Jagdszenen überall. Bundesbankpräsident Ernst Welteke muss nach einer Hatz im Blätterwald wegen einer nicht selbst bezahlten Hotelsause seinen Hut nehmen: Mutet eine derart drastische Konsequenz nicht völlig unverhältnismäßig an? Philipp Jenninger und Martin Hohmann werden von ihrer Partei von der Bühne verbannt (letzterer wird sogar ausgeschlossen), nachdem sie wegen antisemitisch interpretierbarer oder missverständlicher Reden ins mediale Fadenkreuz geraten waren. Die Kanzlergattin beschwert sich, weil Fotografen ihr Privathaus belagern.
Beispiele dieser Art sind Legion. Viele Fragen aus dem Zuhörerkreis an Jürgen Engert zielen in diese Richtung: Treiben es die Journalisten inzwischen nicht zu bunt mit den Politikern, sind bei den Medien die Sitten nicht verwildert, fallen nicht zusehends die Hemmschwellen? Es sei für die Medien und deren Publikum offenbar "reizvoll, wenn jemand von da oben geschlachtet wird". Da würden doch Personen "hingerichtet", heißt es einmal. "Jagdfieber? Journalisten und Politiker in der Berliner Republik" lautet das Thema des Abends, zu dem die Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen Jürgen Engert eingeladen hat, den Gründungsdirektor des ARD-Hauptstadtstudios.
Es wird viel geschossen, sprachlich natürlich. Auch Engert hantiert mit diesem Bild, wenn er etwa sagt, für die Politiker seien Medien eine Plattform, von der aus sie "mit Platzpatronen feuern, bis Sendeschluss ist". Diese Formulierung setzt sich von der verbreiteten Auffassung ab, Journalisten seien die Jäger und Politiker das wehrlose zu erlegende Wild. Der TV-Mann spart keineswegs mit Kritik an seiner Zunft, in deren Reihen er etwa eine wachsende Neigung zur Missachtung der Privatsphäre von Politikern konstatiert. Doch wer hetzt eigentlich wen in der "Berliner Republik", wer bringt wen zur Strecke? Engert schaut hinter die vordergründige Wahrnehmung: Ja, man könne von "Jagdfieber" sprechen, "doch Journalisten und Politiker sind gemeinsam unterwegs, um ein gemeinsames Ziel zu treffen" - nämlich die Bürger, das Publikum.
Aufmerksamkeit provozieren: Ist das die Jagdtrophäe? Publicity beim potentiellen Wähler durch öffentliche (Selbst-)Inszenierung für die einen? Und für die andern gilt: sich durchsetzen im medialen Konkurrenzkampf durch knallige Personalisierung der Berichterstattung? TV-Quoten, Auflagenzahlen und Anzeigenerlöse machen schließlich Druck. Motto: Morgen treiben wir die nächste Sau durchs Dorf. Engert blickt nicht nur auf dieses hektisch-aufgeregte Hin und Her im Politik- und Medienbetrieb. Er ordnet dieses Phänomen vielmehr ein in tiefe gesellschaftliche und politische Umwälzungen, "eine Zeitenwende", die eben auch das Verhältnis zwischen Medien und Politik nicht unberührt lassen.
Engert ortet einen Zustand der "Verwirrung", der "Verunsicherung", der "Unübersichtlichkeit", bei Politikern, bei Journalisten, beim Volk. Globalisierung, Massenarbeitslosigkeit, Biowissenschaften mit weitreichenden individuellen und gesellschaftlichen Folgen, außenpolitische Verwerfungen: All das führt zu einer Zäsur: Jedenfalls ist für den Medienprofi die Biederkeit, die Gemütlichkeit der "Bonner Republik" mit ihren vergleichsweise festen sozialen und politischen Strukturen vorbei: "Der Abwicklung Ost folgt die Abwicklung West." Das Zeitliche gesegnet hat auch die "formierte Gesellschaft" aus Politik und Journalismus aus der rheinischen Ära: zwar keine Kumpanei zwischen beiden Seiten, doch ein System mit ungeschriebenen Konventionen - etwa der Nichtveröffentlichung von Hintergrundgesprächen oder der Respektierung des Privatlebens von Promis.
Und nun die "Zeitenwende", den die neue Hauptstadt sozusagen auf den Nenner bringt: Berlin als "wirkliche, als große Stadt mit ihrer Unordnung und unstrukturierten Vielfalt" repräsentiere, so Engert, das gesamte Land in seinem gegenwärtigen Zustand - "und drückt die Verwirrung von Politik und Gesellschaft aus". Nebenbei erläutert er die Ursache des enormen Runs von Nachwuchsjournalisten in dieses Metier: Für junge Leute sei nun mal Berlin als Stadt ohne soziale Kontrolle attraktiv und spannend.
Die Politik, die Sache, irrt umher, hat kein klares Ziel. Wohin soll die Reise gehen? Man weiß es nicht. Die Flinten schießen nicht präzise, wohin denn auch, sie streuen, und der Schütze hofft, irgendwas zu treffen. In dieser aufgelösten Situation "schieben sich die Personen vor die Sache", lautet Engerts Befund. Die Präsentation wird wichtiger als der Inhalt. Heute will der Politiker Ansehen, Wählergunst, politische Legitimation durch Inszenierungen und Selbstinszenierungen auf der Medienbühne erringen. Der TV-Mann: "Die Mediendemokratie ist eine Verfahrenstechnik." Die zentrale Rolle spielt dabei das Fernsehen. Gerhard Schröders Satz, er brauche nur "Bild" und die Glotze, ist schon legendär geworden.
Für Engert ist der Kanzler der Vorreiter des neuen Politikstils. Immerhin habe Schröder, ein Beispiel, einst unter dem Briefkopf der Hannoveraner Staatskanzlei die Trennung von seiner damaligen Frau angekündigt. Zu denken ist etwa auch an Guido Westerwelle im Big-Brother-Container. Richtschnur: Aufsehen erregen um jeden Preis. 30 Sekunden in der "Tagesschau" oder gar der Auftritt in einer Talkshow: Darauf kommt es Politikern heute in erster Linie an. Engert: "Der parlamentarische Werktätige, der fundiert im Haushaltsausschuss arbeitet, gerät gegenüber dem guten Selbstdarsteller ins Hintertreffen."
Mit den Umbrüchen in der Politik einher geht aus Sicht Engerts auch eine Zeitenwende bei den Medien: mehr Verpackung und weniger Inhalt. Längere Artikel werden zur Rarität. Nicht mehr Redakteure, sondern Designer bestimmen das Erscheinungsbild von Zeitungen - hin zu größeren Bildern, zu dickeren Überschriften, eben zu weniger Text. Nicht zu vergessen ist die personelle Ausdünnung von Redaktionen wegen der wirtschaftlichen Krise bei nicht wenigen Verlagen, "mit Schnitten auch in die Substanz", betont Engert.
In dieser Gemengelage wächst die Neigung, mit der schnellen fetten Schlagzeile Aufmerksamkeit für den Augenblick zu erhaschen. Affären, Skandale, auch Privates von Promis sind da ein ideales Futter. Beliebt sind auch jene Politiker, die gegen die eigene Partei zu Felde ziehen. Häufig werden "Indiskretionen" aus Hintergrundgesprächen publiziert, was Politiker übrigens immer weniger stört.
So bilden denn Journalisten und Politiker eine illustre Jagdgemeinschaft auf der Pirsch nach öffentlicher Resonanz. Jürgen Engert gefällt diese Entwicklung offenkundig nicht, er hätte es gern seriöser. Doch so läuft es nun mal. Den meisten Diskutanten an diesem Abend missfällt die ungezügelte Hatz der Medienmeute auf Politiker. Eines kristalliert sich während der Debatte aber heraus: Wenn Promis ihrerseits ihr Privatleben öffentlich präsentieren, dann müssen sie es hinnehmen, wenn Journalisten auch in misslichen Situationen zupacken. Karl-Otto Sattler