Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 03.01.2005
Adelheid von Saldern

Ein steinerner Weg

Zur Geschichte städtischer Selbstverwaltung
Die Geschichte der städtischen Selbstverwaltung ist engstens mit der Person des Freiherrn vom Stein (1757-1831) verbunden. Er gehört zu den wenigen Staatsmännern, die in allen Phasen deutscher Geschichte geschätzt wurden, selbst in der NS-Zeit. Stein zählt zu den großen preußischen Reformern des frühen 19. Jahrhunderts. Ihm ging es im Kern um die weitgehende Loslösung der Stadtverwaltung aus dem spätabsolutistischen preußischen Herrschaftsgefüge. Die Selbstheilungskräfte sah Stein im städtischen Bürgertum als den Trägern von Handel, Finanzen und langsam aufkommender Industrie. Um ein städtisches Innovationsmilieu zu schaffen, sollten alle unnötigen staatlichen Eingriffsmöglichkeiten abgeschafft werden.

Preußens Aufgeschlossenheit gegenüber Reformen resultierte zum einen aus der leeren Staatskasse, zum anderen aus der Angst, es könnte nach dem Vorbild Frankreichs auch hierzulande eine Revolution ausbrechen. Wie auch auf anderen Gebieten, wurden die preußischen Reformen, so die Städtereform von 1808, in der Folgezeit ein Stück weit zurückgenommen und die Staatsaufsicht über die Städte wieder verstärkt. Hinzu kam, dass das Städterecht in den einzelnen preußischen Provinzen, aber auch in ganz Deutschland unterschiedlich geregelt blieb.

Gleichwohl entwickelten sich die Städte im 19. Jahrhundert überall de facto zum gesetzlich legitimierten Herrschaftsgebiet des hausbesitzenden Bürgertums. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden allerdings die älteren Honoratioren-Verwaltungen durch eine schnell wachsende Kommunalbürokratie ersetzt und professionalisiert. Vergleichende zeitgenössische Erhebungen und Beobachtungen zeigen, dass die Handlungsspielräume von Stadt zu Stadt recht unterschiedlich genutzt wurden. Insgesamt zeichnet sich die Bilanz städtischer Selbstverwaltung im Zeitalter der Industrialisierung und Urbanisierung vielerorts durch eindrucksvolle Aktivitäten und Leistungen aus, die im Spannungsfeld von Gemeinwohldenken und Klasseninteressen standen. Die Verfolgung von Klasseninteressen wurde durch das Klassenwahlrecht oder andere undemokratische Wahlrechtsregelungen ermöglicht. Frauen hatten ebenfalls bis 1919 kein Wahlrecht, obwohl gerade sie auf dem Gebiet kommunaler Wohltätigkeit ehrenamtlich tätig waren.

Die mangelnde Bereitschaft in Stadt und Staat, die Stadtverfassungen zu demokratisieren, wurde mit dem Argument zu legitimieren versucht, dass allein eine unpolitische, über den Parteien schwebende, nur am städtischen Gemeinwohl orientierte Selbstverwaltung die Stadtentwicklung optimal vorantreiben könne. Hiermit war es nach bürgerlichem Selbstverständnis durch die Demokratisierung des Kommunalwahlrechts und den Einzug von Sozialdemokraten in die Stadtparlamente 1919 vorerst vorbei. Die Kommunalpolitik wurde zu einem umkämpften Feld der Parteien. In der großen Wirtschaftskrise um 1930 kam es zu Ansätzen, die politische Parteiendemokratie in den Kommunen erneut zu entmachten. Zu denken ist vor allem an das Änderungsgesetz der Berliner Kommunalverfassung von 1931. Unter einem solchen Aspekt gesehen war der 1933 erfolgte Übergang zum Führerprinzip fließend. Aus dem Konzept einer autoritären Kommunalverfassung wurde allerdings eine nach dem Führerprinzip geregelte, diktatoriale Einparteienherrschaft. Die Nationalsozialisten interpretierten die auf solchen Grundsätzen basierende Deutsche Gemeindeordnung von 1935 fälschlicherweise als die wahre Form von deutscher Selbstverwaltung, wie sie vorgeblich der Freiherr vom Stein verfochten habe.

Doch die Vereinnahmung des Freiherrn durch die Nationalsozialisten konnte diesem nichts anhaben: Fest verankert im kulturellen Gedächtnis des deutschen Bürgertums gelang es ohne viel Anstrengung, den christlich gesinnten Staatsmann in den 50er-Jahren wieder zu einer Leit- und Symbolfigur für Selbstverwaltung und Liberalität zu stilisieren. Dazu hatten die westlichen Besatzungsbehörden bereits realiter die Grundlagen geschaffen. Sie wollten keinen zentralistischen Einheitsstaat, sondern reaktivierten die föderalistische Tradition inklusive kommunaler Selbstverwaltungen - und das alles seit 1949 auf der Basis grundgesetzlich verankerter demokratischer Repräsentativverfassungen. Die Kommunalverwaltungen, die vielfach von personeller Kontinuität zur NS-Zeit geprägt waren, taten sich indessen schwer, wieder Macht an die Stadtparlamente abzugeben, Sozialdemokraten in der städtischen Bürokratie vorrücken zu sehen und vom trügerischen Leitbild einer unpolitischen Kommunalpolitik Abstand zu nehmen. Bevor der Generationenwechsel einsetzte, blieb die kommunale Parteiendemokratie deshalb für zahlreiche Kommunalbeamten gewöhnungsbedürftig.

Herausforderung Demokratisierung

Kaum war die kommunale Parteiendemokratie richtig eingespielt und mental verkraftet, machte sich seit den späten 60er- und in den 70er-Jahren der Anspruch der Bürger und Bürgerinnen auf direkte Partizipation an den kommunalpolitischen Entscheidungen bemerkbar. Die Kommunalverwaltungen und Stadtparlamente empfanden diesen außerparlamentarischen Mitsprachewillen und die darauf beruhenden Bürgerinitiativen als massive Herausforderung. Schließlich lernten sie jedoch, auf solche Mitbestimmungswünsche durch intensivierte Kommunikationsangebote und Bekundungen grundsätzlicher Dialog- und Aushandlungsbereitschaft mehr oder weniger produktiv umzugehen.

Von solchen Herausforderungen konnte in der DDR in jener Zeit noch keine Rede sein. Auf der Basis des so genannten demokratischen Zentralismus war 1949 ein zentralistischer Einheitsstaat errichtet, die kommunale Selbstverwaltung abgeschafft und zudem die Kommunalverwaltung mit der SED verzahnt worden. Was blieb, war die Stadt als Sozial- und Kulturraum, außerdem Restfunktionen der Stadtverwaltung und der Stadtverordnetenversammlungen, die für das alltägliche Zusammenleben der Menschen jedoch nie ganz bedeutungslos wurden. 1989 waren es nicht zufällig die Stadtzentren, in denen sich eine kritische Öffentlichkeit artikulierte, in denen Bürgerinnen und Bürger für Freiheit und Demokratie demonstrierten und dabei auch gegen die undemokratische Handhabung der Kommunalwahlen protestierten.

Wer die Geschichte der Selbstverwaltung im 20. Jahrhundert verfolgt, muss freilich noch auf einen ganz anderen Aspekt eingehen: Gemeint sind die mannigfachen Aufgaben der modernen, flächendeckenden Staatsverwaltung, die eine komplizierte Steuerverteilungspolitik zwischen Bund, Land und Kommunen nach sich zog und dabei die autonom zu bestimmenden finanziellen Handlungsräume der Kommunen beschränkte. Schon die Erzbergersche Finanzreform von 1920 hatte den Stein ins Rollen gebracht. Die Große Finanzreform von 1969 intensivierte das Steuerverbundsystem zwischen Kommunen, Land und Bund. Dadurch sollten die Kommunalfinanzen gestärkt, die Konjunkturanfälligkeit verringert und die Planungsmöglichkeiten gesteigert werden. Größere Investitionen bedurften allerdings stets der Mischfinanzierung, das heißt der finanziellen Beteiligung durch Land und Bund. Wegen der finanzpolitischen Abhängigkeiten der Gemeinden sprachen Politikwissenschaftler seit den 70er-Jahren von lokaler Politik anstelle von Kommunalpolitik und Selbstverwaltung. Hiermit signalisierten sie zudem einen Paradigmenwechsel, insofern es galt, die Gesamtheit des politischen und gesellschaftlichen Systems auf lokaler Ebene in den Blick zu nehmen. Die Gebietsreform der 60er- und frühen 70er-Jahre beendete in rund 16.000 Gemeinden die herkömmliche Form der Selbstverwaltung.

Die leeren Kassen zwangen die Kommunen in der Folgezeit außerdem, nicht nur vermehrt auf Land und Bund zu sehen, sondern auch auf die Wirtschaft: Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Modell einer möglichst umfassenden, selbstbestimmten und selbstplanenden Dienstleistungskommune dominierte, prägten am Ende des 20. Jahrhunderts neoliberale Vorstellungen das Leitbild. Auf Grund dieses Paradigmenwechsels und angesichts massiver Finanzprobleme beschritten die Kommunen den Weg, der zur Reprivatisierung kommunaler Einrichtungen und zur Ökonomisierung der Stadtpolitik, aber auch zu einer Verwaltungsmodernisierung führte.

Doch sorgten die Städte durch ihre oftmals glanzvollen Selbstrepräsentationen bei Stadtjubiläen dafür, dass trotz des einschneidenden strukturellen Wandels das traditionelle Bild kommunaler Selbstverwaltung in der Öffentlichkeit nicht ganz verblasste. Mit guten Gründen konnte und kann nach wie vor auf den Freiherrn vom Stein verwiesen werden, wenn es nämlich um die Geschichte von Emanzipation und Liberalität sowie um das Aufzeigen eines historischen Beispiels geht, bei dem die Mobilisierung ziviler Kräfte im Mittelpunkt steht. Doch sollte dabei nicht vergessen werden, dass sich in den zurückliegenden 200 Jahren der Bürgerbegriff entscheidend verändert hat. Meinte der Freiherr vom Stein mit dem Begriff des Bürgers im Kern den männlichen, bürgerlichen Haus- und Grundbesitzer, so umfasst der heutige Bürger-Begriff alle Bewohner und Bewohnerinnen inklusive der Migranten und Migrantinnen. Darauf beruht zumindest die Vision einer aktiven, gemeinwohlorientierten Bürgerkommune im Rahmen einer sich weitgehend selbstregulierenden Zivilgesellschaft.

Adelheid von Saldern ist emeritierte Professorin für Neuere Geschichte an der Uni Hannover.


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