Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 03 / 17.01.2005
Susanne Kailitz

Die Sucht, die niemand sieht

1,5 Millionen Deutsche sind medikamentenabhängig
Maria M. ist süchtig. Doch niemand, der die gepflegte Frau ansieht, würde das annehmen. Die Sucht der Angestellten ist nicht schmuddelig wie die der Drogenabhängigen oder Alkoholiker. Maria M. besorgt sich ihren Stoff ganz legal in der Apotheke, sie bewahrt ihn in ihrer Handtasche auf, jeder, der will, kann ihn sehen: Maria M. ist medikamentensüchtig, sie ist abhängig von Beruhigungsmitteln.

Rosemarie Heger, Sozialpädagogin in der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle "Die Gierkezeile" arbeitet seit vielen Jahren mit Frauen wie Maria M. "Das Tückische an der Medikamentenabhängigkeit ist, dass es eine so stille Sucht ist. Die meisten Frauen haben doch ganz selbstverständlich Kopfschmerztabletten in ihrer Handtasche - und niemand, oft auch sie selbst nicht, würde auf die Idee kommen, dass sie davon abhängig sind." Dennoch ist die Zahl der Betroffenen hoch und Experten gehen davon aus, dass die Medikamentenabhängigkeit nach dem Alkoholismus auf Platz zwei der Suchtkrankheiten rangiert. "Nach offiziellen Zahlen der deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren haben wir in Deutschland ungefähr 1,5 Millionen Menschen, die abhängig von Medikamenten sind - und man kann davon ausgehen, dass die Dunkelziffer viel höher ist", erklärt Professor Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren unterscheidet fünf süchtigmachende Medikamentengruppen: Schmerzmittel, Hustenmittel, Schlafmittel, Beruhigungsmittel und Aufputschmittel. Etwa 80 Prozent der Betroffenen sind abhängig von den verschreibungspflichtigen Benzodiazepinen, mit denen etwa Angstzustände und Schlafstörungen behandelt werden. Diese Präparate werden dann zum Risiko, wenn sie länger als sechs Monate lang regelmäßig eingenommen werden.

Von der stillen Sucht betroffen sind vor allem Frauen. Während Männer eher zum Alkohol greifen, nehmen Frauen Pillen, die ihnen helfen, die Anforderungen des Beruf- und Privatlebens zu meistern. Heger: "Sie sind so sozialisiert, dass sie immer voll funktionieren wollen. Viele der medikamentenabhängigen Frauen sind ganz perfektionalistische Persönlichkeiten." Diese Beobachtung hat auch Andreas Heinz gemacht. "Unsere Patienten sind häufig sehr gewissenhaft, Menschen, die immer ihr Bestes geben wollen. Sie merken, dass die Medikamente - oft in Kombination mit Koffein - ihre Leistungsfähigkeit steigert und die Reaktionszeit verkürzt. Diesen Zustand will man dann natürlich erhalten."

Der Weg zur Sucht verläuft im Falle von Medikamentenabhängigkeit meist still und unbemerkt. Das Medikament wird immer wieder eingenommen, um Symptome zu behandeln. "Anders als etwa bei Antidepressiva, die erst nach längerer Einnahmezeit wirken, versetzen Benzodiazepine oder Schmerzmittel die Betroffenen schnell von einem unangenehmen in einen angenehmen Zustand. Der Körper merkt sofort, dass die Mittel wirken und helfen", so Heinz. Doch nach einiger Zeit gewöhnt das Gehirn sich an die Substanzen und die Dosis muss erhöht werden, damit das Medikament wirkt. An dieser Stelle setzt ein Teufelskreis ein: "Wenn die Medikamente abgesetzt werden, tritt speziell im Fall von Kopfschmerzmedikamenten ein Absetzeffekt in Form von medikamenteninduzierten Kopfschmerzen ein. Die lösen dann den ursächlichen Schmerz ab - und führen dazu, dass die Patienten wieder zu den Medikamenten greifen, um schmerzfrei zu sein. Ich habe eine Frau behandelt, die seit über 30 Jahren Migränemittel in extrem hohen Dosen eingenommen hat, ohne zu wissen, dass ihre Kopfschmerzen gar nicht mehr aus der Migräne resultierten, sondern aus dem Medikamentenmissbrauch." Auch das Absetzen der Benzodiazpine geht oft mit einer Verstärkung der ursächlichen Symptome einher: Unruhe und Angstzuständen. Diese Mechanismen machen es den Betroffenen schwer, ihre Sucht überhaupt zu erkennen. Rosemarie Heger erlebt immer wieder Menschen, denen es unendlich schwer fällt, sich einzugestehen, dass sie abhängig sind. Oft seien es die Partner oder andere Familienangehörige, die bemerkten, dass etwas schief laufe. "Der Partner ist da und doch nicht da - die Medikamente wirken wie eine Gummiwand, die Nähe unmöglich macht." Die Symptome einer Medikamentenabhängigkeit sind zudem diffus: Appetitlosigkeit, Vergesslichkeit und Gleichgültigkeit sind Anzeichen, die oft nicht wirklich ernst genommen werden. Und wer reflektiert in der Hektik des Alltags schon darüber, wieviele Kopfschmerztabletten er in den vergangen Tagen eingenommen hat? "Die Krankheitseinsicht ist in diesem Fall sehr schwierig. Man bekommt die Medikamente ja oft vom Arzt und konsumiert sie in dem guten Glauben, sie wirklich zu brauchen - und dieser Eindruck wird durch die Entzugserscheinungen verstärkt."

Suchtexperten beklagen häufig, dass Ärzte allzu sorglos zum Rezeptblock greifen - die Tatsache, dass zwei Drittel der betroffenen Patienten immer wieder zu ein- und demselbenen Arzt gehen, um sich ihre Medikamente wieder und wieder verschreiben zu lassen und eben nicht das vielzitierte "Doctor-hopping" betreiben, gibt ihnen recht. Die Einsicht, dass die Helfer, die den Alltag überstehen lassen, abgesetzt werden müssen, ist für die Betroffenen entsprechend bitter und geht mit vielen Ängsten einher. Der Entzug ist jedoch dringend erforderlich: Zu den Auswirkungen der Abhängigkeit gehören Gedächtnisstörungen und Reaktionsverzögerungen ebenso wie Leber- , Magen- und Nierenschäden sowie Gefäßveränderungen. Die Therapie ist abhängig vom Medikamententyp. Während Kopfschmerzmittel auf einen Schlag abgesetz werden sollten, verursachen Beruhigungsmittel oft starke Nebenwirkungen, die nur durch das langsame Ausschleichen aus dem Körper gemildert werden können. "Bei einem solchen massiven Entzug empfiehlt sich eine stationäre Therapie", rät Andreas Heinz. Diese ein- bis vierwöchige Therapie solle möglichst in einer psychiatrischen Station absolviert werden.

Häufig stecken hinter der Abhängigkeit behandlungsbedürftige Probleme wie Panikattacken, Ängste oder Depressionen. Die Behandlung der Medikamentenabhängigkeit führt meist vieles, das zunächst unentdeckt war, zu Tage. Rosemarie Heger: "Mit der Medikamentenabhängigkeit wird oft etwas zugedeckt, das belastet. Wer Betäubungsmittel nimmt, macht ja im wahrsten Sinne des Wortes dicht. Deshalb bedeutet die Therapie immer auch, dass das ganze Leben hinterfragt und meist auch grundlegend verändert werden muss."

Die Autorin ist Volontätin bei der Wochenzeitung "Das Parlament".


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