Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 09 - 10 / 28.02.2005
Gieri Cavelty

Handel und Wandel und Wilhelm Tell

Zwei Bücher zu Europa "mit einer Prise Schweiz"

Außenpolitik bedeutet für die Schweiz seit jeher auch und vor allem Außenwirtschaftspolitik. Wie hoch im Kurs dieser "sacro egoismo" in Bern auch nach dem Schweizer UNO-Beitritt im September 2002 ist, zeigt die 15 Monate später erfolgte Wahl Christoph Blochers in die Landesregierung, den Bundesrat: Während der 90er-Jahre hat der Pfarrerssohn als Politiker per Beschwörung der angeblich gottgewollten Neutralität maßgebend zur Abstinenz der Eidgenossenschaft von der EU beigetragen. Gleichzeitig operierte er weltweit als Chemieunternehmer; seine Familie zählt mit einem geschätzten Vermögen zwischen zwei bis drei Milliarden Schweizer Franken zu den reichsten des Landes. An Blocher gibt es selbst dann kein Vorbei.

Jürg Altwegg widmet dem populistischen Justiz- und Polizeiminister in seiner Anthologie mit Beiträgen von Politikern, Intellektuellen, Diplomaten und einem Ballonfahrer einen luziden Essay. Darin schildert der Schweizer Kulturkorrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Blocher als eine Art Rattenfänger von Helvetien. Da die Tellensöhne und -töchter kurz vor Ende des Kalten Krieges an der Urne über Beibehalt oder Abschaffung der Armee befinden mussten, seien sie nahezu kollektiv in eine Identitätskrise gefallen. "Blocher war mit einem intakten Feind-, Welt- und Schweizbild zur Stelle. Wie die marxistischen Intellektuellen der frühen 68er-Jahre versteht er die Politik als Kulturkampf um die geistige Hegemonie." Das aber habe nichts Positives bewirkt, im Gegenteil: Der heutige Bundesrat präsentiere sich "als unwürdiges, gespaltenes Kabinett, das nach jeder Abstimmung als Verlierer dasteht".

Was aber sind Helvetias Leistungen und Möglichkeiten? Die beiden Alt-Parlamentarierinnen Gret Haller und Lili Nabholz reflektieren über ihre Tätigkeit als Troubleshooter in zwei sehr verschieden gelagerten ethnischen Konflikten. Die Sozialdemokratin Haller amtete zwischen 1996 und 2000 als Ombudsfrau für Menschenrechte in Sarajevo. Das in ihrer Heimat gepflegte Nebeneinander der Kulturen könne auf den Balkan gewiss nicht unmittelbar übertragen werden. Allerdings habe "ein Verweis auf die schweizerische Praxis" Einwände immer sehr rasch zum Verstummen gebracht.

Als "Impuls gebendes Beispiel" lässt die freisinnige Lili Nabholz "die schweizerische Art des Umgangs mit Minderheiten" ebenfalls gelten. In ihrer Funktion als Berichterstatterin des Europarates zur Sprachenfrage in Belgien ist sie indes zur Einsicht gelangt, dass Schweizer Vorschläge in Westeuropa nur in dem Fall Gehör finden, wenn diese sich ihrerseits an europäischen Rahmenabkommen orientieren.

Anders die Erfahrungen von Bruno Kaufmann: Das Gründungsmitglied des Bürgernetzwerkes "eurotopia" nimmt für sich und seine Weggefährten in Anspruch, Europa um "eine Prise Schweiz" bereichert zu haben. In seinem etwas umständlichen Aufsatz schildert er die jahrelange Lobbyarbeit, bis endlich ein unverbindliches Initiativrecht in den EU-Verfassungsentwurf aufgenommen wurde.

Unverblühmt

Der Lausanner Psychiater Bertrand Piccard, der als erster Mensch die Erde in einem Ballon umkreist hat, sieht Chancen einer umwelttechnologischen Vorreiterrolle der Schweiz. Dagegen solle das Land nicht dieselben Irrtümer begehen wie seine Nachbarn: "Wenn man sieht, wie es in politischer Hinsicht um Europa steht, kann man die Gegner eines EU-Beitritts verstehen. Und noch mehr Verständnis muss man haben, wenn man an die wirtschaftlichen Verhältnisse denkt. Viele Staaten Europas stehen am Rand des Ruins. Es gibt für die Schweiz keinen Grund, sich an ihrem Bankrott zu beteiligen."

In welchem Echoraum solche Worte überhaupt fallen können, erfährt man in "Bilderkult und Bildersturm", dem zentralen Text des jetzt auch im Softcover vorliegenden Buches "Die tintenblauen Eidgenossen" mit Essays, Reden und Schriftstellerportraits aus der Feder Peter von Matts. Der emeritierte Zürcher Literaturprofessor ist ein origineller Kopf und brillanter Stilist. Gute Geschichten, sagt er, "tauchen, wie ein tüchtiger Seehund, meistens dort wieder auf, wo man sie am wenigsten erwartet". Damit beschreibt von Matt gleichsam seine eigene assoziative Art, die politische Geschichte der Schweiz anhand literaturhistorischer Begebenheiten nachzuzeichnen.

Der eigentlicher Kern ist dabei der Mythos Wilhelm Tell. Seit fünf Jahrhunderten schlage der Freiheitsheld die Schweizer immer wieder in seinen Bann. Die "emotionalen Patrioten" berausche er, eine Zielscheibe für Zorn und Spott sei er den "kritischen Patrioten". Letztere hätten die Lüge helvetischer Heroendiskurse zwar aufgezeigt, ihrer Wahrheit seien sie nicht gewachsen gewesen. Die Vorstellung einer 700-jährigen Erfolgsstory als tapfere Willensnation bilde daher nach wie vor einen "realpolitischen Faktor von existenzieller Bedeutung".

Das Schweizbild von Christoph Blocher und Bertrand Piccard bezeugt die anhaltende Wirkungsmacht der Gründungslegende. Autoren wie Robert Walser, Max Frisch und nicht zuletzt Peter von Matt zeigen umgekehrt, wie inspirierend der Tanz um den alten Tell eben auch sein kann. Ihre Arbeiten über den Urner Meisterschützen gehören mitunter zum besten, was Helvetia der Welt zu bieten hat.


Jürg Altwegg (Hrsg.)

Helvetia im Außendienst.

Was Schweizer in der Welt bewegen.

Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2004; 189 S., 15,90 Euro.


Peter von Matt

Die tintenblauen Eidgenossen.

Über die literarische und politische Schweiz.

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004; 319 S., 12,90 Euro.


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