Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 03.01.2005
Andreas Kost

Der Siegeszug der Süddeutschen Ratsverfassung

Ein Überblick über die verschiedenen kommunalpolitischen Strukturen in den Bundesländern

Kommunalpolitik ist Ländersache. Da innerhalb des konsequent föderalistisch aufgebauten Systems der Bundesrepublik die Gemeinden zur Ebene der Länder gehören, sind es sie, die die Rahmenbedingungen für die Gemeinden festsetzen. Dies gilt jeweils für ihr Gebiet und bezieht sich auf die Größe, den Umfang ihrer Aufgaben, die Einordnung in Verwaltungsgemeinschaften, in Landkreise und Bezirke sowie vor allem auch für das als Innere Gemeindeordnung bezeichnete institutionelle Arrangement. Die Länder entscheiden auch, welche Staatsaufgaben - zweckmäßigerweise - den Kommunen zur Erledigung übereignet werden.

Demgegenüber legt der Bund - in Artikel 28 des Grundgesetzes - allgemeine Prinzipien inklusive einer institutionellen Selbstverwaltungsgarantie für die Gemeinden und Gemeindeverbände fest, die man als Demokratiegebot und als Homogenitätsprinzip begrifflich fassen kann. Darüber hinaus wirkt der Bund bei der Festsetzung des Steueraufkommens für die Gemeinden mit. Die Länder sind über den Bundesrat dabei gleichzeitig die Sachwalter ihrer Gemeinden, die selbst über kein Mitwirkungsrecht auf Bundesebene verfügen.

Es kann eigentlich nicht verwundern, dass bei der alleinigen Zuständigkeit der Länder für ihre Gemeinden die Kommunalverfassungen recht unterschiedlich aussehen. Zugespitzt: Potenziell hat jedes Land seine eigene Kommunalverfassung. Dabei können die Unterschiede verschieden stark ausgeprägt sein, und es können unterschiedliche Muster miteinander konkurrieren. Es kann aber auch ein Angleichungsprozess stattfinden, in dem die Länder voneinander lernen. Das Letztgenannte wäre eine positive Folge des Föderalismus, wenn man ihn denn als Konkurrenzföderalismus versteht.

Kennzeichnend für die politische Entwicklung der deutschen Kommunen in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist vor allem die Reform der Kommunalverfassungen. Zu beobachten ist dabei eine starke Angleichung der kommunalen Verfassungssysteme. Das Ergebnis des institutionellen Reformprozesses hat aber nicht überall zu einer Vereinheitlichung der kommunalen Verfassungssysteme geführt, was weder zu erwarten war noch unbedingt wünschenswert erscheint. Man kann auch nicht davon ausgehen, dass diese Entwicklung bereits abgeschlossen ist. Allerdings hat der bisherige Reformprozess einen teilweise spektakulären Verlauf genommen. Diese dynamische Phase dürfte weitgehend abgeschlossen sein. Was noch bevorzustehen scheint, sind eher graduelle Veränderungen und Verbesserungen.

Der Anstoß für die Änderungen der Kommunalverfassungen in den alten Bundesländern seit Beginn der 90er-Jahre kam von außen, nämlich von den neuen Bundesländern her, verbunden mit der kritischen Forderung der Bürger nach erweiterten Beteiligungsmöglichkeiten. Dies korrespondierte dann mit einer (nicht immer ganz freiwilligen) Einsicht der verantwortlichen Politiker in den alten Bundesländern, die Kommunalverfassungen reformieren zu müssen und dabei dem Partizipationsbedürfnis der Bevölkerung Rechnung zu tragen.

Die dadurch erzeugten dynamischen Entwicklungen wurden in den verschiedenen Gemeindeordnungen schließlich institutionell gefasst. So haben sich die Rahmenbedingungen von Kommunalpolitik im vergangenen Jahrzehnt grundlegend geändert. Einmal in Richtung auf ein Mehr an Demokratie: durch die Einführung der Direktwahl des Bürgermeisters und des Referendums - beides bundesweit - in allen Flächenstaaten. Zum anderen ist die Stellung des Hauptverwaltungsbeamten (des Bürgermeisters) gestärkt worden, nicht nur durch einen Zugewinn an Kompetenzen, sondern vor allem durch die Volkswahl selbst, die dem Amtsinhaber ein höheres Maß an Legitimation verschafft.

Die Einführung der Direktwahl der Gemeindespitze setzte notwendigerweise eine Änderung der Kommunalverfassung in jenen Ländern voraus, deren Bürgermeister von der Kompetenzausstattung her schwach waren. Denn die Volkswahl bedeutet einen Zuwachs an Legitimation, der mit entsprechenden Handlungserwartungen der Bürger einhergeht. Dies betraf sowohl die Länder mit Norddeutscher Ratsverfassung wie die mit Magistratsverfassung. Die Norddeutsche Ratsverfassung zeichnete sich durch einen starken Rat und einen verhältnismäßig schwachen Verwaltungschef aus. Die drei Führungsfunktionen Vorsitz im Rat, Leitung der Verwaltung und Vertretung der Gemeinde wurden auf zwei Amtsinhaber aufgeteilt. Der Vorsitzende des Rats wurde aus dessen Mitte gewählt und trug den Titel (Ober-)Bürgermeister.

Die Magistratsverfassung ist ein gewaltenteiliges Modell, das dem parlamentarischen System sehr nahe kommt: mit der Stadtverordnetenversammlung als Volksvertretung und dem Magistrat sowie mit dem Oberbürgermeister an der Spitze als Stadtregierung. Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen (vormals Norddeutsche Ratsverfassung) und Schleswig-Holstein (vormals Magistratsverfassung) sind den Weg konsequent gegangen und haben sich dem Modell der Süddeutschen Ratsverfassung mehr oder weniger stark angepasst.

Für die Süddeutsche Ratsverfassung kennzeichnend ist die starke Stellung des Bürgermeisters, die bereits in seiner Kompetenzausstattung zum Ausdruck kommt. Das heißt, er ist stimmberechtigter Vorsitzender des Rats, Chef der Verwaltung sowie Repräsentant und Rechtvertreter der Gemeinde. Hinzu kommt als wesentliches Element die Direktwahl des Bürgermeisters. Baden-Württemberg und Bayern sind die Protagonisten dieses Verfassungstyps, und die fünf ostdeutschen Bundesländer übertrugen ihn auf ihre regionalen Gegebenheiten, unter Einbeziehung jeweiliger spezifischer Aspekte. Der vierte Typus, die Bürgermeisterverfassung in Rheinland-Pfalz und im Saarland, gab dem Bürgermeister im wesentlichen dieselben Kompetenzen wie die Süddeutsche Ratsverfassung, nur dass er hier nicht vom Volk, sondern vom Rat gewählt wurde. Seit Einführung der Direktwahl in beiden Ländern ist der Unterschied praktisch hinfällig geworden. Somit hält nur Hessen an der Magistratsverfassung fest.

Neben der Kommunalverfassung stellt wohl die jeweilige Gemeindegröße die wichtigste Variable für die Kommunalpolitik dar: für die Inhalte, für den Verlauf und für den Stil von Kommunalpolitik. In welchem Maße der Parteienstaat die Kommunalpolitik erobert hat, ist nicht zuletzt von der Größe der Gemeinde abhängig. Unterschiede in der Kommunalverfassung nach Größentypen gibt es in Deutschland nicht. Die jeweilige Gemeindeordnung gilt für alle Gemeinden in jedem Land gleich.

Im Einzelnen stellen sich die Größenverhältnisse folgendermaßen dar: In Deutschland gibt es insgesamt lediglich 39 Städte mit mehr als 200.000 Einwohnern, die man - nach den kommunalen Gebietsreformen - noch mit Fug und Recht als "echte" Großstädte ansprechen kann. Davon liegen allein 16 in Nordrhein-Westfalen. In diesen 39 Städten leben gerade einmal 24,4 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik, gegenüber 42,4 Prozent, die in Gemeinden mit bis 20.000 Einwohnern zu Hause sind.

Zieht man nun ein Zwischenfazit und wagt gleichzeitig einen Ausblick, lässt sich ein gravierendes Grundproblem nicht wegdiskutieren: Für Städte und Gemeinden wird es immer schwieriger, politische Gestaltungsräume zu eröffnen, weil die durch ungünstige ökonomische und politische Trends dramatisch zunehmenden finanziellen Belastungen eine Vielzahl von Kommunen in Deutschland immer stärker auf die Erfüllung ihrer von höherer Ebene zugewiesenen Pflichtaufgaben beschränken. Eine wirklich umfassende und verteilungsgerechte Gemeindefinanzreform ist überfällig. Andererseits ist eine Entwicklung zur Dominanz des Bürgermeisters zu beobachten, die erweiterte Steuerungspotenziale und effizienteres Wirtschaften beinhalten kann. Flankiert wird diese Tendenz von der Einführung von Referenden als weiterem direktdemokratischen Element in die Gemeindeordnungen. In allen Flächenstaaten kann jetzt die Bürgerschaft entscheidend anstelle des Rates treten.

Das ist nicht unbedingt als Entwicklung hin zur plebiszitären Demokratie auf Gemeindeebene zu interpretieren. Vielmehr hat der Rat lediglich Konkurrenz bekommen, was ihn zwingt, besser zu werden. Das heißt auch, sich stärker an den Wünschen der Wähler zu orientieren. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als direktdemokratische Elemente tragen so ihren Teil dazu bei, die repräsentative Demokratie auf Gemeindeebene in ihrer Funktionsfähigkeit zu verbessern. Dafür allerdings muss das Schwert, das über den Köpfen des Rats hängt, scharf genug sein.

Der Autor ist Referent in der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen und Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.

Gemeinsam mit Hans-Georg Wehling hat er im Auftrag der Landeszentralen für politische Bildung das Buch "Kommunalpolitik in den deutschen Ländern" herausgegeben. Es vergleicht in Einzelbeiträgen die unterschiedlichen kommunalpolitischen Strukturen in den Bundesländern. Das Buch ist bei den Landeszentralen und der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.