Keiner weiß genau, wie zahlreich sie sind. Keiner kann ihren Einfluss ermessen. Auch ist ihre Stellung im Machtspiel der Europapolitik nicht klar geregelt. Doch manche der wohl rund 15.000 Brüsseler Lobbyisten gehören zu den Mächtigen in der Europapolitik. Sie regieren regelrecht mit, wenn in Brüssel, Straßburg und Luxemburg die europäischen Gesetze und Politiken für Wirtschaft und Gesellschaft beraten und beschlossen werden.
Weit mehr als die Hälfte aller Regelwerke für die Unternehmen und die Verwaltungen haben inzwischen ihren Ursprung auf der Ebene der Europäischen Union. Dies erkennen inzwischen auch die Länder und Kommunen an. Mehr als 100 europäische Regionen sind mittlerweile mit einem eigenen Büro in Brüssel vertreten. Im diesem Spätsommer eröffnet der Freistaat Bayern seine neue große Vertretung in exklusiver Lage inmitten des Europaviertels. Im Windschatten haben auch die anderen Länderbüros ihr Personal kräftig aufgestockt und repräsentative Immobilien erworben, renoviert und zu Veranstaltungsorten ausgebaut. "Das Wirtschaftsleben wird schon heute stärker durch europäische als durch nationale Gesetze und Regelungen geprägt. Diese Tendenz wird weiter zunehmen", sagte schon Ende der 90er-Jahre der heutige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement. Und die Europäisierung anderer Politikfelder - wie die Geld-, Finanz- und Steuerpolitik sowie die Außen- und Sicherheitspolitik und die Zuwanderungspolitik - sei "in vollem Gange und notwendig", so Clement.
Zuviel deutsche Vertreter?
Ob Deutschland mit seinem vielstimmigen Konzert des Föderalismus gut aufgestellt sei, seine Interessen im Club der jetzt 25 Mitgliedsländer wirkungsvoll zu vertreten, bezweifelt allerdings Bundesverbraucherministerin Renate Künast. Sie fordert: Statt 16 Abgesandte mit zehn verschiedenen Positionen sollte nach einer gemeinsamen Strategiebildung ein einziger Verhandlungsführer für Deutschland sprechen. Der "direkte Weg in die Irrelevanz" sei, wenn statt eines Bundesvertreters in einer bestimmten Angelegenheit fünf Landesvertreter in Brüssel auftreten und fünf unterschiedliche Positionen vortragen: "Ich möchte in den immer komplizierteren Verhandlungen im Europa der 25 eine starke Vertretung haben, die allen zugute kommt. Unsere Interessen müssen inhaltlich und finanziell gesichert werden", sagt die Grünenpolitikerin.
"Wenn heute etwa 70 Prozent der Brüsseler Gesetzgebung Auswirkungen auf kommunale Aufgabenfelder haben oder von den Kommunen umgesetzt werden müssen, dann ist Europolitik in hohem Maße auch Kommunalpolitik", sagte die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth Ende 2002 anlässlich der Eröffnung des Europabüros der drei kommunalen deutschen Spitzenverbände in Brüssel. Auch in der Umweltpolitik spielt die Musik inzwischen in Brüssel, schreibt Jochen Roose in seinem Buch über die Europäisierung von Umweltorganisationen. Nahezu jedes Gesetz aus dem Bundesumweltministerium sei von der EU initiiert. Deshalb stünden die nationalen Umwelt- und Naturschutzverbände vor der Herausforderung, "ihre Politik weitgehend nach Brüssel zu verlagern". Lobbying sei viel aussichtsreicher für erfolgreiche politische Arbeit als schlichte Protestaktionen à la Greenpeace, schreibt der Kulturwissenschaftler Roose.
Dies zeigt die Vielfalt der Zusammensetzung und der Ziele der EU-Lobbyisten. Sie wollen auf die Ausgestaltung der europäischen Gesetze und Politiken und die Normensetzung Einfluss nehmen. Sie wollen Fördergelder aus dem 100 Milliarden-Euro-Gemeinschaftshaushalt akquirieren. Und nicht zuletzt wollen sie die EU-Wettbewerbsbehörde von den Anliegen ihren Klientel überzeugen. Das Lobbyistenheer umfasst Hunderte Einzelunternehmen sowie internationale und europäische Verbände. Große Unternehmen nutzen mehrere Einflusskanäle. Unter den europäischen Dachverbänden ragen heraus: der Europäische Verband der Industrie und Arbeitgeberverbände (Unice), die Agrarlobby (Copa) und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB). Ihr Einfluss erklärt sich auch daraus, dass sie in vielen offiziellen Gremien der EU sitzen und damit auch - potenziell - viele Gelegenheiten besitzen, informelle Kanäle zu nutzen.
Der Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), immerhin seit Jahrzehnten ein offizielles Beratungsgremium der EU, spielt keine Rolle bei der Ausrichtung der EU-Politik. Der EWSA ist drittelparitätisch besetzt: Neben den Sozialpartnern sind dort auch viele Verbände vertreten, die die so genannten sonstigen Interessen vertreten. "Für meinen Verband lohnt sich die EWSA-Mitgliedschaft nur, weil wir so Reisekosten sparen - für die Wahrnehmung anderer Termine in Brüssel", sagt ein Mitglied.
Dies ist ein weiterer Beleg für die Anarchie in der Welt des EU-Lobbyismus. Eine offizielle Akkreditierung oder allgemein verbindliche Verhaltensvorschriften für den Umgang mit Lobbyisten - wie in Washington - gibt es bis heute nicht. Bei Dutzenden von Europaabgeordneten stellen sich Parlamentsbeobachter regelmäßig die Frage, ob sie wirklich ihre Wähler oder nicht vielmehr nur ein bestimmtes Unternehmen oder einen Verband vertreten. Einige Abgeordnete machen kein Geheimnis daraus, dass sie auf der Gehaltsliste bei einem Unternehmen oder einem Verband stehen. Manche könnten mutmaßliche Geschäftsverbindungen auch hinter dem Privileg ihres Anwaltstitels verstecken. Hier ist sicherlich, trotz einiger bisheriger Bemühungen, noch mehr Transparenz geboten. Doch nur Verschwörungstheoretiker glauben an die Mär vom gekauften Abgeordneten. Dafür gibt es viel zu viel Köche in der Europapolitik. "Ich enthalte mich grundsätzlich der Stimme, wenn die Interessen meines Unternehmens betroffen sind", sagt der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok, der Europabeauftragte des Vorstands der Bertelsmann AG.
Aber dennoch kann kein Lobbyist auf einen engen Kontakt mit Abgeordneten verzichten. Und sei es auch nur für scheinbar banale Zwecke: um an die begehrten Ausweise zu kommen, die EU-Gebäude ohne größeres Nachfragen betreten zu dürfen. In der Vergangenheit konnten einige Verbände auch - häufig im Zusammenspiel mit Abgeordneten - Räumlichkeiten des Parlaments für ihre Verbandsveranstaltungen nutzen.
Eine bedeutende Rolle spielen auch die rund hundert Beratungsunternehmen oder auf gut Deutsch: Public Affairs-Agenturen. Sie betreiben für feste oder zeitlich befristete Auftraggeber nach angelsächsischem Muster professionelles Lobbying.
Der Lobbyismus, der oft als "fünfte Gewalt" bezeichnet wird, hat an Einfluss die "vierte Gewalt" - die Medien - längst überholt. Immer weniger setzten die Medien aus eigener Kraft und Inspiration Themen und Akzente. Es sind immer mehr die Vertreter von Partikularinteressen und ihre "Spin-Doctors" in den Hauptstädten und in Brüssel. Während viele der einst einflussreichen Zeitungen in einer wirtschaftlichen und publizistischen Krise stecken, verzeichnen die Brüsseler Lobbybüros und die Public-Affairs-Agenturen noch erstaunliche Wachstumsraten. Manche clevere Lobbyisten verstehen es sogar, Medienvertreter für ihre Interessen einzuspannen. Sie füttern sie mit vermeintlichen oder echten Exklusivinformationen und lenken damit die Ausrichtung der Berichterstattung. Mehr als einmal habe er so unliebsame Vorschriften und Entscheidungen für seine Klientel noch im Entwurfsstadium abwenden oder ändern können, sagt ein Industrielobbyist.
Die Lobbyisten verstehen sich aber nicht nur als Interessensvertreter von Partikularinteressen der Unternehmen, von Verbänden oder anderen Organisationen. Mag Lobbyismus in Deutschland auch einen abwertenden Beigeschmack haben; in Brüssel gelten sie häufig sogar auch als Informationsdienstleister. EU-Beamte und Europaabgeordnete machen keinen Hehl daraus, dass sie regelmäßig den Sachverstand der Lobbyisten nutzen. Kein Kommissionsvorschlag, bei dem die Verbände oder Einzelpersonen nicht um Stellungnahmen gebeten werden. Kein Bericht des Europaparlaments ohne Anhörung der Lobbyverbände. Und selbst noch dann, wenn sich die Vertreter der nun 25 EU-Regierungen über die Gesetzesvorschläge beugen und Kompromisse schmieden, sind die Lobbyisten in Rufweite. Nicht nur, um den oftmals überforderten Diplomaten bei den Verhandlungen über schwierige Gesetzesvorhaben indirekt mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Gelegentlich geht die Zusammenarbeit auch so weit, dass die von den Fachministerien oder einflussreichen Verbänden beauftragten Public Affairs-Agenturen auch gleich die Presseerklärung über erfolgreiche Verhandlungen verfassen.