahrung, die er seinerzeit mit den Behörden, den Gerichten und der Presse gemacht hat.

"Unsere größte Schwierigkeit besteht darin", sagt Alexander Nikitin, "die Bürokraten, die in unserem Land daran gewöhnt sind, außerhalb des Gesetzes zu leben, zu zwingen, im Rahmen des Gesetzes zu leben. Und das gelingt uns einfach nicht, weil sie meinen, dass sie, wenn sie hohe Posten bekleiden, machen können, was sie wollen." Das Ökologische Rechtsschutzzentrum entstand im April 1998. Finanziell von den Norwegern unterstützt, ist es beratend und aufklärend tätig, bildet Umweltjuristen und Umweltjournalisten aus, bietet Rechtsbeistand an und gibt die Zeitschrift "Ökologie und Recht" heraus.

Eines der vielen "Bellona"-Projekte heißt "Atomares Petersburg". Als die Stadt noch Leningrad hieß, war sie eines der Zentren der sowjetischen Rüstungs- und Atomindustrie. Dutzende Forschungsinstitute und Betriebe, die mit radioaktivem Material arbeiteten, haben den strahlenden Müll Jahrzehnte lang einfach auf ihrem Gelände "entsorgt" oder zur nächsten Abfallhalde geschafft. Erst vor ein paar Jahren erfuhren die Petersburger, dass es in ihrer Stadt mehr als 1.300 radioaktiv verseuchte Orte gibt, von denen nur die am stärksten verstrahlten saniert wurden. Der Bau von Atom-U-Booten im Stadtzentrum unweit der Ermitage wurde erst in den 90er-Jahren eingestellt. Auch Nuklearwaffen seien in der Stadt getestet worden, sagt Alexander Nikitin, die Atomlobby sei immer noch sehr mächtig. "Und wenn wir einmal die Regionen Russlands miteinander vergleichen, dann ist Petersburg eine der atomar am stärksten gesättigten Regionen unseres Landes. Das ist seltsam, aber das ist so." Das "Bellona"-Projekt "Atomares Petersburg" hat die Schaffung eines Systems öffentlicher Kontrollen über ökologisch gefährliche Objekte in der Stadt und im Leningrader Gebiet zum Ziel.

Das gefährlichste Objekt ist das Leningrader Kernkraftwerk (LAES). Das älteste Kernkraftwerk Russlands mit vier Reaktoren vom Tschernobyl-Typ liegt 80 Kilometer westlich von St. Petersburg in Sosnowyj Bor, einer Retortenstadt, die ihre Existenz dem Kernkraftwerk verdankt. Seit kurzem ist Sosnowyj Bor mit seinen 63.000 Einwohnern erneut eine geschlossene Stadt, wie in der Sowjetzeit. Ausländer, aber auch Bürger Russlands, brauchen wieder einen Passierschein, um sie betreten zu können, während Journalisten, die das Werk besichtigen oder ein Interview mit dem Direktor machen möchten, von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit in der Regel Absagen erhalten.

Viktor Terjoschkin, Vorsitzender der Petersburger Assoziation der Umweltjournalisten, kann ein Lied davon singen. Die ganze Arbeit dieser Abteilung sei darauf ausgerichtet, sagt Terjoschkin, die Öffentlichkeit nicht zu informieren und kritische Journalisten fernzuhalten. "Und das tun sie auf die raffinierteste Art und Weise. Sie sagen einem Journalisten nie: ?Wir können Sie nicht einladen!' Nein, sie halten ihn mit Ausreden und Lügen hin, bis er es leid ist, anzurufen oder Faxe zu schicken. Denn ihr Hauptziel ist, der Presse keine Informationen zu geben."

Wer sich also über das Kernkraftwerk, das immer noch den Namen Lenins trägt, informieren will, muss sich an die Umweltschützer halten. Die wenigen zuverlässigen Informationen, die überhaupt an die Öffentlichkeit dringen, stammen von "Bellona" und von der "Grünen Welt", einer kleinen Öko-Organisation, die in Sosnowyj Bor ihren Sitz hat und von Oleg Bodrow, einem Kernphysiker, geleitet wird. Doch die Aufklärungsarbeit, die Oleg Bodrow betreibt, ist mühselig. Zum einen kann man ihn nur irgendwo in St. Petersburg treffen, zum anderen ist das Interesse an seinen Informationen gering. Weder in Russland noch in den anderen Ostseeanrainerstaaten weiß man, dass direkt am Finnischen Meerbusen vier graphitmoderierte Reaktoren vom Typ RBMK-1000 stehen, den westliche Experten prinzipiell für unsicher halten, unter anderem, weil er keine schützende Druckhülle besitzt. "Aber für Russland und für die Sowjetunion war dieser Typ von Vorteil, weil in diesen Reaktoren waffenfähiges Plutonium erzeugt wurde", sagt Oleg Bodrow. "Man brauchte seine Bauart nur ein wenig zu verändern, um Turbinen anschließen und Strom erzeugen zu können. Das war ökonomisch sinnvoll, aber an Sicherheit hat man damals nicht gedacht. Deshalb fanden diese Reaktoren in Russland, in der Ukraine und in Litauen weite Verbreitung."

Der älteste der vier Reaktoren in Sosnowyj Bor lieferte am 23. Dezember 1973 den ersten Strom. Er ist nun 30 Jahre alt und müsste abgeschaltet werden. Doch Russland will den Reaktor im Rentenalter noch mindestens zehn Jahre am Netz lassen und möglichst auch die Betriebsdauer der drei anderen Reaktoren verlängern. Oleg Bodrow hält diese Pläne nicht nur für gefährlich, sondern auch für überflüssig, weil die gleiche Energiemenge, die das Werk in den Nordwesten Russlands liefert, nämlich 40-45 Prozent des Bedarfs, bei vernünftiger Nutzung eingespart werden könnte. "Und das ist deshalb so wichtig, weil in den 30 Jahren, in denen das Werk am Netz ist, etwa 4.000 Tonnen abgebrannter Brennstoff angefallen sind, hochradioaktive Abfälle, die soviel Radioaktivität enthalten, wie bei etwa 50 Tschernobyl-Katastrophen zusammen frei würde. In den Abklingbecken neben dem Werk lagern außerdem mehr als 30.000 bestrahlte Brennstäbe, die etwa 20 Tonnen Plutonium enthalten. Aus diesem Plutonium könnte man 3.000 Bomben von der Art bauen, wie sie über Nagasaki abgeworfen wurden. Und bis heute ist das Problem der Entsorgung der Brennstäbe nicht gelöst. Es gibt keine Technologie zu ihrer Wiederaufarbeitung. Nach Ansicht der Fachleute wäre das ökonomisch auch nicht sinnvoll. Das heißt, die russische Gesellschaft muss sich fragen, was mit diesen Abfällen zu tun ist und wer dafür bezahlt, dass sie von der Natur und von allem Lebendigen isoliert werden."

Und noch ein Problem, dem außerhalb Russlands wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, bewegt die "Grüne Welt". Das ist die landesübliche Arbeits- und Produktionskultur. Auch infolge von Schlamperei komme es ständig zu kleineren Störfällen, sagt Oleg Bodrow. "Und sollte es hier, am Ufer der Ostsee, zu einem schweren Unfall kommen, dann betrifft das die Einwohner aller neun Ostseeanrainerstaaten."

Sergej Charitonow, Mitgründer der "Grünen Welt" und Projektleiter bei "Bellona", Autor des soeben erschienenen "Bellona-Berichtes" über das Lenin-KKW ("Das Leningrader Kernkraftwerk als Spiegel der Atomenergie in Rußland"), kennt diese Arbeitsmoral aus eigener Anschauung. Fast 30 Jahre, von 1973 bis zu seiner Entlassung im Juni 2000, hat er im Werk gearbeitet, zuerst im Reaktorraum, später bei den Abklingbecken im Zwischenlager. "Das Lager entspricht nicht nur den europäischen Vorschriften nicht, es entspricht nicht einmal den russischen", sagt Sergej Charitonow. "Gar nichts entspricht dort auch nur annähernd den gesetzlichen Vorschriften. Dort arbeiten Frauen unter gesundheitsschädlichen Bedingungen in Kälte und Schmutz, und die Vorgesetzten machen sich auch noch über sie lustig." Die Temperaturen im Lager liegen bei sechs Grad unter Null. "Ich selbst habe dort schon ohne Schutzkleidung gearbeitet, und so arbeiten sie auch heute noch. Es gibt keine Vollschutzanzüge und keine Schutzbrillen, aber jede Menge Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften. So war es, und so ist es."

Man könnte Sergej Charitonow einen "Nukleardissidenten" nennen, denn fast sein ganzes Berufsleben hat er gegen die Arbeitsbedingungen im Werk gekämpft, Streiks organisiert und Verstöße gegen die Sicherheitsauflagen öffentlich gemacht. Dafür wurde er mehrfach entlassen und - wiedereingestellt. Im vorigen Jahr hat das Oberste Gericht Russlands seine letzte Klage auf Wiedereinstellung abgelehnt. Das hindert den engagierten Mann nicht, weiter nach Mitteln und Wegen zu suchen, um doch noch zu seinem Recht zu kommen, vielleicht beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Ehemalige Kollegen informieren Charitonow auch drei Jahre nach seiner Entlassung noch über Vorfälle im Werk und gehen damit ein hohes Risiko ein. "Das Personal ist durch und durch krank, weil die Arbeitsbedingungen so schlecht sind. Ich bezweifle, dass es so etwas in Europa gibt. In russländischen Kernkraftwerken und auch im Leningrader Werk ist die Frage des kommerziellen Nutzens wichtiger als die der Sicherheit."

Unter Sergej Charitonows Kollegen waren auch Alkoholiker und Drogenabhängige. "Die vorgeschriebenen Gesundheits- und Drogenkontrollen finden nicht statt", sagt er. Doch die Werksleitung scheint all das nicht zu kümmern, und die Gewerkschaft vertritt - wie in der Sowjetzeit - eher die Interessen der Werksleitung als die der Belegschaft. Der Führungsstil der sog. "roten Direktoren" hat sich nur nach außen hin geändert. "Unsere Chefs haben gelernt, wie Hollywood-Stars zu lächeln, Ausländer zu empfangen und gute Anzüge zu tragen. Aber im Innern sind sie die gleichen Sowjetmenschen geblieben, die sie waren, Leute, für die das Leben des Einzelnen nichts wert ist. Das habe ich auf Schritt und Tritt beobachtet."

Doch heute geht es diesen Chefs ausgesprochen gut. Sie fahren teure PKW, reisen ins Ausland und leben in Privathäusern, die der Volksmund von Sosnowyj Bor den "Fünften Reaktorblock" nennt. Auf der anderen Seite sind die Löhne der Arbeiter und Angestellten so niedrig, dass viele einem Nebenjob nachgehen. Bei einem Monatslohn von maximal 300 Euro fahren die einen Taxi, die anderen arbeiten als Wachmänner oder handeln mit Waren, die sie in Petersburg einkaufen und in Sosnowyj Bor weiterverkaufen. "Natürlich wirkt sich das auf die Sicherheit des Kernkraftwerks aus", meint Oleg Bodrow, "weil die Arbeiter sich nicht genügend erholen, sondern ständig damit beschäftigt sind, etwas dazu zu verdienen. Und ein Mensch, der sich nach einem Arbeitstag nicht ausruht, ist auch ein Sicherheitsfaktor."

Um so wichtiger wäre ein Umdenken. Doch statt auf Sparen und erneuerbare Energien setzt Russland auf den Ausbau der Kernenergie, während die Vertreter der Internationalen Atomenergieagentur, die Sosnowyj Bor hin und wieder besuchen, schweigen. Sergej Charitonow nennt ihre Inspektionen "Gabelfrühstücke". "Man trifft sich, unterhält sich angenehm und geht zu Tisch. Und das werfe ich zum Beispiel auch den Finnen vor, die der Verwaltung helfen, die wahre Lage der Dinge im Leningrader Werk zu verschleiern, und die ihre eigene Gesellschaft betrügen."

Zwar hat die finnische Atomaufsichtsbehörde STUK, die seit 1992 eng mit dem Lenin-KKW zusammenarbeitet, bereits 7 Millionen Euro in Sicherheitsmaßnahmen investiert und mehrfach geholfen, Lecks im Zwischenlager, das nur ein paar Dutzend Meter vom Ufer des Finnischen Meerbusen entfernt liegt, zu beseitigen. Doch Sergej Charitonow nennt die Arbeit der finnischen Organisation "negativ", weil die Leitung des Werks und STUK "gemeinsame Interessen" hätten. Finnland kauft einen Teil des Atomstroms aus Sosnowyj Bor und betreibt selbst ein Kernkraftwerk russländischer Bauart ...

Im April 2003 bekam ein amerikanisch-russisches Firmenkonsortium den Zuschlag für den Bau eines Aluminiumwerks 40 Kilometer westlich von Sosnowyj Bor. Ein 1,2 Milliarden-Dollar-Projekt. Der Rohstoff kommt aus Guinea und Neuseeland und wird über den neuen Hafen Ustj-Luga angeliefert. Über Ustj-Luga sollen dann alljährlich 360.000 Tonnen Aluminium exportiert werden, während die Rückstände im Lande verbleiben. Und natürlich sind die Investoren an einer längeren Betriebsdauer der Reaktoren in Sosnowyj Bor interessiert, sie brauchen viel billigen Strom. Unterstützt von der Weltbank und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung wollen die Firmen 400 Millionen Dollar in die Modernisierung eines der Reaktoren stecken...

Oleg Bodrow hält das Projekt für "außerordentlich gefährlich". Aber der Kampf gegen das Vorhaben ist schwer, weil die vorgeschriebenen öffentlichen Anhörungen nur in den kleinen Siedlungen neben dem Standort des geplanten Werks durchgeführt wurden. Hingegen fanden in Sosnowyj Bor, das als Stromquelle dienen soll und das den Emissionen des Werks ausgesetzt sein wird, keine Anhörungen statt. Als der Bürgermeister und der Vorsitzende der Stadtversammlung den Gouverneur des Leningrader Gebiets auf Veranlassung der "Grünen Welt" aufforderten, diese Anhörungen auch in der Stadt durchführen zu lassen, erhielten sie zur Antwort, dass das nicht nötig sei, da das Werk, das überdies "Aluminiumwerk Sosnowyj Bor" heißen soll, im Nachbarbezirk liege.

"Doch die 63.000 Einwohner von Sosnowyj Bor trinken Wasser aus dem Fluss Sísta, der ganze sieben Kilometer vom Werk entfernt fließt", sagt Oleg Bodrow. "Und alle Emissionen, die bei der Aluminiumproduktion frei werden, darunter Fluor und Benzopyren, werden in das Becken dieses Flusses und von da wohl auch in die Wasserhähne von Sosnowyj Bor gelangen. Aber die städtischen Behörden werden dann gar nichts dagegen tun können, weil die Gebietsbürokraten das Projekt für vorteilhaft halten. Sie argumentieren, dass viel Geld ins Budget fließt. Sie wollen also Geld mit der Gesundheit der Menschen verdienen, die neben dieser Fabrik und dem Kernkraftwerk leben. Das wird zu einer sozialen Katastrophe führen."

Und so könnte man meinen, dass die "Grüne Welt" in Sosnowyj Bor nur Freunde hat, weil sie warnt. Doch das ist nicht der Fall. Schließlich kämpft sie gegen den größten Arbeitgeber und Steuerzahler der Stadt. Diese erhält bis zu 80 Prozent ihrer Steuereinnahmen aus dem Kernkraftwerk und hat es bisher nicht verstanden, andere Arbeitsplätze zu schaffen. "Deshalb werden alle, die sich gegen die Kernenergie aussprechen, als Feinde angesehen." Im vorletzten Jahr ist es den Aktivisten der "Grünen Welt" gelungen, den ungesetzlichen Betrieb einer Fabrik zur Verarbeitung radioaktiver Metalle zu stoppen, die ohne staatliches Umweltgutachten auf dem Gelände des Leningrader Kernkraftwerks gebaut wurde. Doch zum gleichen Zeitpunkt wurde Oleg Bodrow überfallen und musste ins örtliche Krankenhaus eingeliefert werden. "Die Miliz hat nicht sehr effektiv nach den Tätern gesucht, und die Schuldigen wurden nicht gefunden. Aber wir setzen unseren Kampf gegen diese ungesetzlichen Handlungen fort. Natürlich ist das nicht so einfach."

Auch Alexander Nikitin, der "Bellona"-Chef in St. Petersburg, spricht von einer "prinzipiell problematischen Beziehung" des Staates zu den Nichtregierungsorganisationen. Man gebe ihnen ständig zu verstehen, "dass wir niemand sind, dass wir nichts erreichen können und dass wir überflüssig sind, obwohl das aus dem Munde des Präsidenten ganz anders klingt. Und diese feindselige Einstellung uns gegenüber spüren wir ständig."

Die zivile Gesellschaft, von der auch Präsident Wladimir Putin gerne spricht, steckt eben immer noch in den Kinderschuhen, und Putin hat bisher alles dafür getan, dass es so bleibt. Wer den starken Staat proklamiert, braucht keine zivile Mitverantwortung und auch keine zivile Kontrolle. Der starke Staat kontrolliert sich selbst. "Der Grad der persönlichen Verantwortung lässt sich in unserem Land praktisch nicht kontrollieren", sagt Alexander Nikitin. "Man findet nie einen Schuldigen, und es leidet auch nie jemand wegen eines tragischen Fehlers. Die ?Kursk' ist untergegangen, der Oberkommandierende der Flotte ist Senator in Moskau geworden, der Stabschef hat auch Karriere gemacht. Das ist alles. Niemand ist schuld. Genauso ist es überall. Wenn im Leningrader Kernkraftwerk etwas passiert, was Gott verhüten möge, dann wird eine Kommission gebildet, und die findet bestenfalls einen Reaktorfahrer, der einen Fehler gemacht hat. Aber das Problem ist nicht das Bedienungspersonal."

Das Problem ist die Einstellung. Die Gleichgültigkeit. Die Straflosigkeit. Und die Arroganz der Funktionsträger. Als die angesehene Petersburger Zeitung "Tschas pik" Ende November 2003 erneut Diebstahl von Ausrüstung und Material in großem Umfang aus dem Werk meldete, verlautete aus der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, die Werksleitung werde bis Jahresende keinerlei Auskunft erteilen. Statt dessen feierte sie pompös den 30. Geburtstag der Anlage.

Auch der "Bellona"-Report (www.bellona.org) bestätigt langjährige Diebstähle, die "ohne die Beteiligung des leitenden Personals nicht möglich sind." Ein Sprecher des Moskauer Ministerium für Atomenergie hat Charitonow denn auch einen "Lügner" und die "meisten Informationen" des "Bellona"-Reports "unbegründet" genannt. Immerhin konnte Sergej Charitonow seine Beobachtungen Ende Januar dem Umweltausschuss des finnischen Parlaments vortragen. Der Ausschuss will sich nun für die Schließung des ersten Blocks in Sosnowyj Bor einsetzen. Überdies haben zwei finnische Europa-Abgeordnete die Europäische Kommission aufgefordert, Stellung zum Leningrader Kernkraftwerk zu nehmen. Man darf gespannt sein, ob Brüssel konsequent bleibt. So mussten die Litauer sich verpflichten, das Kernkraftwerk Ignalina, in dem zwei (nachgebesserte) Reaktoren vom Typ RMBK-1000 am Netz sind, bis 2009 zu schließen. Andernfalls wäre Litauens EU-Beitritt gefährdet gewesen. Den Russen gegenüber hat Brüssel derlei Druckmittel nicht in der Hand.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.