Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 18 / 26.04.2004
Jürgen Lodemann

Erinnerungen an die wilhelminische "Verbreitung deutschen Wesens"

Die Deutsche Bahn will beim Bau der Bagdadbahn kooperieren

Kürzlich versprach Bahnchef Mehdorn in Ankara, der Türkei beim Wiederaufbau der berühmten Bagdadbahn helfen zu wollen. Die legendäre Bagdadbahn zu reaktivieren, scheint nicht nur eines der Signale zu sein für ein erweitertes liberales Europa und für eine Brücke zur islamischen Welt: Mit dieser Bahn verbinden sich auch Erinnerungen an den Beginn der europäischen Übel im 20. Jahrhundert, diese Bahn gehörte zu den frühen Ursachen des Doppelweltkriegs.

Die Idee, eine Bahn zu bauen, die nicht nur wie der "Orient-Express" bis nach Istanbul fuhr, sondern tief in den Orient hinein, reicht zurück in die europäischen Machtverteilungen des 19. Jahrhunderts, in das Aufstreben des Wilhelminismus. In Deutschland jedenfalls wurden diese Pläne von denkwürdigen Kommentaren begleitet. Das Auswärtige Amt in Berlin bekundete, da ginge es nicht nur um die Erschließung neuer "Absatzgebiete", sondern auch um "die Verbreitung deutschen Wesens". Ein Siegmund Schneider erklärte 1904 in seinem Werk "Die deutsche Bagdadbahn": "Kaum 30 Jahre, nachdem der Suezkanal Gottes Schöpfungswerk verbessert hat, ist dies wiederum revolutionierend, die Wiedergewinnung des Weges nach Indien durch den modernen Lokomotivbetrieb. Ob Türke oder Christ, jeder fühlt instinktiv, dass das Bestehende im Oriente nur wert ist, dass es zugrundegeht."

Anatolien sollte von deutschen Bauern zur blühenden Landschaft kultiviert werden, gegen "alles Mohamedanische". Kaiser Wilhelm II., der damals Jerusalem besuchte und sich als "Kaiser von Palästina" feiern ließ, ging es auch um jene Bahn, die über das Heilige Land und Bagdad hinaus bis nach Indien reichte. Schon in ihm rumorten Ideen vom arischen Großreich. Türkenbeherrscher Sultan Abdul Hamud erklärte, er sei "mit dem deutschen Kaiser der Überzeugung, dass allein die Religionen die Grundlagen des Gehorsams und damit des Glücks der Völker sind".

Im September 1900 befahl der Kaiser den Bau. Geld und Logistik organisierten Siemens und die Deutsche Bank, die Bauausführung lag bei Philipp Holzmann. Franzosen, Engländer und Russen beobachteten das Unternehmen mit Misstrauen, das Reich jedoch sah sich als Weltmacht, die nicht nur zur See, sondern nun auch zu Lande über sich hinaus wuchs. D.H. Lawrenz schildert anschaulich, wie er als Spion den Brückenbau der Deutschen am Euphrat beobachtet und verspottet.

Früh und wild wurde da geträumt, auch in einem Lexikon, und schon von "Anschluss". Aber die "Lücke im Taurus" hatte es in sich. Das war eine schwierige Passage und obendrein machten nun die "Jungtürken" Probleme. Es wurde gestreikt "für menschlichere Behandlung" der Arbeiter. "Wir stehen vor Umwälzungen", schrieb ein Pfarrer in die Heimat. Der Mann sollte Recht behalten: Es kam der Weltkrieg, der Bahnbau stagnierte und erst 1940 fuhr ein Express durchgehend bis Bagdad. Die französische Schlafwagengesellschaft "Wagon Lit" bot viel gelobten Service, aber der neue Krieg beendete auch diese kurze Blütezeit.

Wer heute die Strecke finden und fahren will, muss Regionalzüge kombinieren. Ich habe das fürs Fernsehen gefilmt und beschrieben*). Wer die Türkei jenseits von Istanbul und Strand-Tourismus kennenlernen will, dem sei diese Fahrt sehr empfohlen. Man durchquert eine faszinierende Landschaft, nicht nur den Taurus, findet Reste uralter Kulturen - zum Beispiel eine der ältesten menschlichen Siedlungen überhaupt, Chatalhuejuek - und berührt im Inneren des anatolischen Hochlands die Millionenstadt Konja, Wallfahrtsort und Zentrum eines Islam der Weisheit und der Toleranz.

Die Bahn fährt über eine einmalige historische Strecke. Kreuzritter, nachdem sie Byzanz erobert hatten, zogen dort entlang. Die Strecke beginnt in Istanbul auf der asiatischen Seite, im Bahnhof Haidarpasha und nutzt zunächst die Linie, die Istanbul mit Ankara verbindet. Mit wechselndem Panaromablick folgt der Zug der Küste des Marmarameers, die Strecke ist hier doppelspurig, elektrifiziert und führt schon jetzt von Ort zu Ort an antike Stätten: zu den Grabmalen Belizars oder Hannibals, berührt Hereke, wo Konstantin der Große starb, und das antike Nikodemia, heute Izmit.

In Izmit fährt die Bahn auf einem belebten Boulevard über einen kaum abgesicherten mittleren Grünstreifen. Hinter Izmit aber verlässt sie die Strecke nach Ankara und steigt einspurig bergauf durchs breite Tal des wasserreichen Sakkariastroms. Bei Eskeshehir kommt der Zug in gut 1.000 Metern Höhe auf die weite Hochfläche Anatoliens, wo ebenfalls für Modernisierungen genügend Platz wäre in einem - auch ohne deutsches Bauernwesen - blühenden, ertragreichen und schönen Agrarland. Der zweite europäische Kreuzzug, (1147-1149) scheiterte hier.

Heutzutage kann es durchaus sein, dass der Diesel die steile Strecke nach Eskeshehir nicht schafft, weil die Schienen feucht sind und rutschig oder zu viele Tonnen hinten angehängt wurden, wenn wieder einmal militärisches Gerät ins Kurdische transportiert werden soll.

Um so angenehmer nun aber die Weite und Schönheit der anatolischen Ebene. Hier sind die Bahnhofshäuschen "ordentlich" deutsch gemauert, just so wie auf der Schwarzwaldstrecke zwischen Offenburg und Konstanz. Die Bahn passiert in rund 1.000 Metern Höhe pittoreske Felsenwohnungen, so wie sie Karl May in seinem Kara-Ben-Nemsi-Buch "Von Bagdad nach Stambul" beschrieb. Mag sein, der Autor hatte seine Kenntnisse von jenen, die als Ingenieure die Trasse schon bereist und vermessen hatten.

Auf der Hochebene kommt man zur alten Handelsstadt Afyon mit seiner mittelalterlichen Altstadt am felsigen Burgberg. Afyon ist Zentrum des Anbaus von Mohn und "Afyon" heißt denn auch "Opium". Alsdann folgt zum Beispiel die Station "Cay" ("Tee") mit einem Bahnhof, dessen Inneneinrichtung noch aus wilhelminischen Zeiten stammt und wo freundliche Beamte mahnen, man solle hier nicht versäumen, Marco Polos Straße zu besuchen, Reste der alten Seidenstraße. Die sind in der Tat eindrucksvoll. Eine bogenreiche Brücke aus großen schwarzen und weißen Marmorblöcken führt über ein sumpfiges Gelände, die marmornen Steine zeigen immer wieder antike Gravuren, auch Kreuze. Hier wurden offensichtlich frühchristliche Baureste genutzt, um eine Handelsstraße zu befestigen. Darüber klagte vor 1914 auch die Bauverwaltung der Bagdadbahn: Die türkischen Bauern, aufgefordert, Material für den Trassenbau zu liefern, brachten immer mal wieder Reste aus "antiken Ruinen". Viele Schichten Geschichte berührt diese Bahn und zeugt doch auch vom Modernisierungswillen des Türkeigründers Atatürk, der erklärte: "Eisenbahnen garantieren den Weg in die Zivilisation." An einem grünen Hügel sieht man eine Schrift, ausgelegt mit weißen Steinen ins Grüne: "Oku Okut", frei übersetzt: "Lernt und lehrt lesen."

Bei einem Halt auf freier Strecke mischt sich auf unserem Tonband das Hupen der Lok mit dem Gesang der Nachtigallen. Hier oben, so höre ich von den mitteilsamen Fahrgästen, habe sich nach der Sintflut Noah niedergelassen und habe Konja gegründet. In Konja lockt das Kloster der tanzenden Derwische. Von Atatürk als Museum gedacht, ist es heute der Wallfahrtsort eines Islam der Freundschaft und der Weisheit, gegründet im 13. Jahrhundert vom Liebesmystiker Mevlana: "Links und rechts von uns hat die Trennung Fallen gestellt. Du Mensch, du bist das Buch Gottes. Was du suchst, liegt in dir. Ob du Jude bist oder Muselmane, ob Brahmane oder Christ, unsere Tür ist offen für alle."

Südlich Konja ist links ein unscheinbarer grüner Hügel, und wie wohl alle sanften Hügel in dieser Ebene birgt auch er eine alte Siedlung, in diesem Fall die älteste, Chatalhuejuek, wo man die berühmte "Urmutter" fand, mit großen Brüsten und schweren Hüften. Ab Eregli nimmt die Bahn entschlossen Kurs nach Süden, in den alpenhohen Taurus hinein. Die Strecke wird nun abenteuerlich, "die Wände der engen Schlucht stiegen steil an" (Karl May). In einem Seitental ertrank hier am 10. Juni 1190 beim Baden Kreuzfahrer Friedrich I., genannt Rotbart oder Barbarossa, und oben in den Bergen, erreichbar nur über die Bahn, finden wir eine 104-Jährige, die noch Erinnerungen an die Bahnbauer hat. Sie und ein anderer Alter erzählen, wie hier das 20 Kilometer lange Tunnelsystem entstand, wie da von beiden Seiten eine deutsche Ingenieurin und ein Ingenieur aufeinander zu hacken und arbeiten ließen und dass die beiden sich erst heiraten wollten, wenn sie einander im Berg exakt getroffen hätten. Sieben Jahre habe das gedauert. Und auch von Anton, dem Maschinisten, erzählen sie, der als erster über die riesige Brücke gefahren sei, weil sein türkische Kollege sich geweigert habe. Anton dagegen habe auf die Einweihungsfahrt sogar seine Familie mitgenommen. Von dieser Brücke sei beim Bau ein Deutscher abgestürzt und habe noch im Todessturz "Aufgepasst" geschrien, "Warda!". Seitdem heißt dieses imposante Bauwerk "Warda-Brücke".

In einsamer Taurushöhe finden wir Ruinen von Steinhäusern. Ein Krankenhaus hätten die Deutschen sich gebaut, höre ich, auch ein Restaurant und ein Kino. "Nur die Deutschen durften da hinein", die hätten gelebt "wie im Paradies", erzählt man uns.

Vom Taurus führt die Strecke hinunter zur Großstadt Adana. Die Bahn hält hier immer einen Abstand von 50 Kilometern zum Mittelmeer - geschützt vor den Schiffsgeschützen der englischen Flotte. Hinter Adana geht es durch ein gut bewässertes Tiefland, Baumwollfelder, viele Burgen stehen hier. Gebaut für die Kreuzritter? Oft haben sie nicht einmal Namen und niemand hier weiß mehr, warum hier all diese Burgen stehen. Dann wieder ein schwieriger Anstieg, diesmal nach Ost-Anatolien. Per Bahn fährt man in drei Tagen von Istanbul bis an die irakische Grenze. Ein Bus schafft die Strecke in zehn Stunden, ist aber auch zehnmal so teuer.

In Gazianthep ein labyrinthischer Bazar. Der Millionär Sabanci erklärt uns, warum er nie mehr Bahn fahre und die Bahn nie mehr als Transportweg nutzen werde: Die biete keinen Service, und drei Tage, das sei einfach zu langsam. Hinter Gazianthep Wüstenlandschaft, immer biblischer und immer kurdischer wird das hier. Unter Lehmkuppeldächern kühle Wohnungen, und dann, am breiten Euphrat, wo man die ältesten Schriftzeichen fand, ein 3.000 Jahre alter Wachhügel über der versunkenen Hauptstadt der Hethiter. Die Bahn quert unter dem Hügel den Strom und fährt, von nun an militärisch bewacht, an den Grenzen Syriens und Iraks entlang, bis Urfa. Früher ging es schon über Aleppo nach Syrien, aber die Unruhen, die Kurden, die Politik.

Als moderne Schnellbahn mit regionalem Ausbau würden nicht nur Tourismus und Ökonomien blühen, sondern sie wäre eine wunderbare Hilfe bei der Annäherung der Türkei an den Westen, so wie Atatürk sie erstrebte und wie das ein von Karl May gerügter "Pharisäerhochmut" blockiert hat, jene "Trennung", die uns laut Mevlana "Fallen stellt". Jürgen Lodemann

* Den 60-Minuten-Film "Die Bagdadbahn" (1987) gibt es als VHS-Video beim SDR Baden-Baden/Stuttgart, das gleichnamige Tagebuch der Filmreise, mit Karte und Fotos, bei der edition isele, Eggingen, beides vom Autor des Artikels.

Jürgen Lodemann ist Schriftsteller und zurzeit Writer in Residence an der University of Florida.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.