Einleitung
Mit der Maueröffnung am 9. November 1989 begann in der Beziehungsgeschichte der Deutschen aus der Bundesrepublik bzw. West-Berlin und denen aus der DDR ein neues und recht dynamisches Kapitel. Zu seiner Vorgeschichte gehörte nicht nur der während der Leipziger September-Proteste von 1989 intonierte Sprechchor "Wir wollen raus!", sondern auch der Ruf "Wir wollen rein!", mit dem im Dezember 1989 die Einwohner aus den bayerischen Nachbardörfern an dem für sie immer noch unpassierbaren Grenzzaun nahe des westthüringischen Grenzdörfchens Ketten rüttelten. In diesen Monaten war man neugierig aufeinander, relativ offen, und viele waren gerührt.
Bald wurden die Westdeutschen mit jenem Etikett belegt, das man in West-Berlin bis dahin den aus dem Bundesgebiet Zugezogenen gegeben hatte: "Wessis". Die Ostdeutschen wurden entsprechend "Ossis" genannt. Die im offiziellen Sprachgebrauch genutzte Bezeichnung, welche die Bürgerinnen und Bürgern "aus den alten Bundesländern" von jenen "aus den neuen Bundesländern" unterschied, fand in der Alltagssprache nicht nur wegen ihrer politisch-korrekten Umständlichkeit kaum Eingang, sondern wohl auch, weil viele Menschen aus den "alten Ländern" in den Ostdeutschen die "alten", weniger modernisierten Deutschen sahen, während man selbst sich eher "neu" und modern fühlte. Zudem sprach für die Wessi-Ossi-Entgegensetzung, dass sie terminologisch auf die Wurzeln der Differenzen zwischen den beiden Bevölkerungsteilen verwies. Beide waren zwar mental "von einem Stamme", repräsentierten letztlich jedoch unterschiedliche Varianten des Deutschseins im 20. Jahrhundert: die Menschen in den alten Bundesländern die - im Sinne der Nachkriegssystematik - westliche Variante und die ehemaligen DDR-Bürger die östliche.
Bei der Thematisierung der Wessi-Ossi-Friktionen, die man in den letzten 15 Jahren verfolgen konnte, ging es häufig nicht nur um den Unterschied zwischen West- und Ostdeutschen. Vielfach waren die Spannungen durch andere Konflikte verstärkt oder überhaupt verursacht - etwa durch kulturelle Konflikte zwischen verschiedenen Milieus, durch Generationskonflikte oder durch Hierarchie- und Ausbeutungsverhältnisse, durch den Abstand von Wohlhabenden und weniger Besitzenden und schließlich durch politische und ideologische Konflikte. Gerne und bis heute anhaltend werden diese Spannungen oder Konfliktlinien mit dem Etikett "West-Ost-Unterschiede" - also der, wie es in der Sprache der Politiker heißt, noch "unvollendeten inneren Einheit" - belegt.
Wenn die West-Ost-Friktionen der neunziger Jahre thematisiert werden, hört man - zumindest im Osten - rasch das Stereotyp vom "Besserwessi" und allerlei schlimme Beispiele von seinem Wirken. Diese sollen hier nicht angezweifelt werden. Vielmehr soll zunächst in Erinnerung gerufen werden, welche Botschaft "die Ostdeutschen" in den Jahren 1989/90 an "die Westdeutschen" sandten und welche Haltung sich mit einer gewissen Berechtigung die (Besser-)Wessis von den Ossis erhoffen konnten. Schließlich waren es doch die Ostdeutschen, die 1989 zu Tausenden in den Westen geflohen waren, die in den beiden Parlamentswahlen 1990 das konservative Parteienbündnis für den schnellen Beitritt und die Währungsunion wählten - und nicht die west-ostdeutsche SPD oder die PDS, die autonome Demokratisierung und wirtschaftliche Sanierung der DDR im Rahmen einer Konföderation und schließlich eine gleichberechtigte und durch eine west-ostdeutsche Volksabstimmung legitimierte Vereinigung vorschlugen. Konnte man, als nun dieses von einer großen Mehrheit der Ostdeutschen gewählte Szenario der Übernahme des westdeutschen Modells exerziert wurde, von jenen nicht erwarten, dass sie dankbar und kritiklos das westdeutsche System, die Schulung durch seine Aufbauhelfer mitsamt deren Lebensweisheiten und Geschmacksvorstellungen übernehmen würden? Man sollte den Westdeutschen, die den Osten zu verstehen suchten oder dort auf die eine oder andere Art agierten, die Berechtigung für diese Erwartungshaltung nicht absprechen.
Bald zeigte sich jedoch, dass die Interaktion zwischen West- und Ostdeutschen dieser Erwartungshaltung nicht entsprach und stattdessen von großen Spannungen begleitet war. Um die Ursachen dieser Spannungen zu erklären, sollten, bevor von Identität, dem viel zitierten gelebten Leben und von entwerteten Biographien gesprochen wird, vor allem die typischen sozialen Rollen, in denen Westdeutsche und Ostdeutsche in den neunziger Jahren interagierten, analysiert werden. Die Situation war notwendigerweise asymmetrisch. Die Spitzen- und die Leihbeamten auf der mittleren Ebene, die entscheidenden Personen in der Treuhandanstalt, die Liquidatoren, Sanierer, Privatisierer, Investoren und Kapitaleigner, Chefs in Produktion, Handel und Versicherung, die Instrukteure, Ausbilder und Evaluatoren, die Immobilienbesitzer und Vermieter waren meist Westdeutsche - und die Verwalteten, die Lohnabhängigen, die Empfänger von Weisungen, die Entlassenen, die Angeleiteten und Evaluierten, die auf jeder Ebene Lernenden, die Mieter und Besitzlosen waren die Einheimischen, die Ostdeutschen.
Obwohl das Projekt "Aufbau Ost" riesige Steuermittel verschlang (und verschlingt) und die Ergebnisse der Privatisierungen im Osten aus der Sicht der öffentlichen Hand als "Verlust" zu sehen war, erbrachten diese Investitionen in den Augen der Westdeutschen und im Vergleich zu ihren eigenen Aufbauerfolgen keinen wirtschaftlichen Aufschwung, wenig Zufriedenheit, Zuversicht, sozialen Frieden und Legitimitätsgewinn für das neue System. Es stellte sich die Frage, ob die "Brüder und Schwestern" doch nur entferntere Verwandte seien und ob die Effekte von vier Jahrzehnten DDR-Sozialisation eventuell unterschätzt wurden.
Effekte der DDR-Sozialisation
Die Wissenschaften haben der Erforschung von Vergangenheit und Gegenwart der Ostdeutschen große Aufmerksamkeit geschenkt, etwa durch den Förderschwerpunkt der Deutschen Forschungsgemeinschaft "Sozialer und Politischer Wandel im Zuge der Integration der DDR-Gesellschaft" oder durch die Installation der Kommission zur Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern (KSPW). Inzwischen kann gesagt werden, dass die Ostdeutschen im Prozess der Transformation erschöpfend beschrieben worden sind. Das gilt auch für die bis heute erkennbare Spezifik der sozialisatorischen Muster, der Wert- und Sinnvorstellungen der ostdeutschen Bevölkerung. Sie ist eher unspektakulär.
In empirischer Sicht unterscheiden sich Ost- und Westdeutsche bei weitem nicht so sehr voneinander, wie man es angesichts der Klischees, die den medialen Diskurs beherrschen, erwarten könnte. Das zeigt sich, wenn ein auf der Basis der speyerischen Wertetypen vorgenommener Vergleich vorgenommen wird. Mit diesem Zugriff wird rekonstruiert, wie sich die Verteilung von Personen auf die fünf definierten Wertetypen in verschiedenen Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten darstellt. Der Befund für das Jahr 1990 zeigt, dass auf der grundsätzlichen Ebene die Verteilung der Wertetypen in Ost- der in Westdeutschland ganz ähnlich ist. Der Wertewandel als internationales Phänomen hat also auch "hinter der Mauer" stattgefunden - freilich mit DDR-typischen Besonderheiten. Damals erwies sich, dass die Ostdeutschen etwas konventioneller als die Westdeutschen sind. Zudem sind sie viel öfter materialistisch-hedonistisch und viel seltener nonkonform-idealistisch orientiert als die Westdeutschen und schließlich viel seltener perspektivlos-resigniert. Die letzten drei Befunde widerspiegeln die Stagnation der DDR auf allerdings hohem sozialstaatlichen Niveau. Schon drei Jahre nach dem Beitritt der Ostdeutschen zur Bundesrepublik änderte sich das Bild: Die Ostdeutschen waren etwas weniger konventionell und weniger materialistisch-hedonistisch orientiert. Die Gruppe der perspektivlos resignierten Ostdeutschen hat sich hingegen verdoppelt, während sich die bei den Ostdeutschen ohnehin größte Gruppe der "aktiven Realisten" noch einmal vergrößert hat. Dieser Wertetyp, der sowohl hedonistische Impulse wie die einer anstrengungsbereiten, gewissermaßen disziplinierten Selbstverwirklichung vereint, gilt als der modernste und zukunftsfähigste Wertetyp.
Obwohl die ostdeutsche Bevölkerung von ihrer Wertestruktur also gut in die Marktwirtschaft "passt" und sich dabei nur wenig von der westdeutschen Bevölkerung unterscheidet, zeigt sie bei den gesellschaftsbezogenen Werten eine ungleich größere Distanz zu den Gegebenheiten. Obwohl nur ein Bruchteil "am liebsten die DDR wieder haben" will und eine wachsende Mehrheit im Nachhinein "die Einführung einer politischen Ordnung nach westlichem Vorbild" für richtig hält, stehen die Ostdeutschen im Detail den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten des vereinigten Deutschlands distanzierter oder kritischer gegenüber als der westdeutsche Durchschnitt. Eine "gute Meinung" über das westliche Wirtschaftssystem hatten 1990 noch 77 Prozent; im Jahr 1997 war die Gruppe der Befürworter auf 22 Prozent zusammengeschrumpft. Die Frage, "ob die bundesdeutsche Demokratie die beste Staatsform ist", bejahten 1997 nur noch 33 Prozent der Ostdeutschen, der höchste Wert lag in den Jahren 1990 und 1992 bei jeweils 41 Prozent. Die Westdeutschen hingegen halten die bundesdeutsche Demokratie mehrheitlich für "die beste Staatsform". Die Zustimmungsraten schwankten hier zwischen 1990 und 1997 kaum und lagen bei etwa 70 Prozent.
Das Demokratieverständnis der Ostdeutschen schließt neben politischen Rechten auch soziale mit ein, wie der "Sozialreport 2002" belegt. Die Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit sind bei den Ostdeutschen deutlich anders als bei den Westdeutschen. "Bei über 88 % der Ostdeutschen kollidieren die sozialen Unterschiede in der Bundesrepublik mit ihrem Gerechtigkeitsempfinden, während 46 % der Westdeutschen sie im großen und ganzen als gerecht ansehen." Insbesondere schreiben die Ostdeutschen dem (Sozial-)Staat größere Verantwortlichkeiten für soziale Gerechtigkeit und Absicherung der Menschen zu.
Ein Überblick über die Besonderheiten ostdeutscher Wertvorstellungen kommt nicht ohne den Rekurs auf die These aus, dass die hohe Quote fremdenfeindlicher Gewalttaten in den neuen Bundesländern ein Effekt der spezifischen DDR-Sozialisation sei. Die Relevanz dieser These entspricht allerdings nicht den Ergebnissen der empirischen Werteforschung, sondern ihrer Funktion in den politischen und ideologischen Deutungskämpfen um den Status der DDR und der Bundesrepublik. Untersuchungen der Werteforschung konnten die kurzschlüssige Folgerung, dass die autoritären Herrschaftsformen in der DDR autoritäre Persönlichkeiten hervorgebracht hätten, nicht bestätigen. Auch manche Spekulation über eine typisch ostdeutsche Indifferenz gegenüber dem Nationalsozialismus wurden empirisch eindeutig widerlegt; im West-Ost-Vergleich zeigte sich eher das Gegenteil.
Walter Friedrich überprüfte die Spekulation von der strukturellen Produktion fremdenfeindlicher und rechtsextremistischer Einstellungen in der DDR anhand von Daten aus den sechziger bis neunziger Jahren. Wenn der unterstellte Zusammenhang zwischen DDR-Sozialisation und der Ausbildung rechtsextremistischer und ausländerfeindlicher Einstellungen tatsächlich bestünde, so folgerte Friedrich, müssten sich anhand der Daten vier Arbeitshypothesen verifizieren lassen: Erstens müssten diese Einstellungen in der Hoch- und Stabilitätsphase der DDR stärker ausgeprägt gewesen sein als in der Niedergangs- und Instabilitätsphase. Zweitens müssten ältere und mittlere Jahrgänge, die der DDR-Sozialisation länger ausgesetzt waren, stärker rechtsextremistische und ausländerfeindliche Einstellungen zeigen als jüngere. Drittens müsste die Identifikation mit System und Ideologie der DDR mit der Ausprägung der genannten rechtsextremistischen und ausländerfeindlichen Einstellungen korrelieren. Viertens müssten Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus nach dem Verschwinden der DDR kontinuierlich zurückgehen. Alle vier Arbeitshypothesen wurden falsifiziert.
Ein deutlicher Unterschied zu den Westdeutschen zeigt sich in der "subjektiven Schichteinstufung" der Ostdeutschen. Dabei wird ermittelt, zu welchen Anteilen sich die Bevölkerung eines Territoriums welchen sozialen Schichten zurechnet. Erfasst werden subjektive Zurechnungen, nicht objektive Daten über die Sozialstruktur einer Bevölkerung. Im Jahr 1992/93 ordnete sich eine deutliche Mehrheit der Ostdeutschen (61 Prozent) der Unter- und Arbeiterschicht und eine Minderheit (37 Prozent) der Mittelschicht zu. Zur Oberschicht zählten sich zwei Prozent. Bei den Westdeutschen ist das ganz anders: Die Mehrheit (57 Prozent) ordnete sich der Mittelschicht zu, nur 29 Prozent der Unter- und Arbeiterschicht. 14 Prozent sahen sich der Oberschicht zugehörig. Zehn Jahre später, im Jahr 2002, sah die Verteilung immer noch so aus. Interessant ist, dass die Sozialstruktur in den alten und neuen Ländern nicht so differiert, wie es die Erhebung der subjektiven Schichteinstufung suggeriert. In einem Modell über die reale Schichtung der westdeutschen Bevölkerung kommt Rainer Geißler zu dem Ergebnis, dass schon die westdeutschen Randschichten, die un- und angelernten Arbeiter, die ausführende Dienstleistungsschicht und die Facharbeiter, etwa 48 Prozent der Bevölkerung ausmachen, wobei die 12 Prozent "Arbeiterelite" noch nicht eingerechnet waren. Bei den subjektiven Zurechnungen der Westdeutschen definiert sich die Mehrheit jedoch als zur Mitte gehörig. Ganz anders der Osten. Hier bietet sich, wenn es um die subjektiven Zurechnungen zur Mittelschicht oder zur Unter- und Arbeiterschicht geht, ein geradezu spiegelverkehrtes Bild: Die große Mehrheit rechnet sich im Osten den Arbeiterschichten zu.
Natürlich liegen die Ursachen hierfür nicht in der Sozialstruktur; die ist in Ost und West annähernd ähnlich. Die Ergebnisse widerspiegeln vor allem die gültigen Wertvorstellungen der beiden Teilgesellschaften. Die west- wie die ostdeutsche Bevölkerung ordnet sich mehrheitlich jenen gesellschaftlichen Schichten zu, die in ihren Gesellschaften als maßgeblich, als stilbildend gelten und durch die dominierenden Diskurse als "ehrbare Stützen" der Gesellschaft ausgegeben wurden. In den Einordnungen der Ostdeutschen spiegelt sich sowohl dasdurch die Offizialdiskurse erzeugte Prestige der "Arbeiterklasse" und die ihr zugeschriebenen Werte und Lebensformen wie auch die faktische alltagskulturelle Dominanz und Maßgeblichkeit der Lebensformen und Wertvorstellungen der kleinbürgerlich-materialistischen Milieus in der DDR wider. Im Zusammenfließen des herrschenden Mythos von der Arbeiterklasse mit der alltagskulturellen Dominanz der proletarisch bis kleinbürgerlich-materialistischen Kultur bildete sich in Ostdeutschland eine, wie es Wolfgang Engler formulierte, "arbeiterliche" Gesellschaft heraus: "Die Ostdeutschen lebten in einer Gesellschaft, in der die Arbeiterschaft sozial und kulturell dominierte und die anderen Teilgruppen mehr oder weniger 'verarbeiterlichten'. Es wäre eine Absurdität zu behaupten, die ostdeutschen Arbeiter hätten die politische Herrschaft ausgeübt. Aber das soziale Zepter hielten sie in der Hand. Anschauungen, Meinungen, Konventionen, Kleidungs- und Konsumgewohnheiten und nicht zuletzt die Alltagssitten richteten sich nach den Normen und Idealen der arbeitenden Klassen. (...) Gemessen (...) am Aristokraten wie am Bürger, erschien der arbeiterliche Mensch als wahres Glückskind der Geschichte. Er mußte nichts sein, um etwas zu werden, nichts werden, um etwas zu sein, denn alles, was er sein und werden konnte, war er bereits: ein anerkanntes Mitglied des Gemeinwesens. Er war ökonomisch unabhängig, existentiell von vornherein gesichert und wußte vom Kampf um soziale Anerkennung nur vom Hörensagen."
Die Rede von alltagskulturellen Dominanzwechseln in Gesellschaften wird gerade durch die Beschreibungen der Gegner und Verlierer der neuen Entwicklungen beglaubigt. Im Falle der DDR waren das vor allem bürgerlich orientierte Personen oder Gruppen, deren symbolisches und kulturelles Kapital in der "arbeiterlichen Gesellschaft" rapide an Kurs verlor. Eine entsprechende Beschreibung auf Basis dieser Verlusterfahrung liest sich so: "Sittenzerfall - Der ganze bürgerliche Plunder, über Bord mit ihm. Knicks und Verbeugung der Kinder: ein Zeichen der Verkrüppelung. Aufstehen vor Älteren, Vorgesetzten: ein Überrest des Untertanengeistes. Wir alle sind 'per Du', denn wir sind alle in der Gewerkschaft. Bei Tisch benehmen wir uns, wie es in einer Proletarierküche üblich ist. Mit Schürze und Hausschuhen auf die Straße, mit dem Blaumann ins Gasthaus, die Arbeitskleidung ist ein Ehrenkleid. Bunte Perlonschürzen überfluten Fabriken, Läden, Ambulatorien und Kontore. Bald bemerkt niemand mehr, wie häßlich sie sind. (...) Zur neuen Art des Zusammenlebens gehört, daß man anders miteinander redet als früher. Man spricht deftig, grob und geradezu, nennt das offen und ehrlich."
Diese spezifischen Verhältnisse in der DDR, die Aufwertung der Arbeiter- und Volksschichten in den Offizialdiskursen, in den Diskursen der Wissenschaft und Bildung, haben offensichtlich sozialisatorische Langzeitwirkung. Denn obwohl heute das Prestige der Arbeiterschichten viel geringer ist, hat sich die subjektive Zuordnung der Ostdeutschen auch in den neunziger Jahren nicht an die westdeutsche Normalverteilung angeglichen. Die "alten Werte" sind insofern subjektiv noch etwas wert. Das kann man als ein Stück DDR im Alltag ihrer ehemaligen Bevölkerung deuten.
West-Ost-Unterschiede im Alltagshandeln
Anhaltende Ost-West-Unterschiede zeigen sich auf der Ebene des Alltagshandelns. Diese Unterschiede sind allerdings ein schon viel vermittelteres Echo der spezifischen Sozialisationsverhältnisse in der DDR als etwa Unterschiede in der subjektiven Schichteinstufung.
Wolf Wagner zeigte, auf welche typische, und von den westlichen Standards abweichende Weise die Ostdeutschen im Alltag kommunizieren. In Alltagsgesprächen oder bei einem Smalltalk neigen Ostdeutsche beispielsweise stärker dazu, über Mängel, Missstände oder auch eigene Probleme zu reden, während Westdeutsche lieber mit der Thematisierung von leichten und nichtigen Dingen das Gespräch eröffnen. In ihren jeweils eigenen Kulturen funktioniert das gut. Im Osten erzeugt man durch die ostdeutsche Art zu kommunizieren "Nähe und Solidarität", man nimmt das Gegenüber als "offen und leutselig" wahr. Die Westdeutschen erzeugen auf ihre eigene Art nicht minder entspannende "positive Stimmung", die es erlaubt, sich gegenseitig als "geistreich und diskret" wahrzunehmen und zu inszenieren. Erst wenn Ost- und Westdeutsche gemeinsam auf die Anforderungen der Kommunikationssituation mit den jeweils in ihren eigenen Kulturen angemessenen Kommunikationsstilen reagieren wollen, kommt es zu Friktionen. Ostdeutsche beschweren sich über Westdeutsche, die "oberflächlich und abweisend" seien, und diese wiederum nennen die Ostdeutschen "larmoyant und unersättlich".
Ähnlich zeigen sich Ost-West-Differenzen bei der Interpretation von Karrierewegen. Wenn Westdeutsche oft den Arbeitsplatz oder -ort wechseln, gelten sie für andere Westdeutsche eher als zielstrebig und flexibel, als eine motivierte und hochwertige Arbeitskraft. In der DDR waren Arbeitsplatzwechsel eher mit Versagen oder anderen Stigmata verbunden. Denn wer in der DDR "gut" war, blieb oder stieg an Ort und Stelle auf, wer "schwierig" war, wurde "weggelobt". Aus dieser so vorgeprägten Ost-Perspektive galten die im Osten ankommenden Wessis als "abgeschobener Ausschuss", während die verstetigten Ostdeutschen den mobilen Westdeutschen wiederum als der "zurückgebliebene Ausschuss" gelten mussten.
Während in ostdeutschen Gruppen die Tendenz zum Ausgleich, zu Kompromissen, Harmonie aber auch zum Überdecken von Konflikten vorherrscht, ist das Verhalten in westdeutschen Gruppen stärker auf miteinander konkurrierende Individualitäten orientiert. In der gegenseitigen Wahrnehmung führt das dazu, dass die Ostdeutschen die Westdeutschen als "aggressiv, dominant und unsensibel" wahrnehmen, während sie die Eigengruppe als "freundlich, solidarisch und harmonisch" beschreiben. Die Westdeutschen hingegen empfinden diese Art von Harmonie als "feige und scheinheilig", während sie ihre Art der Kommunikation als "offen, mutig und authentisch" bezeichnen.
Diese "typisch" west- bzw. ostdeutschen Stile in der Alltagskommunikation ähneln sich darin, in unterschiedlichen Sozialräumen jeweils funktional gewesen zu sein. Sowohl bei Ost- wie bei Westdeutschen hatte sich ein Verhalten habitualisiert, das von den gesellschaftlichen Strukturen nahegelegt wurde. Die spezifischen sozialisatorischen Muster bildeten die unterschiedlichen Funktionsweisen der Macht und der Chancenzuteilung in den verschiedenen Sektoren der beiden Gesellschaften ab - und reproduzierten diese. Die Friktionen werden mit dem Modell des "Kulturschocks" konzeptualisiert: Die Angehörigen der beiden Gruppen wenden die Formen des "richtigen" und freundlichen Handelns an, dennoch misslingt die Interaktion. Das Ergebnis dessen ist, dass man sich selbst "gut und richtig" findet und die anderen "seltsam, unverständlich, doof".
Die selektive Popularisierung der wissenschaftlichen Ergebnisse durch den Mediendiskurs
Was die Sozialwissenschaften seit den frühen neunziger Jahren gleichermaßen umfänglich wie differenziert an Befunden zu Sozialisation, Verhalten, Wertvorstellungen und Weltsicht "der Ostdeutschen" zusammengetragen haben, wurde im medialen Diskurs nur selektiv verbreitet. Innerhalb des der Marktlogik unterworfenen Mediendiskurses ist der nüchternen Ausgewogenheit wissenschaftlicher Studien ohnehin kaum gerecht zu werden. Zudem dürfte das Personal in den Medien zumeist weder die Zeit noch die Voraussetzungen haben, nachzuvollziehen, was in der interpretativen Sozialwissenschaft zum Üblichen gehört: experimentell andere Perspektiven einzunehmen und diese zu verstehen. Medien bedienen - von Qualitätszeitungen bis zu Boulevardblättern - die Erwartungen und die Weltsicht ihres Publikums. Interessant ist, was zur Grundtendenz der alltäglichen medialen Thematisierung ostdeutscher Eigenarten gehört, welche Dispositionen der Ostdeutschen, oft in zugespitzter Form, in das Stereotyp von "den Ostdeutschen" Eingang fanden und welche nicht.
Deutlich präsent sind Wahrnehmungen, die Wolf Wagner als Effekte des Kulturschocks schilderte und die lediglich die westdeutsche Seite der Stereotypisierungen darstellen: Demgemäß wird der ostdeutsche Habitus als steif, altmodisch, verklemmt, naiv, konfliktscheu, opportunistisch, larmoyant und immobil konstruiert. Bei der Erklärung der fremdenfeindlichen und rassistischen Gewalttaten in Ostdeutschland wird die fachwissenschaftlich widerlegte Spekulation, dass das ein Sozialisationseffekt von DDR-Strukturen sei, als Tatsache behandelt. Der Befund, dass die ostdeutsche Gruppe von der Verteilung der Wertetypen psychologisch passfähig für die Marktwirtschaft ist: aktiv, leistungsbereit, autonom und initiativ, findet kaum Eingang. Die hinsichtlich der subjektiven Schichteinstufung deutlich gewordene Selbstverortung und entsprechende habituelle Inszenierung einer großen Mehrheit der Ostdeutschen als Angehörige nichtbürgerlicher Schichten wird zwar prägnant in das Stereotyp von den Ostdeutschen integriert, jedoch nur als Makel, Defizit und ästhetische Zumutung.
Die empirische Verifizierung dieses ersten Eindrucks vom westdeutschen Ost-Diskurs mittels einer systematischen Analyse der Konstruktion der Ostdeutschen in den Mediendiskursen steht noch aus. Möglich ist jedoch jetzt schon ein Blick auf Phasen der Intensivierung der Konstruktion, auf prägnante Beiträge, Publikationen oder Thesen aus dem wissenschaftlichen Diskurs, die im medialen Diskurs großes Echo auslösten. 1992 war es die Analyse von Arnulf Baring: "Die heutige Lage in der ehemaligen DDR ist in der Tat vollkommen anders als bei uns 1945. Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal: Sein Wissen ist über weite Strecken völlig unbrauchbar. (...) Wir können den politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben, alles verzeihen und vergessen. Es wird nichts nützen; denn viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Markwirtschaft einbringen könnten."
Im selben Jahr grenzte sich Monika Maron drastisch von ihren Landsleuten ab: "Sturer Trotz und peinliche Beflissenheit sind überhaupt die prägenden Züge derzeitigen ostzonalen Verhaltens." Die wohl gefüllten Einkaufswagen - "ekelhaft große Fleischpakete oder ein süßes balkanesisches Perlgesöff namens Canei" - repräsentierten deren Geschmack und Mentalität. "Ich bin an ihrer Dumpfheit und Duldsamkeit, an ihrer Duckmäuserei und ihrem feigen Ordnungssinn oft verzweifelt." 1993 amüsierte eine Autorengruppe um Klaus Bittermann das Publikum mit der Bestandsaufnahme "Der rasende Mob. Die Ossis zwischen Selbstmitleid und Barbarei" . Das Titelbild ging durch die Presse: Es zeigte einen an den typischen Jesus-Latschen als Ossi erkennbaren Mann. Er trägt ein Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft und eine ausgebeulte, im Schritt durchnässte Jogginghose. Den rechten Arm zum Hitlergruß erhoben, blickt er trunken und stier in die Kamera.
Die Klage vieler Westdeutscher, dass sie trotz mehrjährigen Aufenthaltes in Ostdeutschland bei den Einheimischen keinen Anschluss gefunden hätten, wurde in den neunziger Jahren oft erhoben. Man finde keinen Zugang zu ihren "kleinen, privaten Cliquen", schrieb "Der Spiegel" anlässlich des resignierten Resümees, das ein westdeutscher Leihbeamter nach seiner vierjährigen Tätigkeit als Innenstaatssekretär Sachsen-Anhalts zog: "Wir Nachkriegsdeutschen aus Ost und West werden niemals ganz zusammenwachsen. Den Jüngeren mag es besser ergehen. Wer jemals eine Kantine im Osten besucht hat, weiß, wovon ich rede. Den Ostler erkennt man bereits bei Betreten des Raumes: Wie in der Kneipe oder im Restaurant duckt er sich zunächst, als warte er darauf, ,platziert' zu werden. Hat er sich dann zu einem Westkollegen an den Tisch gesetzt, beginnt dieser locker draufloszuplaudern. Der Ostler dagegen schaut erst einmal um sich, wer am Nebentisch mithören könnte. Die Angst scheint immer noch allgegenwärtig. Es herrscht das Prinzip Misstrauen, im Kleinen wie im Großen."
Wenig später erschien der Bericht einer Frau, die aus Wuppertal nach Frankfurt/Oder umsiedelte, weil ihr Mann dort die Chefarztstelle antrat. Gabriele Mendling veröffentlichte ihr Buch unter dem Pseudonym Luise Endlich - "Der Name Endlich, weil es eine Frau aus dem Westen endlich wagt, den Mund aufzumachen." Die Integration in der ostdeutschen Provinz, die Kommunikation mit den Einheimischen misslingt. Ihrem Bericht nach bewegen sich die Einheimischen so: "Unerwartet fuhr frühmorgens knatternd ein Auto auf das Grundstück. Zwei Männer in Arbeitskleidung versuchten sich an uns vorbeizuschleichen, sahen uns mit schiefen Blicken an und gaben uns die Hände. 'Firma Härend - wir sind die Teppichleger' kratzte sich der eine am Ohr, während der andere schnell im Haus verschwand." Ein vierter "scharrte mit dem Fuß im Lehmboden" während er von der Autorin zurechtgewiesen wird. Die Einheimischen zogen "Grimassen", noch häufiger wird "breit gegrinst". Der Text transportiert eine starke Empörung darüber, dass die Menschen und Zustände nicht so sind, wie zu Hause gewohnt, zeigt aber auch die Unfähigkeit der Ich-Erzählerin, mit dem Fehlen eines mittelständisch bis kleinbürgerlichen Milieus souverän umzugehen. Sie produziert einen geradezu sozialrassistischen Text, der an den Einheimischen kein gutes Haar lässt. Das Buch verkaufte sich über 60 000 Mal.
Konfliktträchtig waren auch zwei von Wissenschaftlern geäußerte Hypothesen, bei denen es um mehr als nur private Umgangsprobleme ging - nämlich um die in Ostdeutschland viel stärker als im Westen auftretenden fremdenfeindlichen und rechtsextremen Gewalttaten. Der westdeutsche Kriminologe Christian Pfeiffer trieb sozialisationstheoretische Ursachenforschung. In einem "Spiegel"-Artikel nannte er die "autoritäre Gruppenerziehung" als eine Ursache für die "Ich-Schwäche". Die Anpassung an den Gruppenzwang in Krippe, Kindergarten und Schule mindere die moralische Innensteuerung und fördere die Gewaltbereitschaft der Fehlsozialisierten. Im westlichen Mediendiskurs wurde diese Hypothese gerne rezipiert, berührte sie doch wesentliche Reibungsflächen zwischen dem ostdeutschen Lebensmodell, nach dem auch Mütter volle Berufstätigkeit anstreben und die Kinder in die Kinderkrippe, Kindergarten und außerschulische Bildungs- und Betreuungseinrichtungen geben, und dem westlichen Modell, nach dem die individuelle und häusliche Betreuung unter Hintansetzung der beruflichen Verwirklichung der Mutter als Normalität gilt. Eine von Pfeiffers Thesen, nach der es in der DDR üblich gewesen sei, elf Monate alte Babys auf den Topf zu zwingen, damit man sie im 13. Monat windelfrei in die Krippe bringen konnte, wurde in Ostdeutschland mit dem Etikett "Töpfchen-These" ironisiert. Für die Fachwissenschaft blieb Pfeiffers Hypothese, die institutionalisierte DDR-Erziehung als Erklärung für die hohe fremdenfeindliche Gewaltbereitschaft im Osten zu nutzen, umstritten. In der ostdeutschen Bevölkerung schlugen die Wogen hoch, sah man hier doch einen Frontalangriff auf die eigenen Lebenswerte. Nach 7526 empörten Anrufen bei der "Magdeburger Volksstimme" organisierte die Zeitung ein Streitgespräch mit Pfeiffer. Die Stimmung gibt schon die Überschrift des Berichtes der FAZ ausreichend wieder: "In der Löwengrube" . Ein ähnlich geteiltes und starkes Echo fand im Jahr 2000 ein Thesenpapier, indem die Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland als Produkt der DDR-Sozialisation gedeutet wurde.
Eine ähnliche Konfliktstruktur ergab sich 1999 nach der Veröffentlichung von "Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl" . Der Autor fragt, warum der "Aufschwung Ost" ausbleibt. Um diese Frage zu klären, wendet er sich den "existentiellen Lebensphilosophien der Bevölkerung" der DDR zu, die ganz offensichtlich die "deutschen Stammlande" wie durch einen "langwährenden Krieg niedergemacht" und auf das Niveau der "dritten Welt" heruntergebracht habe. Das Buch mit der programmatischen Forderung nach einem "Ende der Schonzeit" wurde im westdeutschen Diskurs, dessen Publikum vom anhaltenden ostdeutschen Wirtschaftsdesaster genervt war, begeistert besprochen, es verkaufte sich über 35 000 Mal. Roethes Erklärungsversuche und Lösungsvorschläge sind heute sehr modern: Das Bestreben des ostdeutschen Proletariats, die "Arbeitsfron" abzuschütteln, habe lange Tradition und sei auch heute noch eine Gefahr. Letztlich habe dieses Proletariat die DDR ruiniert: "Das Proletariat, kaum zur Herrschaft gekommen, hatte nichts anderes im Sinn, als Mühsal und Last abzuschütteln und den jüngst gewonnenen Status auszukosten (...). Millionen von Werktätigen waren sich sicher in dem Glauben, daß nun die Arbeitsfron vorbei sei." Die herrschenden Kommunisten seien nach dem 17. Juni 1953 gewissermaßen erpresst worden, denn nun habe sich "ein neuer, gleichwohl uneingestandener und latent bleibender Gesellschaftsvertrag (herausgebildet) (...): Wir, die Arbeiter und Bauern, erklären, die Macht der Partei nicht herauszufordern. Wir werden loyal sein, wenn ihr uns dazu zusichert, uns zu versorgen und von der Arbeitsfron zu befreien." Die Schuld könne nicht bei den in der DDR Herrschenden, sondern müsse bei den Beherrschten gesucht werden: "Die Masse der DDR-Bevölkerung hatte den Sirenenklang der sozialistischen Rundumversorgung wohl verstanden (...). Hätte das System zur Arbeit zwingen sollen, um schuldlos zu bleiben?"
Dass der Verfall der eigenen Kultur durch die initiativlosen ostdeutschen Landsleute verursacht werden könnte, beschäftigte im Jahr 2001 auch einen Leitartikler der FAZ: "Dabei hat der tatsächliche Aufschwung Ost etwas Künstliches. Denn ihm folgt kein Aufbruch der Menschen. Schon holt sich die Natur eben erst erschlossene, aber ungenutzte Gewerbegebiete zurück. Das voller Elan vor ein paar Jahren eröffnete Gasthaus steht schon wieder leer. Am neu gebauten Parkplatz senken sich längst die Steine ab." Hier werden starke Kollektivsymbole benutzt: Die Kultur fällt an die Natur zurück, wenn sie durch Bürger- oder Kolonistenfleiß nicht ständig reproduziert wird.
Die Konstruktion der Ostdeutschen: Regeln eines Diskurses
Die Konstruktion der Bilder, Vorstellungen oder Stereotype von den Ostdeutschen verlief in den neunziger Jahren unter ganz bestimmten Bedingungen. Diese beeinflussten die inhaltliche Qualität der Stereotypenkonstruktion ebenso, wie sie zu deren Verbreitung und Geltung beitrugen.
Erstens: Die Interpretation der vermuteten Andersartigkeit der Ostdeutschen geschah zunehmend unter den Auspizien der Fragestellung, warum das, was bislang erfolgreich funktionierte und weitgehend akzeptiert wurde, nämlich soziale Marktwirtschaft und Demokratie, bei den Ostdeutschen nicht ebenso funktionierte und von ihnen nicht gleichermaßen wie im Westen angenommen wurde. Diese Fragestellung fokussierte das Interesse auf die Aufdeckung jener Eigenarten, die für diese Dysfunktionen verantwortlich sein könnten, also auf die Defizite der Ostdeutschen.
Zweitens war damit ein psychologisierender Fokus eingenommen. Es ging um "Prägungen", "Sozialisation", "seelische Deformation", "Mentalität", "Verhaltensweisen", also um Konstrukte, die sich nur schwer mit Fakten und Daten operationalisieren lassen - ganz anders als beispielsweise zeitgeschichtliche Untersuchungen zu institutionellen Strukturen oder zur Herrschaftsausübung in der DDR. Dennoch fühlten sich viele Disputanten zur Erörterung dieser "weichen Faktoren" berufen. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Konzentration auf die Defizite ostdeutscher Sozialisation den Disputanten die kritische Reflexion des politischen und wirtschaftlichen Systems, mit dem sie sich identifizierten, weitgehend ersparte.
Drittens gab und gibt es enorme strukturelle und personelle Asymmetrien bei der Erörterung der Frage, welche Eigenheiten den Ostdeutschen und ihrer Alltagskultur zuzuschreiben sind. Die überregionalen Medien sind westdeutsche, und die für das ostdeutsche Fünftel der Bevölkerung produzierten Regionalmedien gehören westdeutschen Eigentümern und werden westdeutsch geführt. In den Geistes- und Sozialwissenschaften der neuen Bundesländern dominiert westdeutsches Personal , ebenso an anderen Schaltstellen der Gesellschaft.
Viertens: Auch wenn das ostdeutsche Fünftel der Bevölkerung die kleinere und auch strukturell in jeder Hinsicht die schwächere Gruppe ist und hierzu insbesondere auf der medialen Ebene keinen Gegendiskurs entfalten konnte - und insofern als "Diskurs-Opfer" anzusehen ist, sind doch auf einer symbolischen Ebene auch die Westdeutschen Opfer geworden - Opfer der Ostdeutschen.
Was tat - um in diesem Sprachbild zu bleiben - der Osten dem Westen und die Ost- den Westdeutschen an? - Die Ostdeutschen grenzten sich von den Westdeutschen und ihrer Lebensweise relativ stark ab, obwohl der größte Teil der Ostdeutschen sich für die rasche und vollständige Übernahme des westdeutschen Modells entschieden hatte und die Westdeutschen im Osten - als Aufbauhelfer, als Vorgesetzte in der Administration und als Akteure in der Wirtschaft - nun genau diese Wahlentscheidung umsetzten. Darüber hinaus verweigern die Ostdeutschen mehrheitlich den Institutionen der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaates ihr Vertrauen. Demokratie und soziale Marktwirtschaft haben im Osten ein anderes als das vertraute Gesicht, sie funktionieren hier nicht mit den gewohnten Effekten. Die Westdeutschen hingegen hatten mit diesem System über mehrere Generationen hinweg stabile Erfolge erzielt. Sie schrieben diese Erfolgsgeschichte vor allem "ihrer" damals "richtig getroffenen Entscheidung" für das "richtige" System zu - weniger der historischen Sondersituation in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Ihr Selbstbild und ihre Wertvorstellungen waren eng mit diesem wirtschaftlichen und politischen Erfolgsmodell verbunden. Durch die Misserfolge dieses Systems im Osten waren die Westdeutschen in diesem wichtigen Teil ihrer Wir-Identität nachhaltig in Frage gestellt worden. Diese Konstellation ist bis heute nicht geeignet, das Verhältnis zwischen der west- und der ostdeutschen Bevölkerungsgruppe zu entspannen. Erfolg verbindet, Misserfolg trennt. Von "Brüdern und Schwestern" war sehr bald keine Rede mehr.
Der oben vorgenommene tentative Zugriff auf die affektive Ebene fragt danach, inwieweit der Beitritt der Ostdeutschen die Westdeutschen vereint hat. Mit Blick auf die anderen Deutschen im Osten schienen auch die bis dahin in verschiedenen Diskursen der bundesdeutschen Gesellschaft stark differenzierten Gruppen stärker zusammenzufinden. Ein westdeutscher Beobachter sprach rückblickend von einem "Konsensschwall" , der den 1989 erreichten Stand einer differenzierten und kritischen Selbstreflexion der politischen Kultur der Bundesrepublik fortspülte. Die Fremdheitserfahrungen mit den Ostdeutschen ließen nicht nur die Westdeutschen sich einander näher fühlen, sondern machten auch drastisch deutlich, inwieweit sich viele als kapitalismuskritisch verstehende Linke inzwischen mit der Bundesrepublik identifiziert hatten. Ehemalige Maoisten fanden sich mit hanseatischen Unternehmern, ehemalige Spontis mit süddeutschen Liberalen und einstige Jusos mit rheinischen Konservativen im gemeinsamen Kopfschütteln über die Ostdeutschen. Nichts hat die Westdeutschen so geeint wie der Beitritt der Ostdeutschen. Möglicherweise ist dieser von den Begriffen und Metaphern uniforme und auch affektiv gleich gestimmte Diskurs zu den Ostdeutschen eines der noch unbekannten Dokumente westdeutscher Wir-Identität.
In einem derart aufgeladenen Spannungsverhältnis dient eine bestimmte tendenziöse Konstruktion vom Anderen der Stabilisierung des Selbst, also der eigenen personalen und der Wir-Identität. Das, was man dem Anderen zuschreibt, ist oft die negative Form dessen, was man selbst gerne darstellt, beziehungsweise worauf man stolz ist. Alteritäten sind keine objektiven Eigenschaften, sie existieren nur "in der intersubjektiven Interaktion, bei der sich erst das Selbst und dann das Andere, das Eigene und Fremde, in einer Kommunikationssituation modellieren können (...) und sich das Ich als das Andere eines anderen Ich erlebt. (...) Diese kommunikative Relationierung läßt sich auch auf eine kollektive Ebene übertragen." Das Bild, dass sich die Westdeutschen von den Ostdeutschen machten und machen, ist zu großen Teilen eine Alteritäts-Konstruktion. Den Ostdeutschen werden jene Eigenschaften zugeschrieben, welche die Westdeutschen - wenn man ihrem Eigenbild folgt - erfolgreich abgelegt haben, nämlich Autoritarismus und gefügige Verantwortungslosigkeit, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Indifferenz gegenüber dem Nationalsozialismus.
Die westdeutschen Ost-Diskurse sind durch unterschiedliche Konjunkturen und Themen geprägt und weisen bei aller Varianz doch immer wieder gleichbleibende Muster, Diskursregeln , auf, nach denen sie die Eigenarten der Ostdeutschen konstruieren. Zu diesen Regeln gehört die Erzeugung einer oft impressionistisch aufgeladenen und quasi ontologisierten Andersartigkeit und Fremdheit im Bild von den Ostdeutschen. Hierbei scheint es sich um Fremdheit in unfreundlicher, frustrierender, belästigender und - womöglich - gefährlicher Form zu handeln. Diese Wahrnehmung scheint fest verbunden zu sein mit der Gewissheit, dass diese andersartigen Ostdeutschen die letzten Relikte dessen sind, was den Westdeutschen wirklich Angst macht: die kommunistische deutsche Diktatur. Die DDR fällt gewissermaßen aus den "historischen Großerzählungen", aus dem verbreiteten Bild von deutscher Geschichte und dem deutschen Selbstverständnis heraus. Die DDR ist das ganz Andere. Fast scheint es, als sehe man in der vor 15 Jahren von ihrer Bevölkerung wegdemonstrierten Diktatur immer noch eine Gefahr, die mit ihren als Traditionsträgern überschätzten, ehemaligen Bürgern viel Unheil über die Bundesrepublik bringen kann. Man wundert sich über "die kollektive destruktive Kraft" , die der kleinen Gruppe der DDR-Sozialisierten heute noch zugeschrieben wird.
Denn 15 Jahre nach der Öffnung der Mauer und dem Beginn vom Ende der DDR scheinen die Stereotypen von den Eigenarten der Ostdeutschen noch so frisch wie zu Beginn der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte. Der jüngste Anlass, über die Sozialisation der Ostdeutschen zu sprechen, sind die in Ostdeutschland besonders massiven Proteste gegen die Durchsetzung der "Hartz-IV"-Gesetze. Bei der medialen Begleitung der ostdeutschen Proteste erklärt man dem Publikum, dass die Ostdeutschen aufgrund ihrer Herkunft aus dem Staatssozialismus von der falschen Annahme ausgingen, dass der Staat für die Arbeit verantwortlich sei. Die Darstellung der Protestler als typisch ostdeutsche politische Analphabeten, als Besitzstandswahrer, als Problemursache dient dazu, eine Debatte über die Situation und verschiedene politische Möglichkeiten mit deren Umgang zu vermeiden. Auch in diesem Zusammenhang funktioniert die Thematisierung der ostdeutschen Eigenarten als Stellvertreterdiskurs.
Die Ostdeutschen haben in den zurückliegenden Jahren bei ihrer Etablierung in einer völlig anderen wirtschaftlichen, administrativen und kulturellen Welt enorme und konstruktive Anpassungsleistungen vollbracht. Sie zeigten und zeigen Realitätssinn, Risiko- und Anstrengungsbereitschaft, Mobilität und Flexibilität. Über 22 Prozent der einst in der DDR Beschäftigten arbeitet heute in einem für sie völlig neuen Sektor - im Dienstleistungssektor. Die Gruppe der Selbständigen hat sich in den ersten fünf Jahren nach dem Beitritt fast verdreifacht. Vergleichbare Veränderungsschübe im Erwerbsleben hat noch kein Teil einer deutschen Bevölkerung erlebt. Das alles spielt in der aktuellen öffentlichen Diskussion aber noch immer eine marginale Rolle.
Es stellt sich die Frage, ob diese spezifische Wahrnehmung und diskursive Konstruktion der Ostdeutschen alternativlos war oder ob unter anderen historischen Bedingungen ein anderer Blick möglich gewesen wäre. Kontrafaktisch zum Verlauf des Transformationsprozesses könnte man sich das Szenario einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte denken. In diesem Falle würde aller Wahrscheinlichkeit nach weniger intensiv über die Andersartigkeit der Ostdeutschen und ihre sozialisatorische Mitgift gesprochen werden, und wenn, dann sicher in dem Sinne, dass die Ostdeutschen etwas Anderes und Bereicherndes in die Bundesrepublik eingebracht hätten. Der heute als defizitär dastehende Ostdeutsche, dem das Scheitern des "Aufbaus Ost" zugeschrieben wird, wäre dann vielleicht der "fremde Freund".