Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 18 / 26.04.2004
Stefan Laurin

300.000 Deutsche arbeiten schon unter einem türkischen Chef

Die Businessmen vom Bosporus
Ob in Gelsenkirchen-Ückendorf, Berlin-Kreuzberg oder im Frankfurter Gutleutviertel: Türkisches Unternehmertum prägt ganze Stadtteile. Doch längst gibt es türkische und türkischstämmige Geschäftsleute, die mehr wollen, als Döner zu servieren und preiswertes Gemüse zu verkaufen.

Esref Ünsal ist nicht zufrieden: "Die Lohnnebenkosten sind zu hoch und gefährden unsere Wettbewerbsfähigkeit. Wenn sich in dieser Beziehung nichts ändert, sind wir nicht mehr wettbewerbsfähig, vor allem, wenn am 1. Mai die EU erweitert wird." Der Standort Deutschland hat für den Chef eines Düsseldorfer Bauunternehmens mit Tochterfirmen in der Türkei nur eine Chance, wenn das Land bereit ist, sich zu wandeln: "Wir müssen mehr arbeiten und neuen Technologien gegenüber offener werden. Ich hoffe, dass Deutschland das erkennt. Ansonsten wird der Wohlstand, an den wir uns gewöhnt haben, nicht zu halten sein."

Der 60-jährige Diplomingenieur, der 1961 zum Studium nach Deutschland kam, ist Chef eines europäischen Unternehmerverbandes. ATIAD e.V. vertritt die Interessen türkischer und türkischstämmiger Unternehmen, und die meisten von ihnen haben ihren Sitz in Deutschland: Von 80.000 Unternehmen innerhalb der Europäischen Union, die von Türken geführt werden, sind 60.000 in Deutschland tätig. Und zu den Problemen, über die sich alle Unternehmer beklagen, kommen noch spezifische hinzu: "Wenn sie mit einem türkisch klingenden Namen zu einer Bank gehen und über die Finanzierung von Projekten reden wollen, können Sie das vergessen." Nur ein Prozent aller türkischen Unternehmer verfügen beim Start über die Unterstützung einer Bank. Das hat zwar, so Ünsal, den Vorteil, dass die Unternehmen nicht mit Schulden starten, bedeutet aber auch, dass vielen wegen der eklatanten Unterkapitalisierung schnell die Luft ausgeht. Der Kapitalmangel sei auch ein Grund dafür, dass viele Türken sich in Branchen selbstständig machen, die nur geringe Investitionen benötigen: "Einen Döner-Imbiss oder eine Schneiderei zu eröffnen", so Ünsal, "ist mit wenig Kapital einfacher, als einen Handwerksbetrieb aufzubauen oder im produzierenden Gewerbe Fuß zu fassen."

Für Recep Keskin gibt es noch weitere Gründe für die Probleme türkischer Selbstständiger: "Viele Türken sind schlecht qualifiziert und gründen aus der Arbeitslosigkeit heraus. Die Quote der türkischen Abiturienten und Studenten liegt weit unter der von anderen Ausländergruppen wie beispielsweise der Griechen. Darin spiegeln sich die Probleme des Bildungsstandortes Türkei wieder." Wie könnten, fragt Keskin, Eltern ihren Kindern in Deutschland bei den Schulaufgaben helfen, die in der Türkei gerade einmal ein paar Jahre eine überfüllte Grundschule besucht hätten?

Positivere Einstellung

Doch auch nach allen Problemen ist Recep Keskin optimistisch, was die Perspektiven türkischstämmiger Unternehmer in Deutschland betrifft: "Langsam, aber sicher werden sie zu einem immer wichtigeren Wirtschaftsfaktor und engagieren sich in immer mehr Branchen." Längst gäbe es zahlreiche türkische Anwälte, Designer und sogar Eisdielenbesitzer. "Wie alle Südeuropäer haben auch Türken eine viel positivere Einstellung zur Selbstständigkeit als die meisten Deutschen. Für viele von ihnen ist es ein Traum, der eigene Chef zu sein und ein Unternehmen aufzubauen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind sie auch bereit, für viele Jahre auf vieles zu verzichten, Risiken einzugehen und sehr hart zu arbeiten. Das sind Eigenschaften, die Deutschland braucht, um wirtschaftlich wieder nach vorne zu kommen, und die die Deutschen von uns Südeuropäern übernehmen sollten." Keskin selbst ist Inhaber des Betonfertigteilwerks Mark. In das Unternehmen mit Stammsitz in Gevelsberg ist der Bauingenieur, der auch eine Professur an der Hochschule Anhalt in Dessau hat, Ende der 80er-Jahre eingestiegen.

Aus einem Kleinbetrieb mit sechs Mitarbeitern ist mittlerweile ein mittelständisches Unternehmen mit mehr als 150 Mitarbeitern und einem Zweigwerk in sachsen-anhaltinischen Gommern geworden. "Ich kam Mitte der 90er nach Gommern, um dort zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Das schützte mich allerdings nicht vor der massiven Ausländerfeindlichkeit, die ich nirgendwo so deutlich gespürt habe wie in den neuen Ländern." Dort hätte man sich zwar über sein Geld gefreut, ihn aber auch spüren lassen, dass man einen Türken als Chef nicht akzeptieren würde. Mittlerweile hat sich Keskin weitgehend aus Gommern zurückgezogen. Auch Esref Ünsal bestätigt, dass der Osten nicht nur für türkische Unternehmer ein schwieriges Terrain ist: "Niemand investiert, wo es für ihn gefährlich sein kann, abends auf die Straße zu gehen." Ausländerfeindlichkeit gäbe es zwar immer wieder und sie wäre auch in Westdeutschland ein Problem. Aber: "In den neuen Ländern ist sie deutlich stärker."

Immerhin 300.000 Deutsche arbeiten mittlerweile für Unternehmen, deren Chef Türke ist, und ihre Zahl könnte noch deutlich steigen. "Wir schätzen", so Ünsal, "dass die Zahl der deutschen Beschäftigten bis 2010 auf eine halbe Million steigen kann, wenn sich das wirtschaftliche Klima nicht eklatant verschlechtert." Auch eine europäische Perspektive gehört zu den Grundlagen, die für die Zukunft türkischer Unternehmer wichtig sind. "Viele Deutsche lassen sich einreden, dass nur ungebildete Bauern aus Anatolien kommen, wenn die Türkei in die EU aufgenommen wird, und die dann nichts Besseres zu tun haben, als die deutschen Sozialsysteme zum Zusammenbruch zu bringen," beschreibt Esref Ünsal die Sicht vieler Deutscher. "Wenn die Türkei der EU beitritt, wird es noch lange dauern, bis die Türken in den vollen Genuss der Freizügigkeit kommen. Aber von Anfang an werden sich türkische Unternehmer in Deutschland engagieren. Davon werden Deutschland und die Türkei gleichermaßen profitieren." Im Augenblick sei es auch für türkische Unternehmer problematisch, sich in Deutschland zu engagieren: "Ich kenne Fälle, wo ein türkisches Unternehmen in Deutschland investierte, die Manager aber kein Visum bekamen, um sich ihren Betrieb anzuschauen."

"Die Türkei würde der EU dabei helfen, den gesamten mittelasiatischen und nahöstlichen Markt zu erobern. Das sind Chancen, die sich Europa nicht entgehen lassen darf." Sollte sich jedoch herausstellen, dass die Türkei keine Chance hätte, in die EU aufgenommen zu werden, würde dies das unternehmerische Engagement vieler Türken massiv dämpfen. Esref Ünsal: "Man gründet kein Unternehmen an einem Ort, an dem man nicht gewollt ist."


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