Das Parlament
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Nr. 20 / 10.05.2004

"Wir sitzen alle in einem Boot"

Interview mit Doris Ahnen, Präsidentin der KMK
Doris Ahnen (SPD), ist seit Mai 2001 Ministerin für Bildung, Frauen und Jugend des Landes Rheinland-Pfalz. Die Politikerin (39) hat jetzt den Vorsitz der Kultusministerkonferenz (KMK) übernommen. Die Fragen stellte Jutta Witte.

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Der im vergangenen Dezember vorgelegte Bildungsbericht hat einen weiten Handlungsauftrag an die Kultusminister formuliert. Wo sehen Sie in Ihrer Amtszeit den Schwerpunkt?

Doris Ahnen Der Schwerpunkt liegt in diesem Jahr sicherlich im Bereich der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung von Schule. Wir haben ja bereits erste Bildungsstandards in Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache für den mittleren Schulabschluss verabschiedet. In diesem Jahr sollen in diesem Bereich die Naturwissenschaften folgen und gleichzeitig Standards für die Grundschule und den Hauptschulabschluss verabschiedet werden.

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Wer kontrolliert, ob die Länder die Standards auch erfüllen?

Doris Ahnen Zunächst einmal: Die ersten Standards, mit denen die Schulen derzeit vertraut gemacht werden, sind für jedes Land verbindlich und alle Länder sind dabei, sie umzusetzen. Wir haben aber von Anfang an gesagt, dass Qualitätsentwicklung wissenschaftliche Begleitung braucht. Diese Aufgabe soll das "Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen" übernehmen, das den Ländern beratend zur Seite steht und noch in diesem Jahr mit seiner Arbeit beginnen soll. Außerdem laufen schon jetzt die Vorbereitungen für einen weiteren Bildungsbericht, den Bund und Länder 2006 gemeinsam vorlegen wollen.

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Der erste Bildungsbericht kritisiert unter anderem das schlechte Lernklima an deutschen Schulen. Wäre hier nicht ein Punkt, an dem man auch mit mehr Verbindlichkeit wie bei den Standards einhaken müsste?

Doris Ahnen Sicher. Aber das ist ein Problem, dass Sie nicht über Standards lösen können. Dennoch gibt es da Ansatzpunkte: Zu einem guten Schulklima gehört beispielsweise, dass alle Schülerinnen und Schüler sich angenommen fühlen mit ihren unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen, und dass sie Raum bekommen, selbst tätig zu werden. Wir haben nach wie vor noch zu oft einen stark lehrerbezogenen Unterricht. Insofern glaube ich, dass das Arbeiten an besseren Ergebnissen auch mit der Frage zusammen hängt, wie in Deutschland gelernt wird.

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Sie werben dafür, die Schnittstellen zwischen den einzelnen Bildungsstufen zu verbessern. Worum geht es ihnen dabei?

Doris Ahnen Im Kern geht es mir darum, dass wir mehr vom Kind ausgehen und weniger von der Institution. Kinder und Jugendliche sollten die Übergänge zwischen den einzelnen Bildungsetappen von der Kindertagesstätte bis zum Beruf nicht als Hürde erleben sondern als fließende Entwicklung.

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Was heißt das konkret?

Doris Ahnen Das heißt, dass die Bildungskonzepte von Kindertagesstätte und Grundschule besser aufein-ander abgestimmt werden, dass wir die Diskussion zwischen Grundschule und weiterführender Schule intensivieren müssen, und dass es gemeinsame Projekte zwischen Schulen und Hochschulen schon während der Schulzeit geben muss genauso wie Möglichkeiten zur Berufsorientierung in der Schulzeit. In Rheinland-Pfalz läuft gerade ein Projekt, da gehen sogar Kindergartenkinder in die Betriebe und können sehen: Was macht überhaupt ein Maurer, eine Schreinerin oder ein Steinmetz?

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Bleiben wir bei Rheinland-Pfalz. Der Landtag hat gerade ein neues Schulgesetz verabschiedet. Wie sichern Sie hier das Qualitätsmanagement ab?

Doris Ahnen Indem wir den Schulen mehr pädagogische und organisatorische Selbstständigkeit einräumen und sie gleichzeitig verpflichten, ihre Leistungen regelmäßig zu überprüfen - durch externe und interne Evaluation.

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Wie wollen Sie die Leistungen der Schulen transparent machen?

Doris Ahnen Wir haben zum Beispiel im vergangenen Herbst begonnen, alle Viertklässler in allen Grundschulen Vergleichsarbeiten in Mathematik und Deutsch schreiben zu lassen. Jede Schülerin, jeder Schüler und jedes Elternteil konnte daraufhin eine Rückmeldung über die Kompetenzen bekommen, die das Kind erworben hat. Das Klassenergebnis konnte innerhalb der Schule verglichen werden, und die Schule kann ihre Ergebnisse mit einem Landesergebnisvergleichen - unter fairer Betrachtung ihrer jeweiligen Rahmenbedingungen.

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Sie vertrauen im neuen Gesetz ganz auf die Bildungsstandards. Sind Lehrpläne verzichtbar?

Doris Ahnen Wir haben das im Vorfeld lange diskutiert. Ich wollte kein Schulgesetz verabschiedet sehen, das durch die Festschreibung von Lehrplänen mitten im Entwicklungsprozess der Standards, die ja eine große Chance sind, diese Entwicklung praktisch ausbremst. Zunächst bleiben die Lehrpläne in Kraft, werden aber auf die Bildungsstandards hin fokussiert. Ich möchte, dass wir mehr Freiheit bekommen für die einzelne Schule.

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Warum verzichten Sie anders als die meisten Bundesländer auf ein Abitur nach zwölf Jahren?

Doris Ahnen Wir haben in Rheinland-Pfalz eine besondere Situation. Hier machen alle Schülerinnen und Schüler das Abitur seit 2002 nach zwölfeinhalb Jahren - und sind zum 31. März fertig. Damit haben wir jetzt schon für rund 30.000 Abiturientinnen und Abiturienten einen Zeitgewinn erreicht. Wir haben uns damals für diesen Weg entschieden, weil wir wissen, dass eine größere Anzahl von Schülerinnen und Schülern sicher Probleme hat, das Abitur nach zwölf Jahren zu machen. Und: Wir wollen die Durchlässigkeit erhalten und gleichzeitig eine möglichst hohe Abiturientenquote sichern.

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Sie haben sich in Rheinland-Pfalz als erstes Bundesland ein flächendeckendes Angebot an Ganztagsschulen zum Ziel gesetzt. Welche Erwartungen knüpfen sie an diese Schulform?

Doris Ahnen Die Ganztagsschule ist sicher kein Allheilmittel, aber sie gibt auf viele Probleme, die PISA deutlich gemacht hat, eine gute Antwort. Eine Ganztagsschule hat mehr Zeit für eine differenzierte Förderung sowohl schwacher als auch leistungsstärkerer Schüler. Nehmen Sie die bei PISA in Deutschland festgestellte hohe Abhängigkeit der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs vom sozialen Hintergrund. Es liegt auf der Hand, dass man sich bemühen muss, über die Schule erweiterte Angebote zu machen auch für Kinder, die schlechtere Startbedingungen haben - etwa für Kinder mit Migrationshintergrund. Das tut die Ganztagsschule. Und sie bietet die Chance, neue Lernformen mutig zu erproben.

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Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Wann, glauben Sie, hat das deutsche Bildungssystem im internationalen Vergleich aufgeholt?

Doris Ahnen Niemand darf sich einbilden, das funktioniere von einem Tag auf den anderen. Bei Umsteuerungsprozessen, wie wir sie jetzt in Angriff genommen haben, rechnen Experten mit fünf bis zehn Jahren, bis sich Erfolge zeigen. Das ist auch meine Einschätzung. Wichtig ist, dass sich das Bewusstsein bei allen Beteiligten deutlich geschärft hat. Die Verantwortung wird nicht mehr nur beim anderen gesucht, sondern Politik, Schulen, Lehrkräfte, Kinder und Eltern wissen: Wir sitzen alle in einem Boot.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.